weitere Infos zum Beitrag
Berliner Reportagen
Und ewig grüßt uns Alt-Berlin
06.04.2013 | Hamburg
Es bringt schon etwas Merkwürdiges mit sich, dass Egon Erwin Kisch immer dann wieder auftaucht, wenn man am wenigsten mit ihm rechnet. 2013 stehen weder ein runder Geburts- oder Todestag an, noch irgendein anderes Jubiläum, dass mit dem rasenden Reporter in Verbindung gebracht werden könnten. Es scheint in Deutschland zwar so etwas wie ein schwelendes Dauerinteresse an der Zeit der Weimarer Republik zu geben, doch kommen die 20er-Jahre-Mottoparties auch schon wieder aus der Mode.
Egon Erwin Kisch in Melbourne, 1934 source: Wikipedia
Mit den jetzt erscheinenden Berliner Reportagen, die in dem schmucken Band Aus dem Café Größenwahn zusammengefasst wurden, mache der Wagenbach Verlag laut eigener Homepage Kisch „endlich wieder zugänglich“. Dabei fragt man sich: War Kisch eigentlich jemals wirklich weg, unzugänglich, vergriffen? Ja und Nein, denn der Prager Journalist und Schriftsteller war nicht nur zu Lebzeiten ein nicht unterzukriegendes Phänomen. Zwischen 1960 und 1985 erschien die erste Werkausgabe des 1948 Verstorbenen im Aufbau Verlag. Bereits in den 1990ern erfuhr diese eine erweiterte Neuauflage. Danach folgten einige Sammelbände mit den schönsten, besten, wichtigsten, heitersten Texten. So zum Beispiel Der Rasende Reporter (1993, Aufbau Verlag) oder zuletzt 2008 ein Band, der ebenfalls im Aufbau Verlag unter der Herausgabe von Ilja Trojanow erschien. Kurios ist dabei, dass die Bücher zwar stets gut verkauft, aber nicht wiederaufgelegt werden. Stattdessen kann aber jede der genannten Kisch-Ausgaben für teilweise unter 2,- € pro Exemplar antiquarisch über das Internet bestellt werden. Von „wieder zugänglich machen“ kann im weiteren Sinne also nicht die Rede sein. Kisch ist da! Man muss ihn nur suchen und findet ihn leicht.
Warum also einer weiterer Sammelband mit Reportagen? Weil ein gut editiertes Buch mit thematisch zusammengehörigen Texten, das ebenso sorgfältig wie aufwändig mit historischem Bildmaterial ergänzt wurde, noch nie geschadet hat. Genau so ein Buch ist Aus dem Café Größenwahn. Für den Kisch-Kenner hält der Band wenig bis gar nichts Neues parat, außer besagter Aufmachung, die im gewohnt schicken roten Leinen der Wagenbachschen SALTO-Reihe daherkommt. Für Kisch-Entdecker dürfte die handliche Sammlung hingegen die perfekte Einstiegsdroge in das Werk des Pragers darstellen.
Die Berliner Reportagen stellen eine repräsentative Auswahl für Kischs „Schreibe“ dar. Mit der Übersiedelung von Prag nach Berlin im Jahr 1921 bietet sich für den rasenden Reporter eine dankbare Fülle an Themen, die von Alltagskuriositäten bis hin zu politischen und wirtschaftlichen Auffälligkeiten reichen. Stets changiert Kisch zwischen genauer Beobachtung, lakonischem Kommentar und zynischen Schlussfolgerungen. Nicht selten verabschiedet er sich dabei auch ein wenig von der Objektivität eines klassischen Journalisten, etwa wenn es um Themen geht, die seine Überzeugungen betreffen. So scheut sich der bekennende Kommunist nicht die Verbrechen an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als „Meuchelmorde“ zu bezeichnen. Damit bezog Kisch noch fünf Jahre nach den Morden deutlich Stellung gegenüber einem Ereignis, das 1919 für bürgerkriegsähnliche Krawalle in Berlin sorgte. Dabei ist der Aufhänger des mit „Rettungsgürtel an einer kleinen Brücke“ betitelte Textes ein ganz anderer, nämlich ein beschrifteter Rettungsring an der Lichtensteinbrücke: „Ein Menschenleben kann nicht hoch genug bewertet werden.“
Überhaupt fällt auch bei diesem Sammelband auf, dass die Auswüchse bürgerlicher und staatlicher Doppelmoral ein besonderer Reizpunkt in Kischs Reportagen sind. Das zeigt sich auch und vor allem in den Texten, die alltägliche Vergnügungen wie den Lunapark in Halensee im Blick haben. Es ist die Zeit der Inflation, die wirtschaftliche Lage ist unsicher, aber auf Vergnügungen will man nicht verzichten. „Ich gebe zu, es ist nicht teuer, wenn man sich für pure 10.000 Mark Strümpfe, Strumpfbänder und meinetwegen noch mehr zerreißen kann, aber, meine Damen, denkt auch daran, daß die Wasserrutschbahn nur 5.000 Mark mehr kostet, und zu allen erwähnten Genüssen haben Sie noch den Genuß, durch eine wirkliche Pfütze fahren und sich das Kleid verderben zu können!“
Und was macht die Bohème? Die sitzt im Café des Westens und träumt von der Veränderung der Welt durch Kunst. Café Größenwahn wird die Kultadresse am Kurfürstendamm deshalb auch genannt, bis der Besitzer selbst größenwahnsinnig wird. Mit der Beliebtheit und dem Kultfaktor seines Cafés will er das große Geld machen, setzt die traurigen Dichter vor die Tür und renoviert seinen Laden zu einer Schicki-Micki-Bar mit hohen Preisen. Gentrifizierung würde man das heute nennen. Kisch nimmt’s mit Humor, denn seine Bohème wird gerächt. Die neue Bar bleibt nahezu leer, ihr Besitzer hat sich verzockt.
Wer mehr über das Berlin der 1920er Jahre erfahren und dabei einen der besten deutschsprachigen Reporter (wieder-)entdecken möchte, ist mit dem Band Aus dem Café Größenwahn gut beraten. Erfahrene Kisch-Leser, die bereits den ein oder anderen Sammelband oder gar die Werkausgabe im Regal haben, wird hingegen wohl nur der Einband in Verzückung versetzen.
Exklusivbeitrag
Egon Erwin Kisch – Aus dem Café Größenwahn. Berliner Reportagen ISBN: 978-3-8031-1294-1, 15,90€, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
Mario Osterland hat zuletzt über »Locus Solus» von Raymond Roussel auf Fixpoetry geschrieben.