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Gedichte
Draussen die Summe der Teile - „im toten winkel des goldenen schnitts“ von Marcus Roloff
Dass der Alltag bei vielen Schriftstellern den Ausgangspunkt ihrer Gedichte bildet, erscheint banal, fast schon selbstverständlich. Wenn man die Gedichte eines solchen Autors, wie z.B. die Marcus Roloffs in seinem neuen Band, liest, stellt sich vor allem die Frage, auf welche Weise dieser Alltag sprachlich gestaltet Gedicht wird.
Roloff scheint es um eine Selbstvergewisserung des lyrischen Ichs zu gehen, indem auffallend häufig zeitliche („am 1. september/ auf vierzehn uhr angesetzt/ überm winter/ jeden morgen“) und räumliche Verortungen eines Gedichtes („hinter pirna/ breitscheid- ecke twachtmannstraße/ zwischen havel & havel“) vorgenommen werden. Kathrin Schmidt spricht folgerichtig von „chronotopischen Gedichten.“ Trotz dieser Verortung ist es nicht Anliegen des Autors, Alltagsgedichte im Sinne eines Rolf Dieter Brinkmanns zu schreiben. Dazu wird das Geschehen zu sehr verfremdet, z.B. durch komplexe Metaphern („besuche die freiheit/ wie einen lesesaal eine/ schankwirtschaft“ – tafelspitz// „das quaderförmige/ eiland der aufklappbaren/ gegenwartsmappe durchstreift mich“ – treasure island) oder indem scheinbar Gegensätzliches im Zeugma miteiander verbunden wird („parataktische fehlleistung& hyperaktive schübe“ – waten im verdachtsgelände// „liest sich wie grundbuch + falzt erkenntnisse/ frei vom maßlosen toponym“ – kataster). In vielen Gedichten zählt das lyrische Ich das, was es sieht, auf („einhaust in der liturgie den posaunen/ & kreuzbögen eines abends in erfurt“ – requiem// „löwe kissen totenschädel“ – hieronymus im gehäus), was zum sachlich-neutralen Ton der Gedichte beiträgt. Grundsätzlich wirkt die Wahrnehmung des lyrisches Ichs distanziert, emotionslos. Oft tritt das Ich gar nicht auf (waten im verdachtsgelände, carte) oder es gibt sich erst spät im Gedicht zu erkennen (requiem, mai in demmin). Auffallend ist die Vorliebe des Autors für Parenthesen oder für die Verwendung von Sonderzeichen (&, + und /).
Das Bild, das Roloff vom Alltag zeichnet, gibt die Welt in ihrer Komplexität wieder. Welt ist demnach eine „Summe der Teile.“ Unsere Wahrnehmung (symbolisiert durch die Wahrneh-mung des lyrischen Ichs) ist Wahrnehmung von gleichzeitig ablaufenden Vorgängen, Wahr-nehmung von Disparatem, Wahrnehmung als permanentes Multitasking. Das lyrische Ich ist sich noch seiner zeitlichen und räumlichen Verortung bewußt, aber ansonsten ist es nicht mehr dazu in der Lage, seine Erlebnisse zu bewerten, Stellung zu beziehen, ja sogar manchmal „ich“ zu sagen und wirkt dadurch verloren.
später (märz)
ein begräbnis in einer landschaft am ende
der pappelalleen zwischen anklam altentreptow burg stargard
zwischen koppeln und toteiskesseln erscheint eine hügelkette
eine blühende querverbindung zwischen tollense und peene
(demmin siedenbrünzow) und mir ist das silbenlicht
über den kulissensträuchern an der b96 endgültig abgedreht-
vergangene zeit (s-vhs) die sich ablagert in kellerkisten und
jeder halm jeder klappernde fahnenmast (borwinheim russen-
denkmal neustrelitz) garagengrau auf vierzehn uhr angesetzt
das von der dämmerung in bettfalten geschmissene
blaugeränderte AMEN –
Die Verfremdungsmechanismen, die Marcus Roloff für seine Darstellung von Realität benutzt, ermöglichen es dem Autor Gedichte zu schreiben, die fast vollständig frei von Klischees sind, die innovative Frische ausstrahlen. Nur an wenigen Stellen „worfelt“ („werfen plus würfeln“ – nachricht vom standstreifen) der Dichter unser Ästhetikempfinden durcheinander, indem er zu kühne Metaphern entwirft: dann [kriecht] „die summe der teile in einen bösen sack“ – requiem. Dennoch kann man als potentieller Leser in positivem Sinne neugierig auf die Gedichte von Marcus Roloff sein.
Originalbeitrag
Marcus Roloff: im toten winkel des goldenen schnitts. Gutleut Verlag, Frankfurt /M. 2010.