Gedichte

trotzdeutsche Gedichte

07.04.2013 | Hamburg

Nichts ist so traurig, wie Vorhersagen, die sich erfüllen, weil nichts so deutlich die Armseligkeit der Möglichkeiten demonstriert, besagt das Zitat von Paul Valéry das Thomas Kunst seinem Gedichtband „Die Arbeiterin auf dem Eis“ vorangestellt hat.

Thomas Kunst ist jemand, der sich ganz und gar der Dichtung, aber nicht dem  Literaturbetrieb verschrieben hat, einer, der sein Handwerk so traumwandlerisch beherrscht, dass er selbst den strengsten Formen seine eigene Melodie entlockt, der seine Gedichte an einem Ort zwischen dem Verzicht auf Selbstkontrolle und der höchsten Beherrschung der Form ansiedelt.

Welche Vorhersagen meint er? Oder ist der ganze Band nur der Versuch eben dieses Zitat zu widerlegen? Zu beweisen, wie man über die Armseligkeiten der Möglichkeiten hinauskommt, mit Hilfe der Dichtung?

In seiner Rede anläßlich der Entgegennahme des F.C. Weiskopf Preises 2004 sagte Kunst, der auch Musiker ist:

„Die Musik der Ideen als ungetrübter Erkenntnisgesang, für einen flüchtigen Moment ganz da und völlig frei von den Beleidigungen durch das Wissen. Dabei ist die Unbefangenheit der Naivität ein viel treffsicheres Instrument zum Begreifen als all diese Bildungsgereiztheit zwischen Literatur und Philosophie. Es wird nicht mehr gestaunt. Es wird sich nicht mehr gewundert. Aber es werden Nachmittagsseminare belegt. Es wird geforscht. Aber schon längst ohne Körper.“

Mit seinen „trotzdeutschen“ Gedichten ist Kunst nie im Literaturbetrieb angekommen. Stattdessen ist er unterwegs geblieben, mit Neugierde, dem Mut, seine Wut zu äußern und sich weder durch Vorhersagen noch durch die Beschränktheit der Möglichkeiten, Grenzen zu setzen.

 

         „Ich werde so lange mit dir am Strand spazieren

         Gehen bis du mich liebst, hundert Meter

         Weiter, noch nichts, keine Liebe, nur Paare, ältere

         Paare und Hunde, andere Hunde, etwa zweihundert

         Meter weiter; nichts, einfach nichts, noch immer

         Keine Liebe, merkwürdig, es passiert gerade...“

 

So beginnt das erste Gedicht, das Schritt für Schritt das Zitat Valerys ein und gleichzeitig auflöst.

Das Weitergehen (und Weiter lesen) verselbstständigt sich, die Landschaft zieht vorbei, Jahre vergehen, ein Kind wird geboren, ab und zu taucht noch immer die Frage auf: liebst du mich jetzt? Aber sie hat kaum noch eine Bedeutung, wäre ja nur noch eine Demonstration der Armseligkeit der Möglichkeiten. Wichtig ist nur noch die Bewegung, die Tatsache, dass es weitergeht.

Dass es immerzu grenzenlos weitergeht, demonstrieren Kunsts Gedichte in Form und Inhalt. Das Ende des letzten Gedichtes wird in die Anfangszeile des nächsten übernommen und schon spinnen sich Assoziationen weiter und fort. Wie Kunst die Assoziationen weiterwebt, auf Abwege führt und wieder fortschreibt hat Klasse. Traumhaft sicher beherrscht er sein Handwerk. Nichts ist wie es scheint, alles entzieht sich und bleibt gleichzeitig haften.

„Kunst kommt vom Sonett nicht los, und so muss er es wohl auf die Spitze treiben, und, soviel scheint derzeit wohl sicher, er wird es tun“, schrieb Jan Kuhlbrodt anlässlich des letzten Gedichtbandes von Thomas Kunst „Legende vom Abholen“. Und er hat Recht behalten. Dieser Gedichtband enthält nicht nur Sonette, die von Anfang an zwischen den Langgedichten auftauchen; drei Sonettkränze mit abschließendem Meistersonett krönen das Ganze.

 

 

         WIR DENKEN AN DIE SELTENHEIT UND TRINKEN

         Ich bau in meinem Waschbecken Venedig

         Ein Kopf an einem Kopf ist nie zu wenig

         Die Straßenbahnen müssen hier nicht blinken

 

         Seitdem du weg bist nehm ich ab, verzeih

         Ich werde solang dein Freund sein, bis du liebst

         Kannst du dich noch erinnern, was du schriebst

         Hab keine Scheu, ich habe Angst für drei

 

         Als Freund etwas zu taugen, nie als Liebster

         Erspar mir diese Demut, wenn ich bliebe

         Familienglitzern abgewehrter Hände

 

         Der Mann an deiner Seite, wie verblieb er

         In Liebe oder Ablehnung, in Liebe

         Das tut mir leid für dich, das ist das Ende

 

 

Von diesem Ende in Venedig, geht es zurück zum Anfang in Stralsund.

Der Briefwechsel unter der Überschrift „günaydin askim“, was so viel wie „Guten Morgen, Liebling“ heißt, webt das Projekt „Doppelnaht“ fort. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, entstanden fünf Briefwechsel zur deutsch-deutschen Einheit. Thomas Kunst korrespondierte bei diesem Projekt mit Feridun Zaimoglu. Die beiden hatten sich in Rom kennen gelernt. In einem Interview mit der Badischen Zeitung anlässlich der Präsentation der Doppelnaht Briefe, sagt Zaimoglu auf die Frage, wer Thomas Kunst sei: Ich habe ihn als Stipendiat der Villa Massimo in Rom kennengelernt, einen Gedichtband von ihm in die Hand genommen und nicht mehr aufgehört, darin zu lesen.“ In „Die Arbeiterin auf dem Eis“ webt Kunst die Briefe alleine weiter.

Diese „trotzdeutschen“ Briefe sind politisch, sie sind privat, aber vor allem sind sie atemlos poetisch.

 

         „Liebster, die ostdeutsche Literatur gleicht seit 1989 einem westdeutschen Wirtschaftszweig, du bist erfolgreich, wenn du korrekt kalkuliert hast, du bist

         der letzte Dreck, wenn du dir treu geblieben bist, das Sprechen und Stammeln in

         die westdeutschen Diktiergeräte, die Schriften von Ingo und Uwe, beschämende          gesamtdeutsche Weltliteratur, der Wartburg am Plattensee, die Panzerhose im Hygienemuseum, laß uns endlich eine Partei gründen, Feri-Baby, laß uns in diesem Land ganz von vorn anfangen, wir verzichten auf gründliche Feigheit und verspätete    Heldenbiografien, wir verzichten auf angebliche Diversantentätigkeit, wir verzichten      auf Diäten, auf Pensionsansprüche, auf Nebenverdienste, auf die Freundschaft mit    russischen Präsidenten, aber nicht auf die Freundschaft mit russischen Arbeitern          und Bauern, wir verzichten auf das westdeutsche Feuilleton mit seiner Vorliebe für

         die ostdeutsche Anbiederungsprosa, wenn ich was über mein Ex-Land lesen will,         genügen mir Hilbig, Neumann und Drawert...“

 

Im anschließenden zweiten Sonettkranz, nimmt Kunst seine Leser mit auf eine Reise an die Grenzen einer Liebe.

Überhaupt geht es immer wieder um Reisen, unterwegs sein, also auch um Grenzen und wie einer damit umgeht. Kunst erweist sich als Kosmopolit, seine Gedichte spielen im Iran, in Venedig, in Stralsund und Mexiko, sie setzen sich Grenzen (durch die Form) und sind doch leicht und frei.

Die Arbeiterin auf dem Eis, die dem Band ihren Titel gibt, ist übrigens eine Ameise, und Ameisen spielen auch in einem weiteren Gedicht eine nicht unerhebliche Rolle, viel mehr will ich gar nicht verraten und schließe daher mit dem offenen Geheimnis, dass Thomas Kunst ein Dichter ist, der die Lebensentscheidung für die Poesie ernst nimmt, einer, der längst nicht mehr unbekannt ist, ohne jemals anzukommen. Mit „Die Arbeiterin auf dem Eis“ nimmt er seine Leser mit auf diese atemlose Lebensreise im Land der Poesie.


Exklusivbeitrag

Thomas Kunst:  Die Arbeiterin auf dem Eis.
Gedichte und Briefe. ISBN 978-3-942375-09-2. edition AZUR Dresden 2013

Elke Engelhardt hat zuletzt über »Fremdsprechen» von Esther Kinsky auf Fixpoetry geschrieben.