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Roman
Anne Sexton im Magnetresonanztomographen
01.03.2013 | Hamburg
Eine Frau liegt in einem Magnetresonanztomographen. Seit Wochen leidet sie unter einer Einschränkung ihrer Sehfähigkeit. Die Buchstaben und Bilder verschwimmen vor ihren Augen und nun soll der Verdacht auf einen Gehirntumor ausgeschlossen werden, indem sichtbar gemacht wird, was hinter den Augen vorgeht.
Was geschieht ist etwas anderes. Was im Gehirn von Karoline vorgeht, erfährt der Leser nicht. Vielmehr erlebt er in einem großen inneren Monolog, welche Schichten ihres Bewusstseins aufgeschnitten und freigelegt werden, während dieser Stunde, in der sie unbeweglich und in einer Röhre eingesperrt, ihren Gedanken ausgeliefert ist.
Die zentralen Themen, die roten Fäden, die sich durch das Denkgewebe ziehen, sind Schuld und Vergebung, Verantwortung und Ohnmacht, Weiblichkeit und Identität.
Mehr noch als diese Fäden aber ihre Verflechtung miteinander.
Wie zum Beispiel in der kleinen Beobachtung in der U-Bahn, in der es nach Kot riecht, und Karoline feststellt, wie erleichternd die Schuld der anderen sein kann, weil sie die Verantwortung an jemanden delegiert.
Aber auch andere, schwerwiegendere und nicht so einfach zu beseitigende Schuldgefühle werden angeschnitten. Die gegenüber Tom, der in sie verliebt gewesen ist, den sie aber nie ernst genug genommen hat. Trägt sie durch ihr Verhalten letztendlich Mitschuld an seinem Selbstmord? Das schlechte Gewissen gegenüber Alma, der Freundin, die sie hintergangen hat.
„Wenn man kein Mitleid kennt. Wenn da im Hirn nichts passiert. Wo ist dann die Schuld?“, fragt sich Karoline und kommt einige Seiten später zu der Feststellung: „Alles ist wie ein Muskel. Mitgefühl auch.“
Während allein die Tatsache, am Leben zu sein wiederum zur Schuld zurückführt: „Dass da ein Zusammenhang besteht, dass ich lebe, weil andere sterben.“
Ihre Schwäche, die möglichen Folgen einer Krankheit und die damit verbundene Hilfsbedürftigkeit, fürchtet Karoline nicht zuerst als Beeinträchtigung der eigenen Lebensqualität, sie denkt vielmehr an die Belastung, die ihre Krankheit für Barto, ihren Partner, bedeuten würde.
Ulrich zeichnet eine Frau, die eine Karriere angestrebt hat, die eine gleichberechtigte Partnerschaft lebt und doch immer wieder in die Fallen urweiblicher Gedankengebilde tappt.
Dass dieser durchaus ernste philosophische Monolog nicht zu einem Jammern gerät, liegt an Ulrike Ulrichs Sinn für Humor und Ironie: „Dass ich eine Frau verletzen kann, das war klar. Seit meiner Geburt.“ Oder: „Ich hab ein Monopol auf meine Lächerlichkeit.“
Das Thema ist ernst, es geht nicht zuletzt um die Angst vor Kontrollverlust, die das Hirn als Kommandozentrale und gleichzeitig als Sitz der Identität offenbart, aber Ulrich versteht diese Schwere stilistisch zu brechen, ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben.
Wenn Anne Sexton an einer Stelle dieses Buches auftaucht, ist das weder Name- Droping noch zufällig. Sextons Transformations, auf die sich Karoline in „Hinter den Augen“ bezieht, vereinigt das Kulturgut Märchen mit einer feministischen Sinndeutung.
„Dabei gab es längst das Gedicht von Anne Sexton. Disney war stärker,“ denkt Karoline. Aber während Sextons Schneewittchen Gedicht folgendermaßen endet:
„Inzwischen hielt Schneewittchen Hof,
schlug die porzellanblauen Augen auf und zu
und schaute manchmal in den Spiegel,
wie's Frauen tun.“
liegt Ulrichs Schneewittchen in einem anderen Sarg, statt auf den Prinzen zu warten, der sie aufrüttelt und wieder zum Leben erweckt, damit sie die Fehler ihrer Mutter wiederholen kann, sucht dieses Schneewittchen nach ihrer Identität, und findet Identität im besten Sinne des Wortes, nämlich als Selbsterkenntnis, als Erkennen der eigenen Handlungsspielräume.
Die in stakkatohafter Sprache einander folgenden und sich überlagernden Ansichten ergaben für die Leidende, die passive Frau, kein Bild. Das Bild entsteht später, nachdem sie die Ohnmacht den Gedanken gegenüber durch einen Abbruch der Untersuchung beendet hat: „Das seh ich zum ersten Mal. Dieses Kreisen und Tanzen.“
Exklusivbeitrag
Ulrike Ulrich. Hinter den Augen. Roman. ISBN 978-3-902844-16-3. 17,40 Euro. Luftschacht Verlag Wien 2013.
Elke Engelhardt hat zuletzt über »Samuel Beckett Weitermachen ist mehr, als ich tun kann. Briefe 1929 -1940« auf Fixpoetry geschrieben.
Lesetermine
New York City (USA): 22. bis 24. Februar 2013, Festival Neue Literatur, New Literature from Austria, Germany, Switzerland and the United States, mit Joshua Cohen, Joshua Ferris, Tim Krohn, Leif Randt, Silke Scheuermann, Clemens Setz, Cornelia Travnicek und Ulrike Ulrich.
Chicago & Madison (USA): 26. Februar bis 1. März, Literaturlenz 2013, mit Silke Scheuermann, Cornelia Travnicek und Ulrike Ulrich.
Innsbruck (A): 12. März, 20 Uhr: Ulrike Ulrich liest aus „Hinter den Augen“, Robert Kleindienst aus „Nicht im Traum“, im Literaturhaus am Inn.
Leipzig (D): 15. März 2013, 23 Uhr, Ulrike Ulrich liest aus "Hinter den Augen" bei der Lesung der Unabhängigen Verlage auf der Leipziger Buchmesse.
Leipzig (D): 16. März 2013, 17 Uhr, Ulrike Ulrich liest aus "Hinter den Augen" auf der Leseinsel der Unabhängigen Verlage auf der Leipziger Buchmesse.
Feldkirch (A): 12. April 2013, 20:15 Uhr, Lesung von Gabriele Bösch, Jürgen Thomas Ernst und Ulrike Ulrich (aus "Hinter den Augen") im Theater am Saumarkt.
Albstadt (D): 27. April 2013, 19 Uhr, Lesung von Ulrike Ulrich aus "Hinter den Augen" im Café Lenau.
Lenzburg (CH): 29. Mai 2013, 19:15 Uhr, Ulrike Ulrich liest gemeinsam mit der Schauspielerin Miriam Japp aus "Hinter den Augen" im Aargauer Literaturhaus Lenzburg.