Ich als Text

Frankfurter Poetikvorlesungen

Autor:
Thomas Meinecke
Besprechung:
David Frühauf
 

Frankfurter Poetikvorlesungen

Prozess und Prothese

18.02.2013 | Hamburg

»Der Text ist kein Zentrum. Der Text ist diese Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung«, heißt es in Jacques Derridas wohl bekanntestem und oft genug zitiertem Postulat zum dekonstruktivistischen Textbegriff. »Folglich setzt dieser […] Begriff des Textes voraus, daß man in keinem Moment etwas außerhalb des Bereiches der differentiellen Verweisungen fixieren kann, das ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit wäre«. Jeder Raum, jede Realität, jeder Körper, jedwede Rede ist somit Text und manifestiert sich permanent in »einem unabschließbaren Prozess der wechselseitigen Referenzen und Verschränkungen«, konstruiert und konstituiert sich performativ ständig neu innerhalb des systematischen Spiels der Differenzen, wird durchkreuzt, überschrieben und als Effekt dieser Praxis fortlaufend hervorgebracht. Wer also spricht, wiederholt, zitiert und aktualisiert immer auch »eine überlieferte Reihe von Stimmen, ein Echo von anderen, in Gestalt des »Ich««, ja man könnte vielleicht sogar sagen, das Ich desjenigen, der spricht, konstituiert sich palimpsestartig und prozessual gleichermaßen durch Entwendung wie durch Zuschreibung.

Diese und weitere poststrukturalistischen Theorien hat in den letzten Jahren kaum ein anderer deutschsprachiger Autor so produktiv und sich dermaßen literarisch zunutze gemacht wie der 1955 in Hamburg geborene Schriftsteller Thomas Meinecke, weshalb es wohl nicht weiter verwundert haben mag, dass er seine, im Rahmen der »Stiftungsgastdozentur für Poetik«, gehaltene Vorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt mit Ich als Text betitelte. Ich als Text, nachträglich erschienen in der Edition Suhrkamp, markiert bereits im Titel Methodik und Thema dessen, was folgt, indem zum einen die Zitathaftigkeit und Referentialität ausgestellt werden (ein poetologischer Text Meineckes aus dem Jahr 2001 sowie ein Lied seiner Band F.S.K. tragen nämlichen Titel), zum anderen aber auch aufgezeigt wird, dass das (Autoren-)Ich sich stets gerade durch den Akt der Be- und Zuschreibung konstituiert.

Unterteilt in fünf Abschnitte, die – beginnend bei Tomboy und mit Lookalikes endend – jeweils einen seiner Romane behandeln, entspinnt sich darin ein Patchwork aus andernorts schon einmal veröffentlichten, deutschen sowie englischen Texten von und über Meinecke, wie etwa Rezensionen, Diplomarbeiten, Textauszügen oder Interviews. Nichts davon ist neu oder extra für den Anlass der Vorlesung geschrieben, vielmehr ordnet, organisiert und formiert er einzig das Althergebrachte und Rezipierte chronologisch in gekonnter Art, eignet es sich an, reagiert darauf und nimmt diese bestimmte, ihm dadurch zugewiesene Identität nach außen hin wiederum an bzw. ein. »Der Akt der Anerkennung wird zu einem Akt der Konstitution« – heißt es bei Judith Butler, Meineckes insgeheimer, weil in all seinen Texten mehr oder minder gegenwärtige Heldin – und die Identität entsteht dementsprechend jederzeit als Ergebnis einer performativen Handlung. Auf den Text Ich als Text übertragen eröffnet sich somit in der Prozessualität des Lesens und durch die teilweise widersprüchlichen, sich wiederholenden und überlagernden Aussagen innerhalb des systematischen Spiels der Differenzen langsam ein vielschichtiges Bild des Autoren, wie auch der darin zugrunde liegenden und zu lesenden Poetik. Einerseits scheint dies zwar beinahe mustergültig einem Poststrukturalismus-Seminar entliehen zu sein, weswegen es nicht unverständlich ist, wenn man das Buch nach der zwanzigsten Rezension ermüdet aus der Hand geben möchte. Andererseits aber, lässt man sich auf dieses Zusammenspiel verschiedenster Stimmen ein, ist es mitunter eine überaus gelungene, performative Vor- und Fortführung von Thomas Meineckes Arbeitsweise selbst. Eine Verlängerung im wild wuchernden Diskurs sozusagen, die sich fast schon in eine Reihe mit dessen bisherigen Büchern stellen kann und darf, auch wenn oder obwohl die Romane den kulturellen und körperlichen Handlungs- und Referenzrahmen dann doch immer noch etwas weiter zu spannen vermögen.


Exklusivbeitrag

Thomas Meinecke: Ich als Text.
 Frankfurter Poetikvorlesung. ISBN 978-3-518-12651-6. Euro 18,-- Suhrkamp Berlin 2012


David Frühauf hat zuletzt über Magnus Enzensberger »Enzensbergers Panoptikum« auf Fixpoetry geschrieben.