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Portraitsammlung
»Derrida ist nicht zu Hause« von Peter Geimer – der Abwesende als ideale Figur der Imagination
09.07.2013 | Hamburg
Was sehen wir, was suchen wir, wenn wir an Orte pilgern, Fotos betrachten, die Abwesende und Abwesendes zeigen, beschwören? Warum treten wir aus dem Raum der Gegenwart in die Vergangenheit, in die Erinnerung, hin zu den Entschwundenen, Toten? Was versprechen wir uns von diesen Begegnungen, die nie direkt, sondern nur über die Umwege unserer Imagination möglich sind?
Peter Geimer hat in „Derrida ist nicht zu Hause“ unserer Sehnsucht, das Nicht-mehr-Einholbare (und im Grunde Nie-Dagewesene) aufzusuchen, acht Texte gewidmet. Sie nähern sich den Geheimnissen des Auratischen, mit denen wir Personen, Orte, Gegenstände verbinden und deren Hauptmerkmal eben das ihrer Abwesenheit ist. Gleich ob es sich um Einsteins Wohnung in Bern, Derridas Geburtshaus, Heideggers Griechenlandreise oder das Rätsel um Turners Linsentrübung handelt: die Aura, so zeigt Geimer, verschwindet, sobald wir in direkte Berührung mit dem gelangen, was wir zu suchen vorgeben. Träte Einstein zur Tür herein, wäre er wirklich und nicht mehr Träger unserer Projektion; wohnte Derrida noch im algerischen El-Biar und lüde uns zum Tee, wir würden wohl absagen, aus Angst, etwas Dummes zu sagen oder ihn weniger beeindruckend zu finden als bei der Lektüre seiner Texte.
Aber da die Gefahr einer wirklichen Begegnung nicht besteht, gehen wir in den Räumen, in denen Einstein nicht länger als ein paar Monate gewohnt hat und in denen nichts mehr original erhalten ist, auf und ab und sind fasziniert; betrachten wir das Foto von Derridas Geburtshaus und sind von dessen Schlichtheit hellauf begeistert – wüssten wir aber nicht, wo wir sind, was wir sehen: wir langweilten uns. Die Dinge selbst sind nichts, erst aufgeladen durch Sprache, durch Museumsinschriften, Bildzeilen, Erklärungstexte, werden sie zu den Objekten, vor denen wir erschauern, kommt es zu der Überlagerung von Wirklichkeits- und Gegenwartsmomenten mit Vergangenem, Zukünftigem, mit Erinnerungen, Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten.
Nicht jeder wagt das Eingeständnis, dass er vor den Dingen, an den Orten selbst nichts empfindet – in den Gästebüchern der toten Verehrten steht schon eher: „it’s magic“! – und gemeint doch nur, dass man, da man sich die Mühe des Besuchs gemacht hat, diesen Augenblick unbedingt festhalten, die anderen Besucher mit der eigenen, „besonderen“ Andacht übertrumpfen muss. Name und Datum täten es auch, denn es geht doch nur darum zu sagen: hier und jetzt. (Und man sieht das Ganze schon in der Potenz: Wie dann, wenn eine/r der Eingetragenen selbst berühmt, das Gästebuch herumgezeigt, ausgestellt wird – als eine weitere bestaunte, bewunderte säkulare Reliquie.)
Manch einer hat es geahnt – Goethe, Hölderlin, Hofmannsthal, dass da nichts zu holen ist, wenn man hinreist, nach Griechenland zum Beispiel. Und hat Abstand gehalten, ist nicht über Sizilien hinaus oder gleich ganz zu Hause geblieben oder nach ein paar Tagen schnell wieder zurück ins Vertraute, um sich das Bild, das schon fertig war im Kopf, das im Schreiben wachsen sollte, nicht kaputtmachen zu lassen. Auch Heidegger hatte Sorge, nicht zu finden, was er sich konstruiert hatte, schob die geschenkte Griechenland-Schiffsreise neun Jahre lang auf. Als er sie endlich doch unternahm, blieb er bei den Landgängen meist an Bord, beschwor stattdessen im Tagebuch Hölderlin und Heraklit. Ihre Texte, versteht sich. Wäre Heraklit ihm an Land entgegengekommen – s. o.
Aber gerade, was die Orte angeht, kann es durchaus sinnvoll sein, sich aufzumachen. Eine Landschaft zu durchwandern, die jetzt dort Lebenden, ihre Gewohnheiten kennenzulernen. Allerdings braucht es dazu die Bereitschaft, das vermeintlich fertige Bild im Kopf aufzugeben, zu überschreiben.
Es ist immer ein Wechselspiel: Man sieht, findet weder einen Ort, über den man nichts weiß, noch den, den man bereits zu kennen glaubt. Gelingt es uns aber, Wissen und Vorstellungen mit den eigenen Erfahrungen abzugleichen, gewinnen wir eine Verankerung der von uns Verehrten im Raum und damit in der Wirklichkeit, durch die wir uns bewegen. Und dann begreifen wir vielleicht auch, dass es sie wirklich gegeben hat, dass sie gelebt haben, geschrieben, geforscht, hier, an diesem Ort, wenn auch in einer anderen Zeit.
Wie aber ist es mit Orten, Personen, Dingen, zu denen zwar Vorbilder in der Wirklichkeit existiert haben (mögen), die aber nur in einem Roman auftauchen? Was hat die Laterna magica von Prousts „Recherche“ mit einer in „Illiers-Combray“ in „Tante Leonies Haus“ gezeigten gemein?! Das ist Aura-Erschaffung in zweiter Potenz – was Luzius Kellers Kommentar in der Proust-Neuausgabe mit seiner Anbindung des fiktionalen Textes an Lebenstatsachen und durch Realienaufklärung nicht schon trivialisiert hat, wird hier mithilfe einer Hybridisierung von Fiktion und Wirklichkeit an Imaginationszerstörung noch grotesk übertroffen.
Peter Geimers Versuch, die Ebenen auseinanderzuhalten und vielleicht sogar zu klären, welche Sehnsucht LeserInnen von den Büchern fort und in ihnen gewidmete Museen mit zweifelhaften Exponaten treibt, bleibt leider unbefriedigend. Wie auch in den meisten anderen Kapiteln, die interessanten Fragen zwar mitunter gestellt werden, die Antworten aber leider oft ausweichend ausfallen oder ganz ausbleiben. Das fällt besonders in dem Roland Barthes und seiner geplanten Vorlesung zur Fotografie gewidmeten Essay auf – lesenswert ist er vor allem da, wo Geimer Barthes zitiert. Dass Barthes’ Fotografie-Theorie in ihren Prämissen und Folgerungen kritisch hinterfragt werden müsste, benennt er zwar, bleibt eine solche Kritik aber schuldig. So macht der Abschnitt vor allem Lust, Barthes’ Bücher mal wieder zu studieren – und selbst zu denken.
In den letzten beiden Kapiteln, die sich grotesken Auswüchsen der Wissenschaft und ihrer Annäherung an Geheimnisse in Kunst (Turners Linsentrübung und ihre Auswirkung auf seine Malerei) sowie bei Natur- und transzendenten Wesen (der steigende Gleitflug des Bussards und die Flugfähigkeit – gemalter – Engel) widmen, bleiben die Thesen besonders matt – da hätte man sich mehr Aufflug und Trennung der Luftschichten von Tatsache, verwissenschaftlichter Tatsache, Kommentar und Kritik gewünscht.
Eine Anmerkung noch zum Schluss: Wo sind die Frauen? Mal wieder die wahren Abwesenden. Nicht einer einzigen ist ein Text gewidmet. Ihren Auftritt haben sie wieder nur als Ehefrauen, Mütter, Musen, ach ja.
Exklusivbeitrag
Peter Geimer: Derrida ist nicht zu Hause – Begegnungen mit Abwesenden, Hardcover, 256 Seiten, 20,00 Euro, ISBN: 978-3-86572-673-5. Philo Fine Arts, FUNDUS 205, Hamburg 2013
Bettina Hartz hat zuletzt über »Augenblicke des Daseins (Moments of being)« von Virginia Woolf auf Fixpoetry geschrieben.