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Aphorismen
Deutliche Texte und Widerspruchsgeist - Neue deutsche Aphorismen
Es ist gerade zu Ende gegangen – das 4. bundesweite Aphoristiker-Treffen in Hattingen. Es stand unter dem Thema „Gedanken-Übertragung“ und stellte folgende Fragen: „Wie kommt der Aphorismus von einer Sprache in die andere? Was verliert er beim Übertragungsvorgang nach innen? Was gewinnt er nach außen?” Und weiter: “Wie und warum kommt der Gedanke zu (s)einem Bild?”. Im Stadtmuseum trafen sich über 30 Teilnehmer zu Vorträgen, Workshops und zur abendlichen Aphorismus-Karawane, die von Lesestop zu Lesestop durch Hattingen zog.
Und einen Wettbewerb gab es auch. Dokumentiert wird dieser wiederum in einer Anthologie, die den Titel trägt “Gedanken sind unhöflich. Sie kommen ohne anzuklopfen.” Im Gegensatz zu einer schleichend weit verbreiteten Meinung, ist der Aphorismus in Deutschland längst nicht tot, auch nicht verstaubt und dröge, sondern quicklebendig. Es gibt eine Vielzahl an hochklassigen Akteuren. Erstmals dokumentiert wurde dies Anfang des Jahres, als das Buch “Neue deutsche Aphorismen” in der edition Azur erschien, herausgegeben von Tobias Grüterich, Alexander Eilers und Eva Annabelle Blume.
Die Herausgeber hatten sich auf einem jener Treffen in Hattingen kennengelernt und beschlossen einen Gesamtblick zu wagen. Binnen zwei Jahren sichteten sie über 160.000 Aphorismen, teils aus schwer zugänglichen Büchern aus Kleinverlagen, teils aus unveröffentlichten Manuskripten und legten in ihrem Buch schließlich die ihrer Meinung nach besten Aphorismen der letzten 25 Jahre von insgesamt 91 Autoren vor. In einem Nachwort schildern Grüterich und Eilers Probleme während der Arbeit an dem Buch und erläutern das Auswahlverfahren.
“Das Renommee der Autoren, das in der Regel auf dem sonstigen erzählerischen oder dichterischen Werk beruht, spielte für die Textauswahl ebensowenig eine Rolle wie Alter, Geschlecht und Herkunft.” & weiters: “Unsere Anthologie ist ausschließlich der literarischen Qualität verpflichtet”. Was dazu führt, daß einige namhafte Autoren fehlen (manche haben auf die Einladung auch nicht geantwortet) und dafür viele unbekannte Namen aufschlagen und mit wunderbaren Qualitäten überraschen.
Man könnte hier dutzende Namen nennen: Franz Christoph Schiermeyer (“Im Namen Gottes spricht nur, wer ihn für unmündig hält.”), Andreas Hegewald (“Enge Gürtel drücken den Bauch ins Gehirn”), Wolfgang Mocker (“Am schwierigsten ist es, die Wahrheit jenen zu sagen, die sie kennen.”), Ernst Ferstl (“Ein geliebter Mensch hat viele Gesichter, ein gehasster nur eins.”) Beat Rink (“Keiner braucht den anderen so sehr wie der Egoist”), Sulamith Sparre (“Es gibt zwei Leben: das wirkliche und das erlittene.”), Stefan Brotbeck (“Mit Kausalität kann man jeden Zusammenhang zerstören.”), Elisabeth Turvold (“Im Zeitlosen steckt unendlich viel Zeit”) --- es ist wundervoll bis unglaublich, wie viele hochwertige Aphorismen geschrieben wurden und werden, und es ist erstaunlich und bezeichnend, wie wenig der außerhalb der Szene Stehende das mitbekommt.
Gab es dereinst für den entlarvenden queren mindblower reservierte Rubriken in den Zeitungen, “so kämpft er heute gegen Zigarilloqualm, Jahrgangsweine und Wellness-Wochenenden”, konstatieren die Herausgeber – weil der Lifestyleteil die Aphorismen aus den Printmedien drängt? Nicht nur. Esprit und Nachdenklichkeit haben allgemein in der Breite kaum eine Chance gegen Platitüde, banalen Witz und Binsenwahrheit. Nur das Plattgewalzte reicht nach überallhin.
Mehr oder weniger teilt man das Schicksal der Spezialliteraturen, auch das Schicksal der Lyrik. Und es gibt weitere Schnittmengen. Für Lyriker ist die Lektüre diese Buches ein oft atemraubendes Vergügen, weil dort Sprache auf kleinstem Raum phantastische Dinge anrichtet. Vom Sinn her - den die Lyrik meistens nicht will, den sie aber spürt wie einen schweren Schatten neben der Farbe des Worts.
Die Herausgeber haben mit dieser ersten Anthologie deutschsprachiger Aphoristik der Gegenwart einen Bestand an Widerspruchsgeist inventarisiert, der in seiner Kühnheit und Klarheit überrascht und für die geistige Landschaft, in der sich die Schreibenden zeitgleich bewegen, hoffen lässt. Geschrieben werden die deutlichen Texte also, aber deutlicher gelesen werden wohl nach wie vor die Rechnungen der Druckerei.
Um so mehr muß man der edition Azur Dank sagen, daß sie dieses Buch ermöglicht hat.
Originalbeitrag
Tobias Grüterich, Alexander Eilers & Eva Annabelle Blume: Neue deutsche Aphorismen. Eine Anthologie. Edition Azur, Dresden 2010.