Rückkehr aus dem Krieg

Lyrik

Autoren:
Khalid Al-Maaly, Heribert Becker
Besprechung:
Mirko Wenig
 

Lyrik

…und in den Dörfern der Bodensatz der Toten – eine Anthologie neuer irakischer Lyrik überzeugt durch ihre Intensität und den Mut zur Trauer

Mag es an Unwissenheit gelegen haben, vielleicht auch an Ignoranz: bisher hatte ich den Irak -abgesehen von wenigen Namen- nicht auf meiner lyrischen Landkarte, und ich bin mir sicher, dass es vielen Lesern nicht anders ergeht. Denn während der Irak in den Nachrichten allgegenwärtig ist, so erfährt der Ottonormalmitteleuropäer doch wenig über die Kultur des Landes, da sich die Berichterstattung häufig auf Anschläge, religiösen Fanatismus und die weltpolitischen Zusammenhänge beschränkt (hier bieten einige Blogs, wie mir scheint, eine sinnvolle Ergänzung: zu empfehlen wäre z.B. der Blog „Electronic Iraq“, der auch vom Alltagsleben der Menschen berichtet (http://electroniciraq.net/)). Umso mehr ist die zweisprachige Anthologie „Rückkehr aus dem Krieg“ zu würdigen, herausgegeben von Khalid Al-Maaly, die auf stolzen 680 Seiten 43 Autoren vereint, deren Schreiben sich in der Zeit nach 1945 manifestierte.

Zu entdecken: Texte von weltliterarischem Rang

Die Gründergestalten der modernen irakischen Lyrik, etwa die Dichterin Nazik al-Mala'ika sowie der früh verstorbene Badr Shakir as-Sayyab sollten im Kanon der Weltliteratur nicht unberücksichtigt bleiben. Die strengen Formen der klassischen arabischen Literatur aufbrechend, geschult an Autoren wie Ezra Pound und Garcia Lorca, schufen sie Langgedichte, die so faszinierend wie erschreckend sind, sich der Sprache des Symbolismus ebenso bedienen wie religiös-mythischer Sprechweisen, zugleich auch politisches Engagement erkennen lassen. Und sie nehmen bereits jene Themen vorweg, die in fast allen Gedichten dieses Bandes auszumachen sind.
So verspricht in dem 1948 entstandenen Gedicht „Der Zug fuhr vorbei“ von Nazik al-Mala'ika, mit dem die Anthologie eröffnet wird, ausgerechnet ein vorbeifahrender Zug neue Hoffnung gegenüber einem Zustand, der durch Ödnis und Stillstand gekennzeichnet ist. „Die Nacht mit ihrer ins Weite sich dehnenden Stille/ die nichts unterbrach, nur das blöde Gurren/ einer verwirrten Taube und das Bellen des Hundes/ der die fernen Sterne anheulte/ und die törichte Stunde verschlang das Morgen/ und dort in einigen Gegenden/ fuhr der Zug vorbei/ seine Räder sponnen Hoffnung, wegen der ich/ den Tag erwartete …“ Aber der Zug lässt bei der Beobachterin nur ein Echo zurück, ist als Sinnbild des Aufbruchs wenige Zeilen später nur noch in der Imagination des lyrischen Ichs zu verorten: dennoch folgen wir als Leser dem Zug, blicken mit den müden Augen der Reisenden hinaus in gespenstische Landschaften, sehen das finstere Gesicht des Fahrdienstleiters vor uns. Mit dem Aufbruch verbunden ist die Hoffnung in die Dichtung, denn ein junger Dichter, wohl auch der Geliebte, befindet sich im Abteil. Aber die Reise findet kein Ziel. Zum Abschluss des Gedichtes steht das lyrische Ich wieder an den Schienen, der Zug ist vorbei gefahren, vielleicht kam er auch nicht: dennoch sind alle Hoffnungen nach wie vor an die Ankunft des Zuges und des Geliebten geknüpft. „Der Zug fuhr vorbei und verlor sich inmitten/ der Einöden weiter/ ich blieb allein zurück und fragte die zerstreute Nacht/ nach meinem Dichter und wann er zurückkehren würde/ und wann der Zug ihn brächte/ Vielleicht war der Fahrdienstleiter an ihm vorbeigegangen/ und hatte so getan, als sähe er ihn so wenig wie die andern/ und war weitergegangen./ Er und die Laterne hatten die Reisenden kontrolliert/ und doch hielt ich immer noch wartend Ausschau/ und wünschte der Zug möge endlich kommen.“ Es ist ein raffiniertes Spiel mit Rollen und Perspektiven, das Nazik al-Mala'ika in ihren Gedichten gestaltet, es überwiegt eine Stimmung von Orientierungslosigkeit und Bedrohung. Durch einzelne Passagen, aus den Gedichten herausgelöst, lässt sich jedoch nur schwer die Sogwirkung ihrer Texte vermitteln. In ihrem zweiten Gedicht „die Schlange“ ist sie zugleich Verfolgte wie Verfolgerin, sie spricht in dem Gedicht „Ich“ mit der Nacht und dem Wind, ohne eine Antwort auf die Frage zu finden, wer sie sei. Hier haben wir eine eigenständige arabische Dichtung von Weltrang.

Hoffnung versus Trauer


Bedrohung und Verlust finden sich auch in vielen anderen Gedichten dieser Anthologie. Die politischen Wirren des Irak sind allgegenwärtiges Thema: Trauer, Klage über das Leben im Exil fern von Freunden und Verwandten sowie über den Verlust der Heimat ziehen sich über die Jahrzehnte hinweg leitmotivisch durch die Gedichte des Bandes. So könnte es unter anderem auch ein Grund für die fehlende Wertschätzung irakischer Dichtung sein, dass eine Gesamtschau schwierig ist, da viele Autoren im Exil schreiben müssen und mussten, zudem spätestens mit dem Militärputsch 1958 eine kulturelle Verarmung des Landes einsetzte: die Vielfalt der Dichtung wurde durch Zensur und politische Propaganda bedroht. Auch verloren sich die Lebensspuren einiger Schriftsteller, wie an den Biographien am Ende des Bandes ersichtlich wird: ihre Stimmen verstummten, sie landeten im sozialen Elend oder im Gefängnis, manche wurden ermordet. Viele Autoren mussten ihr Schreiben ohne literarische Öffentlichkeit fortsetzen.

Demnach ist es wenig verwunderlich, wie schnell in den Gedichten Hoffnung in Resignation und Trauer umschlagen kann. Während bei den frühen irakischen Autoren noch eine positive Gesellschaftsutopie aufscheint (einige Autoren waren etwa Christen oder Kommunisten), so tritt diese im Laufe des Bandes stärker in den Hintergrund. In dem kanonischen Gedicht „Regenhymne“ des 1964 verstorbenen Badr Shakir as-Sayyab bedeutet der Regen auch Hoffnung auf neues Gedeihen: „Jeder Tropfen Regen birgt als Keim/ das Rot und das Gelb der Blumen/ jede Träne der Hungernden und Nackten/ jeder vergossene Tropfen vom Blut der Sklaven/ ist ein Lächeln in Erwartung eines neuen Mundes/ eine Brust, die sich rötet am Munde des Säuglings/ in der jungen Welt des Morgen, der Spenderin des Lebens.// Und der Regen strömt…“ Bei seinem Gedicht „Christus nach der Kreuzigung“  scheint die Versöhnung von abendländischer und morgenländischer Kultur auf. Jesus spricht von seinem Kreuz aus zu den Jüngern, er trägt zugleich Züge von Tammuz, wobei Zerstörung auch den Keim der Neuschöpfung in sich birgt „Ich starb den Feuertod:/ das Dunkel meines Lehms verbrennend, und so blieb nur Gott/ Ich war am Anfang, und am Ende war der Arme/ Ich starb, auf daß in meinem Namen das Brot verzehrt wird,/ auf daß man mich sät zur rechten Zeit/ Wie viele Leben werde ich leben: Denn in jedem Saatloch/ bin ich Zukunft, bin Keim/ bin ein Geschlecht von Menschen, in jedem Herz ist mein Blut/ ein Tropfen davon oder der Teil des Tropfens.// So kam ich zurück, und Judas erbleichte, als er mich sah…“

Anders ist der Tonfall hingegen bei Boland al-Haidiri, ebenfalls eine Gründungsfigur der arabischen Lyrik, dessen Gedichte deutlich auswegloser scheinen. Der Sprecher seiner Gedichte schickt zunächst den Postboden weg, da er sich als Ausgestoßener unwürdig betracht, Adressat eines Briefes zu sein, fordert den Leuchtturmwärter auf, die Lichter auszuschalten, damit der Seemann im Meer ertrinken kann, er lässt das Telefon klingeln, ohne den Hörer abzunehmen: eine misslungene Weltflucht mündet in Isolation und Einsamkeit, sogar in Selbstvernichtung. „Lösch deine beiden Lichter … und lass uns ertrinken,/ Leuchtturmwärter/ denn das Träumen in deinem blauen Labyrinth/ hat den Seemann erschöpft/ da wünschte er sich, die Geschichte/ des Seemanns möge zu Ende gehen/ die Geschichte des Umherstreifens auf den Meeren/ die Geschichte der Perlen/ der Korallen/ und der Muscheln/ und er wünschte zu ertrinken (…)“

Bei einigen Autoren wiederum gestaltet sich als Utopie, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: ein einfaches Leben in der Heimat, fern von den Wirren des Krieges. Der Alltag erscheint in den Gedichten als phantastisches Moment, beinahe als Zauber, der nur noch in der Erinnerung oder als Imagination wachgerufen werden kann. So etwa in den Gedichten von Hashim Shafiq, die gerade durch ihre Einfachheit überzeugen. In seinem 1994 entstandenen Text „das plagiierte Gedicht“ ist es die unbedarfte Rede eines Kindes, die es ermöglicht, ein friedliches Alltagsbild der Heimat zu entwerfen: 

Das plagiierte Gedicht

Meine Tochter sagt:
Vater
tue Sand
in dieses Gedicht
und Steine
und pflanze Birken hinein
hier eine Quelle
dort Dörfer und Pferde
und laß auch Wagen vorkommen
und einen Bauernhof
und Getreidemühlen
und tue in das Gedicht
Stühle für ein kleines Cafe
und eine Dame, die Brot für die Gäste schneidet
und laß den Bart eines Bauern vorkommen
oder die Runzeln einer Bäuerin
die erschöpft ist vor Elend und Schwäche
und vergiß nicht
Vater
Tag soll es sein

Dominierend in „Rückkehr aus dem Krieg“ sind jedoch die dunklen Töne. Eine besondere ästhetische Qualität des Bandes stellt es hierbei dar, glaubhaft Trauer und Verzweiflung vermitteln zu können, mitunter durch die Brutalität der Bilder zu schockieren. Gedichte wie Mahmud al-Brikans „In den historischen Winden“ sind schon nicht mehr als melancholisch zu bezeichnen, sondern thematisieren die Ausweglosigkeit in kaum verstellter Radikalität, ohne an poetischer und intellektueller Kraft einzubüßen „Den Hyänen und wilden Tieren/ tret ich mein Erbteil ab/ kein Lobpreis für die Herrlichkeit. Untergang, nimm/ meine Wahrheit und meinen Namen“. Um einen vielleicht unzulässigen Vergleich zu bemühen: wer die Dichtung des Expressionismus schätzt, aber auch Autorinnen wie Christine Lavant oder Anne Sexton, sollte an solchen Zeilen trotz ihres düsteren Gehalts Freude finden. 

Der fremde Blick auf die eigene Kultur   


Es wäre jedoch zu kurz gedacht, die Gedichte der Anthologie nur vor dem Hintergrund der irakischen Entwicklung zu verorten. Die Einfluss westlicher Lyrik sowie die Exilsituation vieler Autoren führt dazu, dass auch die westliche Kultur in den Blick gerät bzw. jene Schnittstellen, wo beide Kulturen aufeinander treffen: einige Lyriker sind Weltreisende, die ebenso den Pariser Louvre thematisieren wie einen Basar in Bagdad, die Filme Martin Scorseses gleichsam wie den Koran. Wenn Abdul Wahhab al-Bayyati in seinen geschichtsphilosophischen Gedichten etwa schreibt „ich habe, oh meine Geliebte, alle Kerker der alten Welt erlebt/ doch jetzt entdeck ich die Kerker der neuen Welt“, dann sind damit nicht nur die Kerker im Irak gemeint. Viel mehr zeigt sich in seinem Gedicht der Wunsch nach Ausstieg aus einer als blutig empfundenen Weltgeschichte. „Wir sind umzingelt seit zweitausend Jahren/ wir versuchen, aus dem Kreis der Nullen herauszukommen“. Sein Gedicht „Liebesgedichte an den sieben Toren der Welt“ führt indirekt die Postmoderne-Theorie ad absurdum, da es die These vom „Ende der Geschichte“ infrage stellt, statt dessen auf das Fortwirken blutiger Auseinandersetzungen hinweist: vom „Ende der Geschichte“ konnte nur gesprochen werden, indem die Konflikte zwischen so genannter „erster“ und „dritter“ Welt aus dem Blick verloren wurden, etwa indem man auch die schuldhaften Verstrickungen der westlichen Politik im arabischen Raum unberücksichtigt ließ. So mag es kein Zufall sein, dass die Postmoderne-Theorie mit ihrem Postulat vom „Ende der Geschichte“ zu jenem Zeitpunkt an Popularität verlor, als der Konflikt zwischen westlichen und arabischen Ländern wieder stärker in den Focus der Weltpolitik rückte. Ebenso ist die in dieser Anthologie vielfach beschriebene Situation der Diaspora und Heimatlosigkeit mittlerweile paradigmatisch für viele Menschen auch in Europa, etwa durch die Flüchtlingsströme aus osteuropäischen Krisengebieten und Afrika. Deshalb besitzt die Anthologie nicht nur vor dem Hintergrund der schwierigen Beziehungen zwischen arabischen und westlichen Ländern eine große Aktualität.  

Auch wenn nicht alle Gedichte der Anthologie gleichermaßen das hohe Niveau halten, was bei der Zahl der versammelten Autoren wohl auch verständlich ist, so bietet „Rückkehr aus dem Krieg“ doch Gelegenheit, ein wichtiges Kapitel arabischer Dichtung zu entdecken, welches in unseren Breiten immer noch nicht die verdiente Würdigung erhält. Da auch der Preis mit 24 Euro für knapp 700 gebunden Seiten sehr zurückhaltend ausgefallen ist, spricht vieles dafür, sich die Anthologie in die heimische Bibliothek zu stellen und immer wieder neu zu entdecken, was uns sonst niemand verrät.

Originalbeitrag

Khalid Al-Maaly: Rückkehr aus dem Krieg    Neue irakische Lyrik. Kirsten Gutke Verlag, Köln / Frankfurt 2007.
Aus dem Arabischen von Khalid Al-Maaly und Heribert Becker