Illusions of Reality – Naturalismus 1875-1918

Ausstellung

Autor:
Gabriel P. Weisberg
Besprechung:
Frank Milautzcki
 

Ausstellung

Dasein, wie es sich hineinmalt in die Welt - der Naturalismus in einer Ausstellung in Amsterdam

Van Gogh verteilte nicht nur sein Hab und Gut unter Minenarbeitern und hat versucht die Realität der Arbeiterfamilien zu begreifen, irgendwann begann er sie auch zu zeichnen, war fasziniert von der menschlichen Tiefe, die Armut in die Menschen hineinzoomt, hat zunächst Dickens, dann Zola und die Brüder Goncourt gelesen. Er kaufte sich billige s/w Drucke von naturalistischen Malern, weil sie ihn – im Gegensatz zur akademischen Malerei – tatsächlich inspirierten. Er schrieb darüber seinem Bruder Theo: “Scheinbar ist nichts einfacher, als Lumpensammler, Bettler oder sonstige Arbeiter zu malen, aber es gibt kein Motiv in der Malerei, das so schwer wäre wie diese alltäglichen Figuren.” Van Goghs “Kartoffelesser” beispielsweise, aus dem Jahr 1885, sind solche Figuren. Es ist sein erstes großes Werk, an dem er Monate lang arbeitet.
Er schreibt – wieder an seinen Bruder: “Gern hätte ich dir zu diesem Tag das Bild von den Kartoffelessern geschickt, doch obwohl es gut vorwärtsgeht, ist es doch noch nicht ganz fertig. Obschon ich das eigentliche Bild in verhältnismäßig kurzer Zeit gemalt haben werde, und zwar größtenteils aus dem Kopf, so hat es doch einen ganzen Winter Malen von Studienköpfen und Händen gekostet. [...] Ich habe mich nämlich sehr bemüht, den Betrachter auf den Gedanken zu bringen, daß diese Leutchen, die bei ihrer Lampe Kartoffeln essen, mit denselben Händen, die in die Schüssel langen, auch selber die Erde umgegraben haben; das Bild spricht also von ihrer Hände Arbeit und davon, daß sie ihr Essen ehrlich verdient haben. Ich habe gewollt, daß es an eine ganz andere Lebensweise gemahnt als die unsere, die der Gebildeten. Ich möchte denn auch durchaus nicht, daß jeder es gleich schön oder gut fände.”
Das Bild ist zu sehen im Van Gogh Museum in Amsterdam, das aufgrund dieser tiefen Verbindung Van Goghs mit dem Naturalismus ein denkbar guter Platz ist für die derzeit laufende Ausstellung  “Illusions of Reality – Naturalismus 1875-1918”.

Der Naturalismus ist eine bekannte, aber grundsätzlich bei der Kritik unbeliebte Kunstströmung aus dem Ende des vorletzten Jahrhunderts. Einfacher ließen sich aus dem Impressionismus und dem Symbolismus kritisch verwertbare Handschriften und öffentlich nutzbare Schlagzeilen extrahieren, als aus den klaren, sich nicht an individuellen Gesten festzumachenden sozialen Statements, wie sie der Naturalismus anstrebte, indem er Alltägliches, real Existentes und wirklich Gelebtes auf großen Formaten darstellte. Die Gemälde waren beim Volk beliebt und trotz der fehlenden Unterstützung durch die Kunstkritik weit verbreitet, sie hingen in öffentlichen Salons und Gebäuden, sogar in Behörden und natürlich in Museen. Aber sie wanderten von dort zurück in die Asservatenkammern und blieben hernach einem intensiven und umfassenden Blick verborgen.

Gabriel P. Weisberg, der erstmals 1992 die naturalistische Malerei als Genre grundlegend dokumentiert hatte, ist das Mastermind der nun laufenden Ausstellung. Fünf Jahre hat er sie vorbereitet, hat nahmhafte Kollegen und Fachleute hinzugewonnen, von denen einige auch Beiträge zu dem vorliegenden Katalog beisteuerten. Herausgekommen ist eine Gesamtschau, wie es sie bislang noch nicht gegeben hat und wie sie beeindruckender nicht sein kann, wenn man den Naturalismus erstmals als ernstzunehmende Kunstäußerung darstellen möchte. Das Buch erforscht den Hintergrund der Werke, die Kompositionsmethoden und kaum bekannte, genrespezifische Aspekte, wie etwa den Einsatz der Fotografie, die als Konservierungshilfe gerne und oftmals hinzugezogen wurde, um Szenen und Bilder zu fixieren und “reale” Grundlagen für das spätere Gemälde zu haben. Die Fotografie zwang dazu, das zu betrachten, was da war und ließ keine Ausreden zu. Ob das Eisenarbeiter bei der Mittagspause waren oder Landstreicher beim Wasserfassen aus einem Bach. Also wurde sie vielfach genutzt und es gehört zu besonderen Stärken der Ausstellung, die parall stattfindende Entwicklung der Fotografie zu einer eigenständigen Kunstform en passant mitzuerzählen.

Das Szenische eines Bildes hält immer einen erzählerischen Vorrat in den Packdichten der Details versteckt. Und gerade die oftmals zu ungeheurer Perfektion vorangetriebene Detailgenauigkeit, das Rostloch im Ofen und der Riss im schmutzigen Unterkleid, bietet Geschichten an und friert in einer offensichtlich gewöhnlichen Momentaufnahme das Wesen der Zeit ein. So gestatten die Bilder beim Durchblättern des Buches einen abenteuerlichen Gang mitten durch eine uns heute fremde Gegenwart, Menschen begegnen uns, wie sie alltäglicher nicht sein können und uns trotzdem intensiver berühren als die akademische Parallelwahrheiten, über die Van Gogh in seinen Briefen klagte und die das Kunstgeschehen bestimmten. Berühren uns, weil sie spürbar echt und unausweichlich sind. Menschen mit Gesichtern, die alles erzählen, Szenen mit Menschen, die alles durchleiden, Dasein, wie es sich hineingemalt hat in die Welt.
Ein Mädchen steht am Tor und blickt – man meint es – in die Kamera. Das Haus ist eher eine Hütte und im Hintergrund kneift sich eine Alte ihre zerfurchte Hand an die Wange und blickt fragend zum Bauern, der auf eine Grabegabel gestützt zu ihr hinschaut. Eine Hand des Mädchens ruht, quer rüber, am Lattenzaun und verwehrt den Zutritt. Dahinter picken Hühner auf dem roten Lehmboden nach nicht viel oder Kieseln. In ihrem Blick spiegeln sich stille Verzweiflung und hilfesuchende Fragen, aber auch Scheu und verlorenes Schweigen. Der Brite Georg Clausen hat dieses Bild 1889 gemalt und man hat in den Blick dieses “Girl at the Gate” seitdem viel hineininterpretiert. Gerade dieses Bild verbietet mehr zu sehen als da ist und gestattet alles zu sehen, was man will. Geschichten und Aber-Geschichten, Leben, das dasteht und mehr ist, als man sieht.

Das macht den Zauber dieser Bilder aus. Hält man das Leben an und konserviert einen Moment, so hat er unsichtbare Folien im Hintergrund liegen, auf denen weiterhin Leben geschieht. Der Betrachter betrachtet nicht nur das Bild, sondern auch einen Film, der im Inneren losläuft. Und da die versammelten Gemälde “real” sind, machen die Bilder betroffen: Not, Mühe und Armut, einfaches Glück und unverstellte Anwesenheit. Es sind lesbare Zeitgemälde.  

Wie würde der Naturalismus von heute aussehen? Wie stellt sich der Mensch heute in die Welt und was sind die Kontexte und Folien dazu. Ist unser Erscheinen phänomenologisch noch fassbar oder soweit nach innen verklebt, daß die dahinterlaufenden Filme unauflöslich bleiben müssen und wir uns reihenweise aneinander vorbei “lesen”, weil jeder kaum noch erschließbare eigene Märchen im Kopf hat und dabei der Irrtum zur nicht mehr beanstandeten Normalität geworden ist. Oder können wir uns heute sehr viel reflektierter betrachten und sehen uns stehen, erfassbar und deutlich am Ort unserer Zeit? Lebt der Mensch beides?
Während ich das Buch zur Seite lege, stellen sich Fragen. Natürlich. Und es formulieren sich – wie von alleine - Sätze wie diese: der Naturalismus sieht den Menschen gar nicht als Antwort, sondern als Frage.

Nach Amsterdam wird die Ausstellung in Helsinki zu sehen sein. Es ist schade, daß sie nicht nach Deutschland findet. Wenigstens hat der belser Verlag diesen deutschsprachigen Katalog herausgebracht, den zu bestellen man nicht zögern sollte: was man bekommt, ist wertvoll und überrascht selbst kunstmüde Geister.



Originalbeitrag

Gabriel P. Weisberg: Illusions of Reality – Naturalismus 1875-1918. Belser, Stuttgart 2010.