Ausstellung
Poesie des Lebendigen – Neo Rauchs Bilder sind mehr als Begleiter
Eigentlich ist alles faktisch. Wir befinden uns nachweislich, um wikipedia zu zitieren, und schon der Gedanke sich nicht zu befinden, ist faktischer Teil einer Gebärde, die getan wird, eine Tatsache also. Sofern man Gedanken als reale Geschehen ansieht und ihre Inhalte als nicht beliebig, sondern als gültige Reflexionen wie von Fischschuppen. Was in uns herumschwimmt ist weder beliebig noch irreal. Es ist da und macht in uns etwas und mit uns etwas. So läßt sich das Innere kaum anders nachweisen als durch seine direkten Spuren im Äußeren, das eine Nebelkammer für unsere eigenen Elementarereignisse ist.
Malerei transportiert und übersetzt diese Ereignisse ins Außen. Selbst wenn man glaubt das Verfahren stünde im Vordergrund, wenn Pollock ein Loch in die Farbdose piekt und vor sich hindröppelt – es enthält ihn und nichts ist austauschbar. Alle Geschehnisse um den Prozess sind so komplex und können wegen minimalster Dinge anders faktisch wirken und jeden poetischen Dialog extrem verändern, daß Kunst niemals ein geplantes Tun sein kann, sondern immer ein Spiel sein muß, das sich Räumen öffnet.
Neo Rauchs Räume sind große Bühnen, auf denen Erstaunliches geschieht. Sobald man vor eines seiner großen Bilder tritt, befindet man sich inmitten eines Welttheaters. Das Vertrautes neuwertig miteinander kombiniert, farbliche, geometrische, gravitative Kräfte ungeahnt ausbalanciert auf einen anderen Punkt hin, der aber irgendwie, und das macht es geheimnisvoll, doch in jedem einzelnen Detail schon enthalten ist, wie Luft, die es als Atom nicht gibt, sondern nur als Ensemble. Er arbeitet mit Licht, leuchtet aus, flutet oder verdunkelt, stoppt den Verfolger auf einer agierenden Figur und weiß die Staffage am richtigen Platz. Sie ist einzig. Umfeld ist Handlungsraum. Er umreißt und verwischt, verschärft und verdreht oder umhaust. Er stellt sich, befindet sich. Er taucht auf, stellt das Bild um und verschwindet wieder, wie ein Regisseur. Er macht groß und klein, und macht einen Unterschied, der nie beliebig ist. Das Große an seiner Kunst ist, daß die Vielfältigkeit sich niemals verläuft, die anschauliche Abstrusität niemals verwirrt, die Mannigfaltigkeit keine mathematische, sondern eine erfahrbare, fühlbare ist. Alles führt zueinander, selbst wenn es voneinander fort strebt. Alles fällt wie ein Elektronenschauer dem Szenischen zu, dem Bild, der Momentaufnahme. Farbe ist wie ein Thermoplast, das Rauch formt, organisch-chemisches Material, das ineinander läuft wie Zelluloid. Bild nach Bild. Bild im Bild im Bild. Der Betrachter fährt die Gemälde ab, wie einen Film. Das Bild wird zum Geschehnis in einer Weise, daß es uns dunkel, geheim und wild anrührt. Es nimmt Kontakt zu unserem Leben auf, weil es ein eigenes Leben hat. Es will erfahren sein. Es will gelebt werden. Es ist nicht einfach nett oder böse zu unseren Augen und beschmust oder verbellt uns mit formidablen Texturen, lauten Trompeten und modernem Swing – und tut das trotzdem alles auch. Selbst den Comic nutzt Neo Rauch und die ästhetischen Präferenzen des Fifties / Sixties - Revivals. Aber er ist vielen Künstlern seiner Generation trotzdem voraus. Sein Bild schenkt uns seine Anwesenheit und will die unsere.
So ist der enorme Erfolg, den Neo Rauch derzeit hat, ein wohlbegründbarer. Längst will man die alte Kopfchose nicht mehr, die uns Jahrzehnte lang in klimatisierte Räume gezwungen hat. Wir wollen schwitzen und alleine im Regen stehen, wir wollen lachen und ungefugte Wege gehen. Wir wollen einen Hintergrund haben, der auf seine Weise farbig ist, notfalls dunkel und grau. Wenn nichts mehr beliebig ist, dann ist es auch nicht für immer – es belebt den Moment und nach ihm ist die Zeit ein anderer Raum. Die Poesie von Neo Rauch weiß von dem Kontext: nichts lebt alleine und nur vor sich hin. Aktueller und zeitgemäßer kann Malerei nicht sein. Und deshalb ist sie engagiert. Kunstvoll und nicht gekünstelt.
Anläßlich seines 50. Geburtstages stellt eine umfassende Retrospektive zeitgleich in Leipzig und München eine Auswahl seiner Werke von 1982 bis heute vor (darunter bislang nie gesehene), anhand derer die Entwicklung seiner poetischen Präsenz wunderbar abzulesen ist: Neo Rauchs ästhetisches Empfinden, seine ungeheure Farbsicherheit und gestalterische Klarheit haben ihn gelehrt Kontexte zu erzeugen, Inhalte nebeneinander stehen zu lassen, die sich gegenseitig zum sprechen bringen. Genau das ist Poesie – aus der Zwiesprache der Dinge eine nicht-geometrische Dimensionalität erzeugen, die im besten Fall, wie bei Neo Rauch, den Betrachter zuläßt als einen Begleiter und oft auch als einen Freund.
Die dazugehörige wundervolle Monographie, die bei Hatje Cantz erschienen ist, läßt solche Begleiter und Freunde zu Wort kommen. U.a. Luc Tuymans, Jonathan Meese, Michel Borremans schreiben über ihre Begegnungen mit jeweils einem der Bilder. Ein Leseerlebnis auch der exklusiv für den Band geschriebene Essay von Uwe Tellkamp in der Buchmitte. Als Wendebuch mit zwei Vorderseiten gestaltet, kann man beide Ausstellungen, die Leipziger und die Münchner, nachschlagen. Zusammen mit den Begleittexten ist das Buch selbst ein Ereignis, das man nur jedem Kunstinteressierten der Gegenwart empfehlen kann. Er wird überrascht sein, wieviel Wundervolles die moderne Kunst heute – wieder – hervorbringen kann, Poesie, die sich zutraut lebendig zu sein und nicht im konzeptuellen Käfig grau dahindarbt oder im Muskelspiel des Tabubruchs Erektionen erhofft.
Originalbeitrag
Hans-Werner Schmidt & Bernhart Schwank: Neo Rauch – Begleiter. Hatje Cantz, Ostfildern 2010.