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Gedichte
Auf der Suche nach der Anderswelt – in Holger Benkels „meißelbrut“
„Holger Benkels Gedichte leben vom Elementaren. Seine Motive sind Erde, Feuer, Wasser, Luft, sind Dinge, Pflanzen und Tiere, Landschaftsformen seiner mittelelbischen Heimat, Körpererfahrungen, Wunden, Zerfall. Aber wenn die Gedichte im wörtlichen Sinn leben, in sich fließen und vibrieren und einander Echo geben, so gerade, weil ihre Motivwelt komplexer ist, als sie auf den ersten Blick scheint.“ (Volker Drube)
Der Dichter Holger Benkel, der 1959 in Schönebeck an der Elbe geboren wurde, dort in der Lessingstraße wohnt und ganz von seiner Arbeit als Schriftsteller und Lesender lebt, ist ein Gewächs auf dem Seelenboden der Magdeburger Börde. Das führt sogleich zur Dialektik eines Menschen zwischen extremer literarischer Fruchtbarkeit einerseits und Distanz zu den Dingen der Welt. Der Börde-Mensch ist verschlossen und lebt gern zurückgezogen, und doch lebt in ihm das Feuer der Worte – aber diese Kommunikation will eine strenge Form, sonst kann sie nicht leben. Er ist dem Vulkan vergleichbar, unter dem das Magma-Meer schwappt, aber nur virtuell ausbricht und nur so geboren wird: Als Wort. Aus der fruchtbaren Erde dieser nach heutigen Begriffen im Osten liegenden Landschaft wuchs ein vielgestaltiges Werk, das mit der Welt korrespondiert, wie sie ist, und zugleich ein intimes Zwiegespräch mit dem Totenreich und dem Transzendenten führt.
Was heißt das?
Holger Benkel lebt eigentlich gar nicht. Weder hier noch jetzt. Wir sehen ihn dort und glauben: Da ist er. Aber das ist eine Täuschung. Er ist nämlich da, wo er eigentlich lebt, nämlich bei den Toten. Wir müssten also, wenn wir ihn wirklich erreichen wollen, zu ihm gehen, zu den Toten, wo das wirkliche Leben atmet.
Das geht nicht, denken wir. Doch, es gibt einen Weg. Ich finde ihn in seinen Briefen, in denen er Tag für Tag lebt, da drunten in seinem Reich, wo auch die Gedanken zu Hause sind. Der irdischen Welt bedient er sich ja nur aus lauter Anhänglichkeit an einen Lebensstatus, den er schon früh überwand, mit Ausnahme der Sprache, die er liebt wie kein zweites Wesen, und weil das Transzendente nun mal nicht existent sein kann ohne das Diesseits. Benkel kehrt in seinen Gedichten Leben und Tod um, das Leben ist tot – erst im Tod kann ich leben. Karl Marx hat Hegel wieder auf die Füße gestellt – Holger Benkel stellt Marx auf den Kopf, er verlässt die unlebbare Basis und lebt im Überbau einer geistigen und seelischen Welt, die viel gemeinsam hat mit keltischen Vorstellungen. Ich weiß bis heute nicht, ob die keltische Mythologie für ihn eine ästhetische Bilderwelt darstellt, die er als Instrument seiner Dichtung benutzt, oder einen religiösen oder weltanschaulichen Glauben. Sein letzter Brief an mich ist keltisch datiert, wie alle seine Briefe seit über zehn Jahren: 12. tag des efeumonats – auf der suche nach der anderswelt. Er fällt konsequent aus der Zeit – wer so tot ist wie Holger Benkel im Nirgendwo, im Reich von Kein-Ort, der lebt wörtlich in der Erlösung von der irdischen Welt: In einer Utopie der Worte.
Später begriff ich, dass er ja schon hinübergewandert war zu den Toten, wo er wirklich leben kann. 1995 veröffentlichte er seinen Gedichtband „kindheit und kadaver“ und den Prosaband „reise im flug“, Träume und Ereignisse, beide im Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg. Später schrieb er Aphorismen: Gedanken, die um die Ecke biegen, inzwischen auch ein gigantisches Prosawerk, eine Art moderne Mythologie der Tiere (hier sind weit über eintausend Seiten entstanden in einem Werk, vielleicht sogar ein opus magnum, das noch seine endgültige Form sucht) – und immer wieder neue Gedichte, die permanent überarbeitet werden. Die unter dem Titel „meißelbrut“ versammelten Gedichte befinden sich in einem reifen Zustand, werden aber nie fertig.