weitere Infos zum Beitrag
Ein Ausflug zu dritt
Es braucht mehr Blau. »Blauwärts» - ein Ausflug zu dritt von Hans Magnus Enzensberger, Jan Peter Tripp und Justine Landat.
22.04.2013 | Hamburg
„Traum, Träumer und Geträumtes sind eins. Zu dieser Einigung aller Dinge des Herzens im Traum treibt das Gedicht hin. Je tiefer es in den Traum eindringt, desto mehr entfernt sich die Sprache von jeder konventionellen Verständlichkeit.“ Diese Sätze über Romantik umreißen, in schöner Balance zwischen Offenheit und Präzision, welche Hoffnung sich an das Wort Blauwärts knüpft. Der Neologismus titelt den neuen Gedichtband von Hans Magnus Enzensberger, er gibt eine Richtung vor, mitten hinein in eine der offensten und präzisesten Chiffren der Romantik, geradewegs hinaus aus Bereichen konventioneller Verständlichkeit (grau) und ihrem schieren utopischen Gegenüber (grün). Dass das weite Felder sind, auf denen sich Enzensberger auskennt, ist eine ausgemachte Sache; die eingangs zitierten Sätze stammen aus der Studie über Clemens Brentanos Poetik, mit der Enzensberger 1955 promoviert wurde. Die Erwartung, die das Titelwort weckt, wird vom Titelgedicht, das den Band beschließt, wunderbar eingelöst: Hinter der Nebelwand im Gehirn / gibt es noch andere Gegenden, / die blauer sind, als du denkst. Allerdings muss man nicht die Brentanoexegese des jungen Enzensberger gegen die Gedichte des alten Enzensberger ausspielen, um zu sagen, dass die restlichen Gedichte des Bandes recht genau das Gegenteil liefern und nicht an die zauberhafte Schwebe der Beschlussstrophen heranreichen.
Die neuen Gedichte Enzensbergers scheinen sehr genau zu wissen, wo sie beginnen und wo sie enden wollen. Ein hoher Grad an Gegenständlichkeit zeichnet die Texte aus, es sind Ding- oder Phänomengedichte, deren Titel als anstandslose Inhaltsangabe herhalten können. Das scheint nur weniges mit dem gemein zu haben, was schwebende Texte in lieblicher Bläue auszeichnet. Damit ist nichts dagegen gesagt, dass Blauwärts Texte versammelt, die aus der Fülle handwerklichen Vermögens geschrieben sind, instinktsicher, wenn auch zuweilen etwas zu könnerisch. Die Routine des wortspielerischen Esprit kommt dort zum erliegen, wo in die phantasievollen, einfühlungsvermögenden Beschreibungen plötzlich Kalauer einbrechen, die keinen Mehrwert bringen (wenn es etwa in der Beschreibung von Quallen unter dem Titel Medusa heißt Das meiste an ihr / ist vollkommen schleierhaft oder das feine Gedicht Die Intelligenz der Pflanzen nach einem zart stauendnen Hymnus an die Vegetation mit einem unnötigen Scherz schließt: Heute tue ich so / als wären sie klüger als wir. Ich weiß: / Gegen sie ist kein Kraut gewachsen.).
Die Eindeutigkeit macht die meiste Zeit über ihren Punkt, die klare Aussage ist als solche ernst zu nehmen, ist ohne Zweifel klug. Mit gesuchten, und oft genug glücklich gefundenen Formulierungen entfesselt Enzensberger das Irdische Vergnügen in – ja, worin? Die in Absolutheit angeschriebenen Gegenstände und Phänomene, z.B. Seife, Sporen, Mandelbrot-Mengen oder Gäste, weisen kaum auf einen höheren Horizont, den sie mitbedeuten. In Genügsame Metaphysik spricht ein Ich zu diesem Thema ausdrücklich: Esoterik: nicht nötig. Das Übersinnliche: / gern, aber lieber portofrei und ganz in der Nähe. Damit ist auch ein Ruhepol des Bandes umrissen; allerdings bleiben die Worte in spielerischer Unruhe und erzeugen eine seltsame Widerstrebigkeit zu ihrem Gegenstand. Zieht sich der Selbstzweck in die Formulierungen zurück oder strebt er nach dem Wesen der Gegenstände?
Auch auf dem blauwärts gerichteten Weg hätte ein gewisser Anteil an der green world, an der Utopie wohl getan. In dem Maße, wie sich die Verwindmühlung der angegriffenen Welt selbst mit dem Zuckerguss der Ironie überzieht, wird auch der Sinn der Attacke fraglich. So dringlich wie nötig erscheinen Texte wie die Invektive gegen die Architekten. Das Gedicht Architekten benennt seine eigene Wut so genau und wortreich, verfehlt es nicht, in knappen Markierungen anzugeben, gegen wen genau es geht, und vergisst auch nicht, die Gegenbewegung zu zeichnen. Der Angriff auf die staatlich geprüften Würgengel der Städte, die Anbeter der Hässlichkeit, kommt in seiner Allgemeinheit schnell zum eigentlichen Feinbild, namentlich dem Werk Le Corbusiers, den Eidgenossen der Charta von Athen und ihrem undankbaren Erbe, dem brutalisierten Plattenbau: Euer Ziel, / in Athen verkündet, im Jahr der Machtergreifung: / alles was vor euch war, platt zu machen. Die Koinzidenz, dass das stadtplanerische Programm, das die Sprengung und Hochhausbestückung so mancher europäischen Innenstadt, v.a. der von Paris, in Aussicht stellte, im Jahr 1933 stattfand, wird hier etwas wohlfeil kurzgeschlossen. Wenn es gegen Ende des Gedichtes heißt Gelobt sei, wer euer Werk sabotiert und Warum sollten wir eurer gedenken? schleicht sich neuerlich Pathos in den Text. Das tut er sicherlich zu Recht, die Leidenschaftlichkeit der Parteinahme kann und darf sich nicht flächendeckend in der Coolness der Epoche auflösen, besonders wenn um das einschneidenste Thema der Urbanistik geht. Andrerseits aber lässt die Durchstreichung des Gedenkens fragen, ob es nicht noch weiter getrieben noch gerechter wäre, entlang der Wienerischen Maxime „gar nicht erst ignorieren“. Ein anderes Gedicht des Bandes heißt Damnatio memoriae. Wäre das nicht der adäquate Weg einer gerechten, kalten Galle?
Das Gedicht über die Architekten spielt sich vor einem Bergpanorama ab, einer doppelseitigen Illustration: die herrische Flanke des Matterhorns, wie sie sich von Zermatt aus darbietet, in virtuosem Realismus gezeichnet. Damit ist die bildnerische Stärke der Bilder von Jan Peter Tripp und zugleich ein Mangel der Zusammenstellung benannt. Denn Blauwärts ist, man kann es kaum anders sagen, eine bibliophile Kostbarkeit, die mit wunderbar gedruckten Farbbildern auf jeder der Seiten aus starkem Papier und einem teils übermütigen, aber stets gewitzten Layout von Justine Landat aufwartet. Der Photorealismus Tripps, der die meisterliche Verfügungsgewalt über die Bildmedien, den altmeisterlichen Anspielungsraum seiner Bildformeln stets mit Überraschung und Witz vereint, ist in gewissem Sinne leicht und genau mit den Schreibstrategien Enzensbergers in Verbindung zu bringen. Aber an diesem „in gewissem Sinne“ hängt doch eine der Schwächen des Bandes, namentlich der zuweilen recht schwache Zusammenhang zwischen Bild und Text. Das mag auch daran liegen, dass der Band werkschauartig Bilder Tripps aus den Jahren 1973 bis 2012 versammelt und (so steht zu vermuten) eine Auswahl seines Oeuvres auf die Gedichte hin kuratiert worden ist. Das geht oft genug auf. Wie sich aber die Architekten zum Matterhorn verhalten, ist eine Frage, deren Nachdenken recht wenig ästhetischen Genuss bereitet.
Einer der Fluchtpunkte der Zusammenstellung kann ein geographisch-biographischer sein. Nicht nur sind Tripp und Enzensberger beides Allgäuer, Tripp war zudem ein Schulkamerad von W.G. Seebald, eine der impliziten Hauptfiguren des Bandes, explizit in dem zarten Gedicht Ein Abschied von Max Seebald. Es lässt sich nachschlagen, was die Andere Bibliothek Enzensbergers mit Seebald verbindet, es lässt sich nach einigem Stöbern auf den Band Unerzählt (2003) verweisen, Texte Seebald, herausgegeben von Enzensberger, mit Radierungen von Tripp. Aber diese Information gibt uns der Band Blauwärts nicht und diese Personenkonstellation kann nicht verhindern, dass viele Bild-Text-Zuweisungen als unzureichend motiviert erscheinen. Schön anzuschauen ist das auf alle Fälle, dafür braucht es keine weitere Semantik. Ebenso verhält es sich mit dem zuweilen etwas taschenspielertricksenden Satzbild der Texte selbst, wenn etwa das Gedicht Weniger, immer weniger nach und nach auf der Seite ausbleicht oder das Gedicht Dämonisches Enzephalogramm im Zickzack über die Seite zuckt. Das ist hübsch. Nicht mehr und nicht weniger.
In diesem Sinne entsteht ein Eindruck von Gesamtkunstwerk, denn die Sorgfalt und Zärtlichkeit mit der die einzelnen Elemente des Bandes zusammengeführt und ausgeführt worden sind, hat viel für sich. „Blauwärts“ ist beileibe kein Coffeetablebook, dafür ist es viel zu delikat. Als Lyrikband gerechnet aber ist es nicht delikat genug, lässt Unterzüge, Spannungen, Fragen vermissen. Traum, Träumer und Geträumtes sind recht sorgfältig auseinander sortiert und zur getrennten Betrachtung aufgespießt. Man muss nicht sonderlich romantisch sein, um das als einen lyrischen Mangel zu erleben.
Exklusivbeitrag
Hans Magnus Enzensberger/Jan Peter Tripp/Justine Landat: Blauwärts. Ein Ausflug zu dritt. ISBN: 978-3-518-42346-2 32,00€ Suhrkamp Verlag Berlin 2013.
Tobias Roth hat zuletzt über »unbekannt verzogen« von Levin Westermann auf Fixpoetry geschrieben.
Veranstaltungshinweis:
Am 24.04.2013 kommt das lyrische Quartett im Lyrik Kabinett München zusammen. Heinrich Detering, Harald Hartung, Kristina Maidt-Zinke und als Gast Albert von Schirnding sprechen u.a. auch über Blauwärts.