Ein Angler in einer roten Jacke und ein trüber,
bewölkter Himmel sollten die letzten Wahrnehmungen in ihrem Leben sein. Sie
stürzt sich in die Fluten des Flusses, wird von seiner Strömung davongetragen.
Schwerelos treibt sie im trüben Wasser, scheint zu fliegen. Sie ertrinkt.
So stellt sich Michael Cunningham den Freitod Virginia Woolfs vor; die letzten
Minuten einer wundervollen Schriftstellerin, die das Leben, als der Wahnsinn
Besitz von ihr ergriff, nicht mehr ertrug.
Mit „Die Stunden" hat der Luchterhand Verlag einen mehrfach
preisgekrönten (Pulitzerpreis, PEN/ Faulkner-Award) Roman des amerikanischen
Autors Michael Cunningham verlegt, der den Leser auf wunderbar poetische Weise
in die Lebenswelten von drei Frauen entführt, die jede auf ihre Weise mit Mrs.
Dalloway, der Protagonistin aus Virginia Woolfs gleichnamigen Roman, verbunden
sind.
Neben Clarissa Vaughan, die im New York der späten Neunziger eine Party
für ihren aidskranken Freund Richard vorbereitet und den Spitznamen Mrs
Dalloway trägt, schildert Cunningham einen Tag im Leben von Laura Brown im Jahr
1949. Diese, glücklich verheiratet und Mutter eines Sohnes, ist mit
Vorbereitungen für den Geburtstag ihres Mannes beschäftigt. Der Hausarbeit
überdrüssig, flieht sie in ein Hotel, um ungestört „Mrs Dalloway" zu
lesen.
Nicht zuletzt läßt Cunningham den Leser einen Tag im Dasein Virginia Woolfs
erleben, die 1923 verzweifelt um den Anfang ihres Romans „Die Stunden"
ringt und der später „Mrs. Dalloway" heißen wird.
Scheinbar parallel verlaufen die erzählten Lebenslinien der Figuren, durch
nichts als Kleinigkeiten, eher zufälliger Natur, miteinander verbunden. Doch
Cunningham versteht es meisterhaft, die drei Erzählebenen schrittweise
ineinander fließen zu lassen, bis sie im letzten Kapitel eine Einheit ergeben.
Das Beeindruckende an Cunninghams Roman ist, mit welcher Leichtigkeit er von
großen Themen wie Liebe, Tod und Freundschaft erzählt. Figuren und Handlungen
wirken so real, daß man zum Ende des Romans das Gefühl hat, gute Freunde
verlassen zu müssen. © Torsten Seewitz,
16.05.2000
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