Chatterton oder Die Fälschung der Welt

Sachbuch

Autor:
Jürgen Heizmann
Besprechung:
Carolin Wagner
 

Sachbuch

Aufräumarbeiten am romantischen Mythos: Chatterton und seine Fälscher

„Er [d.i. Chatterton] wird es wieder und wieder gelesen haben, und leicht lässt sich vorstellen, welche Gedanken ihm dabei durch den Kopf rasten. Seine Täuschung war gelungen. Walpole, der im ganzen Land bekannte Experte für Altertümer, hatte angebissen. […] Endlich Anerkennung, endlich Aussicht auf Ruhm!“  

Jedoch bleibt zu bemerken, dass diese Momente, in denen der tragische Held tatsächlich zu einem lebendigen und leidenschaftlichen Charakter avanciert, eher selten sind. So birgt der Segen von Heizmanns Programmatik in Gestalt von wissenschaftlicher Klarheit zugleich den Fluch der Blutleere in sich. Diese Schwäche tritt vor allem dann zu Tage, wenn sich nach dem 13. Kapitel Chatterton als Akteur aus der Biographie verabschiedet, und die restlichen fünf Abschnitte seinem künstlerischen Nachleben gewidmet sind. Die teils ausschweifenden Rezensionen, insbesondere von Ernst Penzoldts Schelmenroman oder den umstrittenen Inszenierungen Hans Henny Jahnns und Matthias Pintschers, lassen das Ende der Darstellung – zu Gunsten einer erschöpfenden Bewältigung des Themas – etwas auseinander fallen. Diese Pluralität der Stimmen ist es jedoch auch, die den hohen Grad an Transparenz bedingt: Allein zehn Biographien über den hochbegabten und frühreifen Sonderling haben Eingang in Heizmanns Werk gefunden, daneben zahlreiche Bühnenstücke und Texte sowie Bilder, die von der Figur Chatterton inspiriert wurden und ihrerseits weiter zu deren Mystifizierung beigetragen haben. Ebenso finden sich bedeutende Zeitdokumente, darunter ein Brief der Schwester Mary über den verstorbenen Thomas. Als streitbar, gleichwohl aber sehr inspirierend dürfte Heizmanns Versuch gewertet werden, Chattertons erfundene altenglische Verse ins Deutsche zu übertragen, wobei er dieser Transkription ein »recht phantastisches Frühneuhochdeutsch« zu Grunde legt.

Auch der Rezeption in Deutschland wird einige Aufmerksamkeit geschenkt, so dem Beifall und Mitleid Herders, der Chatterton eine »poetische Rakete« nannte, »die glänzend emporstieg, um schnell zu sinken«. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang Heizmanns Versuch, die doch geringe Breitenwirkung Chattertons unter den Deutschen zu erklären:

„In dem Kulturraum, der bereits den Werther hervorgebracht hatte, so meine These, konnte die Geschichte eines jugendlichen Außenseiters und Genies, das sich an der Gesellschaft aufrieb und im Selbstmord endete, nicht auf das gleiche Interesse stoßen wie in England und Frankreich.“

So war, ist und bleibt Chatterton das zu Lebzeiten verkannte und nach – oder sollte man sagen: durch – seinen Selbstmord verklärte Genie, dessen tragisches Schicksal vor allem den Romantikern in die poetischen Hände spielte. Diesen Mythos zu dekonstruieren war explizit nicht Heizmanns Ziel, denn »letzten Endes ist entscheidend, wie glaubwürdig, wie schlüssig und wie lebendig ein Biograph oder Künstler uns ein vergangenes Leben vor Augen zu führen vermag«. Mit kleinen Abstrichen kommt Heizmann diesem Ziel sehr nahe – mit dem großen Verdienst, die verschiedenen Fäden gewissenhaft auseinander sortiert zu haben.

als Originalbeitrag erschienen auf IASL online



Jürgen Heizmann: Chatterton oder Die Fälschung der Welt. Mattes Verlag, Heidelberg 2009.

 

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