Kann
man einen Roman von knapp 400 Seiten und nur einer
handelnden Person mit anhaltendem Interesse lesen? Man
kann und man muss sogar! Denn der österreichische Autor
Thomas Glavinic meistert mit seinem Buch
„Die Arbeit der Nacht“ genau diese
Herausforderung für den Leser mit Bravour.
Zwar hat sich im vergangenen Jahr der Schriftsteller
Thomas Lehr mit „42“ an einem ähnlichen Thema
versucht, indem er die Zeit anhält und seine Figuren
wie in einer Luftblase in der Welt umherirren lässt,
doch geht Glavinic einen Schritt weiter. Er entwirft ein
wahres Alptraumszenario, nämlich eine Welt ohne
jegliches Leben.
Jonas, einziger Protagonist des Romans, muss eines
Morgens erkennen, dass er in einer Stadt lebt, die entvölkert
und vom Rest der Zivilisation abgeschnitten scheint.
Vergeblich versucht er seine Freundin per Telefon zu
erreichen. Fernsehen, Radio und Internet beantworten
seine Suche nach einer Erklärung lediglich mit einem
Rauschen.
Zunehmend verzweifelt irrt er in seiner Stadt umher, ständig
auf der Suche nach anderen Menschen.
Doch alles ist leer und still, unheimlich still. Allmählich
muss Jonas erkennen, dass er vollkommen auf sich
gestellt ist. Jeder Versuch, Antworten auf diese bizarre
Situation zu finden, führt in eine Sackgasse. Zu
unfassbar ist der Gedanke, eventuell einziger Überlebender
eines Unglücks zu sein. Doch welches Unglücks?
Minutiös lässt Glavinic den Leser teilhaben an einer
atemlosen Suche, die immer mehr zu einer Reise in die
Seele von Jonas wird. Dieser fährt an Stätten seiner
Kindheit und Jugend, richtet die alte Wohnung seiner
Eltern wieder ein und beobachtet sich selbst, indem er
nachts seinen Schlaf filmt. Tags darauf schaut er sich
die Videobänder an, immer in der Hoffnung doch ein
Lebenszeichen eines anderen Menschen zu entdecken.
Je länger er allein lebt, desto mehr Distanz stellt er
zu der Person fest, die da im Bett liegt, in manchen Nächten
unvermittelt aufsteht und ausdruckslos in die Kamera
starrt.
Diese Passagen zählen zu den spannungsgeladensten, die
einem beim Lesen einen Schauer über den Rücken treiben
und einen unheimlichen Sog entwickeln. Ist da vielleicht
doch jemand, der Jonas beobachtet?
Unbestritten zählt „Die Arbeit der Nacht“ zu
den herausragendsten und interessantesten
Neuerscheinungen des diesjährigen Bücherherbstes, ja
vielleicht sogar der letzten Jahre. Denn Thomas Glavinic
gelingt das Kunststück, die grundlegende philosophische
Frage nach dem Wesen des Menschen literarisch äußerst
anspruchsvoll zu thematisieren und aufzuzeigen, wie
hoffnungslos verloren wir in einer Welt ohne soziale Bezüge
wären.
Torsten Seewitz, 13.09.2006
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