Um
es vorweg zu nehmen, Maria Rybakova hat mit "Die Reise der Anna Grom"
eine bewegende und interessante Geschichte geschrieben, die vor allem
durch die ungewöhnliche Erzählperspektive besticht.
Anna Grom, eine junge Russin, hat sich das Leben genommen. Sie hatte
sich ihr Leben anders vorgestellt als sie nach Berlin übersiedelte, um
hier ihr Glück zu finden. Was sie im Leben nicht erzählen konnte, holt
sie jetzt in Form von Briefen an den Geliebten nach. Dies sind keine
gewöhnlichen Briefe, denn sie werden von Anna aus dem Jenseits
geschrieben. Ihr bleiben vierzig Tage, bevor die Seele ihren Körper
endgültig verlassen wird. Vierzig Tage, an denen sie ihrem Geliebten ihre
unglückliche
Lebensgeschichte erzählt, die vor allem von der Suche nach Liebe und
Geborgenheit bestimmt wird. Sie erzählt von ihrer Jugend in Moskau, ihren
ersten Versuchen, in Berlin Fuß zu fassen, um letztendlich doch nur
betrogen zu werden. Anna berichtet von ihren zahlreichen erotischen
Abenteuern, die sie von einer Enttäuschung zur nächsten stürzen lassen.
Und sie erzählt von ihrer unerwiderten Liebe zu Ulrich Wilamowitz, einem
Kommilitonen. An ihn sind die Briefe gerichtet, ihm beichtet sie ihre
große Zuneigung, die von ihm mehr aus der Sicht einer platonischen
Liebe betrachtet wurde.
Annas Briefe offenbaren in schonungsloser Offenheit die Innenwelt einer
unglücklichen Frau, die der Kälte der modernen Gesellschaft romantische
Vorstellungen von Liebe und Glück entgegen zu setzten versucht. Erst
durch den Tod erlöst, kann sie schwerelos zwischen den Zeit und Raum
umher wandeln, ohne an Grenzen der Realität zu stoßen. Traumwelten
werden im Zwischenreich von Leben und Tod zur Wirklichkeit, endlich kann
sie ihrem Geliebten Wilamowitz nahe sein.
Maria Rybakova, Enkelin von Anatoli
Rybakow, hat ein Experiment gewagt und es ist ihr gelungen. Zwar merkt
man einigen Passagen ihre Schwierigkeit an, die Erzählperspektive
einzuhalten, doch wirkt sich diese kleine Schwäche nicht negativ auf das
Gesamtbild des Romans aus. Im Gegenteil, fordern doch ihre teils tiefsinnigen
Sentenzen über Leben und Sterben eines Menschen den Leser heraus,
über das verdrängte Thema Tod nachzudenken. Allein die Vorstellung,
jemand Verstorbenes könnte uns aus dem Jenseits Briefe schreiben, in
denen er sich selbst erklärt, ließe manchen von uns sicherlich
erschaudern. Doch liegt in dieser Illusion die Möglichkeit, den Tod als
nicht Absolutes, Endgültiges anzusehen, sondern immer auch als ein
Stück Hoffnung auf Versöhnung. ©Torsten Seewitz, 28.12.2001 |