den samen der steine sammeln

Lyrik

Autor:
Käte Reiter
Besprechung:
Frank Milautzcki
 

Lyrik

Das Selbst als Raum, in dem die Welt lesbar wird – in entdeckenswerten Gedichten von Käte Reiter

Michael Serrer vom Literaturbüro NRW gibt seit 2003 im bemerkenswerten, spannend Kunst und Literatur verbindenden Verlag XIM Virgines (benannt nach der Legende von den 11000 Jungfrauen) in Düsseldorf eine interessante Buchreihe heraus, die mit einer Werkauswahl Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen ehrt. Sie heißt sinnigerweise „Ehrenwort“. Neben den bekannteren Hansjürgen Bulkowski und Harald K. Hülsmann und im letztem Jahr dem im hohem Alter noch immer umtriebigen Rolfrafael Schröer, wurde 2007 anläßlich ihres 80-jährigen Geburtstags mit Käte Reiter eine Lyrikerin geehrt, die man außerhalb der Landesgrenzen kaum kennt und die ihren Status eines „Geheimtips“ nie ablegen konnte. 80 Gedichte von ihr hat Michael Serrer zusammengestellt.

„Ich bin ein Gassenkind“, sagt die Düsseldorferin. Ihr Vater war Fabrikarbeiter und starb früh, wodurch sie schon jung in ihrer Familie Verantwortung übernehmen mußte. Sie kümmerte sich, wie man das aus Filmen kennt - der Krieg brachte Not und Bomben - mit Kohlenklau vom fahrenden Zug, Hamsterzügen über Land, Kartoffeln stoppeln. Sie hat darüber in einem Romanmanuskript geschrieben, das nie veröffentlicht wurde. Zur Literatur kam sie nach dem Krieg, als sie bei einer Ärztin putzen ging, um für den Bruder Arznei auszulösen. Die Ärztin förderte das Interesse an der „höheren Literatur“ und als wenig später Marie Luise Kaschnitz das erste Mal wieder nach Deutschland kam um zu lesen, machte jemand das schlaue Mädchen Käte mit ihr bekannt. Sie sind Freunde geworden und auch zu Rose Ausländer hatte die Reiter eine freundschaftliche Beziehung (Jahre später entdeckte man in deren Nachlass frühe Gedichte von Käte Reiter, die sie selbst längst verloren glaubte). Dennoch hat die Literatur nie die Hauptrolle in ihrem Leben gespielt. „Sie brauchte keine Zeile schreiben, um zu sein, was sie ist.“, formulierte es 1974 Lore Schaumann in einem Aufsatz. Käte Reiter führte im Brotberuf ein größeres Einzelhandelsunternehmen und kümmerte sich kaum ums Publizieren. Arnfried Astel druckte 1962 etwas von ihr in den Lyrischen Heften und fast ein Jahrzehnt später erschien ihr erstes Buch, in denkbar kleiner Auflage, ein Künstlerbuch mit farbigen Siebdrucken von Gerhard Wind.



einer stellt sich auf eine stelle
und schreit
und die kleine stelle wird groß

dann geht er fort

dann stellen sich viele auf die große stelle
die klein war
und schreien
und man sieht die stelle nicht mehr



Käte Reiters Gedichte entstehen ohne große Vor- oder Nacharbeit. In ihnen sind diese Geschenke, die dann auftauchen, wenn wir anscheinend ganz tief in uns versunken sind, dabei aber tatsächlich weit weg, ganz am Ort des Gedichtes, die bei ihr zu Verszeilen werden wie „in meinem wasser / reist ein stein ins runde“. Die Klarheit des Moments übersetzt sich auch in eine Einfachheit des Textes: Stein, Haut, Stern, Auge, Tod und Leben. Und keine Angst vor klischeebehafteten Worten und Themen. Da sie ohnehin nicht für die Kritik schreibt und sowieso nicht für irgend jemanden. „an der schmerzstelle / den schlüssel seele suchen / und nicht verlieren können“, eine Therapie, die funktioniert. Dabei ist es nicht das therapeutische Moment, das Käte Reiter an die Lyrik bindet, sondern die ganz urtümliche Begegnung mit der Vieldeutigkeit und damit der Vielgesichtigkeit. Alles kann aussehen, es muß nicht. Die Welt ist möglich und nicht fest. Man kann nichts halten, „aus schwarzem eis gemeißelt / steht morgen / was wahr wird / ein paar stunden im licht / und schmilzt“.

Die Gedichte sind schlank, es gibt kein Beiwerk, kein Schmuck, kein Pomp, kein Ausufern. Einfache Konstrukte, die es dennoch in sich haben, eine Tiefe nämlich mit großen, geweiteten Räumen. Jürgen P. Wallmann stellte die Reiter neben die Kaschnitz und die Domin. Das ist sicher eine Überbewertung.  Für den Moment aber, in dem sich Käte Reiter mit der Lyrik beschäftigt, stimmt die Intensität. Immer dann, wenn sie sich mal um ihre Sprache, eine sehr direkte, einfache und genaue Sprache, kümmerte, entstanden Gedichte, die zwar äußerlich bisweilen einer Tagebuchlyrik ähneln, inhaltlich aber um genau jenes Maß reflektierter und anwesender sind, welches sie zur guten Literatur macht.



nachts über die schulter gehängt
und das schaf träumt

morgens fragt der schlächter
wo ist dein tier

welches tier



In ihrer Kargheit war die Reiter ähnlich konsequent, wie es heutige Dichter bei der bewußten Staffage sind. Alles, was vom Eigentlichen ihres Gedichtes ablenken könnte, ließ sie fort. Wo andere beginnen nach Bild und Ergänzung, Umschreibung und Ausschmückung zu suchen, verpustet sie das als Rauch und Nebel. „ich gebe den heimatlosen worten / einen ort in mir“ – das sind mitunter Worte, die niemand heute mehr in seinen Texten (wohl aber in seinem Leben) haben will: Sehnsucht, Sterne, Liebe. Bei ihr klingen sie weder peinlich noch verwaschen, das ist selten. Vielleicht liegt es daran, daß Käte Reiter dabei von sich absieht. Sie läßt Gedichte zu. In ihr entsteht Lesbarkeit; Käte Reiter ist der Raum, in dem die Welt durch das Gedicht lesbar wird. Um Sinn und Unsinn dieses Satzes zu verdeutlichen: in der Tagebuchlyrik ist es ja immer genau umgekehrt - dort ist das Gedicht der Raum, in dem der Dichter lesbar werden soll, dort soll das Gedicht zu Diensten sein und dem Dichter über seine Probleme hinweg helfen. Bei Käte Reiter ist es anders herum: sie ist dem Gedicht zu Diensten und hilft ihm über ihr Selbst hinweg.

Originalbeitrag

Käte Reiter: den samen der steine sammeln. Gedichte. XIM Virgines Editio Libri, Düsseldorf 2007.