Als
kleiner Junge hat sich Philippe immer einen älteren
Bruder gewünscht, einen der, ganz im Gegenteil zu
seiner schmächtigen Gestalt, kräftig ist, schöner und
erfolgreich. Viele Jahre mussten Philippes
Spielgefährten ihm dieses Märchen glauben, so sehr
phantasierte er sich seinen großen Beschützer herbei.
Ein unbestimmtes Gefühl verriet ihm, dass es diesen
Bruder wirklich gab. Oder war der kleine Hund aus
abgewetztem Plüsch mit den schwarzen Augen aus Bakelit,
den er im ehemaligen Dienstmädchenzimmer entdeckte, nur
das verstaubte Spielzeug aus den Kindertagen seiner
Eltern?
Niemand aus seiner Familie sprach mit ihm über die
Vergangenheit. Regelmäßig erkundigte man sich nach der
Herkunft des Familiennamens Grimbert, dessen Geheimnis
in zwei ausgetauschten
Buchstaben steckte. Mutmaßungen dieser Art wurden vom
Vater jedoch mit einer Handbewegung beiseite gewischt.
So lebte Philippe mit einer ihm unbekannten
Familiengeschichte, die ihre Rätsel hinter mehrfach
verschlossenen Türen vor ihm verborgen hielt. Bis zu
jenem Tag, als eine enge Freundin seiner Eltern, Louise,
mit ihm über dieses jahrelang behütete Geheimnis zu
sprechen begann.
Der
Verdacht mit dem Namen bestätigte sich, denn die Eltern
hießen früher Grinberg und waren Juden. Sie konnten
rechtzeitig aus dem von den Deutschen besetzten Paris
aufs Land fliehen und überlebten so die Zeit des
Krieges. Doch dies war nur die halbe Wahrheit, denn
Philippes Eltern haben erst nach dem Krieg geheiratet.
Behutsam erzählt Lousie dem Fünfzehnjährigen die
ganze Geschichte, eine Geschichte, voller Tragik, in der
es sogar den immer gewünschten Bruder gegeben
hat. Simon war sein Name und alle in der Familie kannten
und liebten ihn.
Aufgeschrieben hat dies der französische
Psychoanalytiker und Erzähler Philippe Grimbert, der
mit diesem Buch seiner in Auschwitz umgekommenen Familie
ein Denkmal setzt. Schicht für Schicht trägt er den
Schutt der Vergangenheit ab, um eine nur scheinbar
vergessene Welt zu entdecken. Eine Welt voll von Schmerz
und Leid, in der das Unfassbare zum Alltag gehörte und
auch die Familie Grimbert nicht verschonte.
Man kann es nicht anders als einen Verdienst des Autors
nennen, dass
diese Geschichte nicht dem Vergessen anheim fiel. Ein
Buch als Grab für den Bruder, wie Grimbert im letzten
Satz vermerkt, welches nach der bewegenden Lektüre noch
lang im Gedächtnis seiner Leser nachhallt. Torsten
Seewitz, 16.04.2006 |