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Roman
Bruchstücke einer schwarz-weißen Welt
15.09.2013 | Hamburg
Greta ist fünf, lebt in Pretoria in Südafrika. Sie ist das Kind von Deutschen, die die Kirche dorthin geweht hat. Missionare waren die Großeltern von Greta väterlicherseits. Für den Vater ist das die Arbeit, die ihm von den Eltern überkommen ist, er hat dort in Südafrika „eine Zukunft“. Gretas Mutter zieht es jedoch wieder zurück nach Deutschland, zu ihren Eltern und weit weg von der „Apartheit“.
Greta, aus deren Mund uns die Geschichte erzählt wird, steht vor einem Rätsel. Sie ist mit Schwarzen aufgewachsen, die das Essen kochen oder die Wohnung in Ordnung halten, sie führt das Wort Neger ohne Furcht im Mund, wir befinden uns in den 1960er Jahren. Ihr geliebter Vater, der ihre kleinen Hände auf die seinen legt, wenn er die Orgel spielt, spricht gern mit den Schwarzen, lässt sich Geschichten erzählen. Aber die Mutter will weg, wieder zurück nach Deutschland, das Greta wie ihr wenige Jahre älterer Bruder Hanno nur aus den Erzählungen der Mutter kennt. Der Vater bleibt dort. Als Lehrer in einem Seminar, wo weiße Südafrikaner ausgebildet werden. Wo der begabte Meisterschüler des Vaters, Klaas, sich das Leben nimmt, weil er auf das Gut der Mutter zurück soll, um die Wirtschaft zu führen.
Das erste Erlebnis Gretas mit dem Tod. Sie und ihr Bruder schauen aus dem Fenster, um zu sehen, wie die Polizei vorfährt, sie wollen dabei sein, wissen, was hier passiert. Sie ist böse auf die Mutter des jungen Mannes, der sich ihretwegen umgebracht hat, weil er nicht als Gutsbesitzer leben mochte. Klaas vererbt sein Hermelin dem verehrten Lehrer, Gretas Vater. Damit, so denkt sich Greta, kann sich der Vater trösten über den Verlust der Familie, die vor der Apartheid nach Deutschland flieht.
Da wir nur das erfahren, was Greta weiß, bleiben viele blinde Stellen. Warum geht der Vater nicht mit nach Deutschland? Ist die Ehe nicht in Ordnung? Was hat die Apartheit mit der Bindung der Eheleute zu tun? Diese und andere Fragen bleiben offen, sind die blinden Stellen in dem Roman.
Es ist reizvoll mit „blinden Stellen“ zu arbeiten. Sie eröffnen die Möglichkeit, sich aus einer anderen Ebene zu nähern, zu untersuchen, was warum „blind“ geblieben ist. In „Ein Kind fliegt davon“ ist der Leser ausschließlich auf die sehr poetische, aber auch etwas einseitige Sicht einer Fünfjährigen angewiesen:
Die Mutter hat kein farbiges Dienstmädchen, das gibt es bei Gretas Freundin. Das „Mädchen“ ist eine Frau, die bereits erwachsene Kinder hat, Loretta. Sie bedient die Familie am Tisch und dann muss Loretta in der Küche essen, „das war die Apartheit“, resümiert Greta.
Bevor die Mutter mit ihren Kindern nach Deutschland fliegt, ist die Familie zu einer Hochzeit eingeladen. Die Feier unter freiem Himmel im Garten beim Swimmingpool ist gerahmt von den Schwarzen, die das Essen auftragen, die Getränke bringen oder unter einem Baum stehen, bereit für den nächsten Wunsch. Die Gesellschaft ist angeregt, angetrunken, die Braut wird fast vom Bräutigam ins Wasser geworfen, die Kinder spielen, Greta mit einem schwarzen Jungen, als die Kinder in den Swimmingpool springen, ist der Junge verschwunden. Eine Verwandte scheucht einen Hund vom Pool weg: „Hunde und Schwarze haben am Pool nichts verloren!“ Greta fragt sich, warum, ob die Schwarzen auch schlecht riechen, wie die Hunde, wenn sie nass sind? Und nun sieht sie auch ein, warum die Nachbarin ihr schwarzes Mädchen entlassen musste. Weil es trotz des Schampoos nicht sauber genug geworden war? Greta kapituliert: „Das Wasser wimmelte ja von Fragezeichen“.
Handlungszeit ist 1968, das Jahr der Mondlandung, die Greta, inzwischen in Deutschland, am Fernseher verfolgt. Die Autorin Tanja Jeschke, wie Greta in Pretoria geboren und – wie sie – im Alter von fünf Jahren nach Deutschland umgesiedelt, erinnert sich an ihre Kindheit. Das Buch ist 2011 in der Edition Voss im Horlemann Verlag erschienen. An eine schöne Kindheit, über der allerdings der Schatten Apartheit liegt, den Tanja Jeschke poetisch zu fassen versucht. Sie bleibt konsequent bei der Sicht einer Fünfjährigen, die sich ihr Weltbild aus den Bruchstücken zusammenbauen muss, die ihr von den verschiedenen Erwachsenen geboten werden, Stücke, die sich partout nicht zusammenbauen lassen.
Das Buch bietet viel Munition für die jüngste hysterische Auseinandersetzung mit der neu entdeckten rassistischen Beladenheit des Wortes Neger, das die Autorin ganz unbekümmert verwendet. Sie bleibt ja beim Erzählen stets in den 1960er Jahren, ein halbes Jahrhundert vor der wilden Diskussion.
In Deutschland erzählt Greta einer Freundin, dass ihr Vater im fernen Südafrika ein Neger sei. Obwohl er es nicht ist. Warum sie das tut, wird nicht klar, aber das wäre das, was den Leser interessiert. Oder sollte er sich nicht doch in ein Kind hineinversetzen, das aus den hingeworfenen Brocken der Erwachsenen sich selbst eine Welt baut?
Tanja Jeschke: Ein Kind fliegt davon. Roman. ISBN: 9783895023194. 222 Seiten, 19,80 Euro Hardcover, gebunden. Edition Voss im Horlemann Verlag Leipzig und Berlin 2011
Simone Trieder hat zuletzt über Eine andere Liga. Stories, bei denen man auf die Knie geht und vor Glück in die Fußmatte beißt von Carl Weissner auf Fixpoetry geschrieben.
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