Nach dem großen
Erfolg von "Der Vorleser" veröffentlichte Bernhard
Schlink vor zwei Jahren einen Band mit Geschichten. Sein Titel
"Liebesfluchten" steht hierbei exemplarisch für die
verschiedenen Spielarten der Liebe, die Flucht vor oder Sehnsucht
nach ihr, die verborgene oder die entdeckte Liebe. So variantenreich
wie im wirklichen Alltag erleben die Helden seiner Geschichten, wie
schicksalbestimmend oder glücksbringend die Segnungen der Liebe
sein können.
Schlinks
Gabe ist die Fähigkeit genau zu beobachten und einen Blick hinter
die Fassade zu erhaschen. Er beschreibt seine Figuren überaus
nuanciert und sensibel. Wie mit einem Skalpell legt er ihre tiefsten
Empfindungen bloß, ohne jedoch zu verletzen.
Zu den eindrucksvollsten Geschichten gehört aus meiner Sicht
"Der Andere", in der Schlink die Geschichte eines Witwers
erzählt, der durch Zufall einen an seine verstorbene Frau
adressierten Brief öffnet. Erst hielt er es für einen Irrtum, dass
ein anderer, fremder Mann mit Namen Rolf seiner, wie er bislang
meinte, treuen Frau einen sehnsuchtsvollen Liebesbrief schreiben
konnte. Nach langem Zögern entschließt er sich, dem Absender
mitzuteilen, dass seine geliebte Lisa verstorben sei. Doch darauf
hoffend, dass die Angelegenheit damit erledigt sei, erreichte
ihn wenige Tage später ein Antwortschreiben, in welchem besagter Rolf, die
Todesnachricht als Unwahrheit deutete.
Durch diese erneute im leidenschaftlichen Ton verfasste Antwort
aufmerksam geworden, begann der Witwer den Nachlass seiner Frau zu
sortieren und stieß dabei auf weitere Briefe, die den Schluss
zuließen, zwischen diesem Rolf und seiner Frau ist mehr gewesen als
nur eine Bekanntschaft. Er beschließt, dem fremden Mann einen weiteren
Brief zu schreiben, doch unterzeichnete er ihn dieses Mal mit Lisa,
dem Namen seiner Frau...
Den Ausgang der Geschichte erwartet man sicherlich als grandiosen
ausgeklügelten Rachefeldzug des gekränkten Witwers. Doch Schlinks
Geschichten funktionieren anders.
Ob er von Andi erzählt, der sich aus Liebe zu seiner jüdischen
Freundin Sarah beschneiden lässt und ihre Zuneigung trotz dieser Tat
doch nur oberflächlich bleibt, oder vom Ehepaar, dessen Beziehung
am Ende steht und das mit einer gemeinsamen Reise in die USA einen
Neuanfang wagen will und letztendlich scheitert, in allem Geschichten spürt man das
Zulaufen des Erzählstrangs auf einen finalen Punkt, der dem
Erzählten eine unerwartet Wendung gibt. Dennoch berichtet
Schlink nicht sensationslüstern aufgeheizt, sondern mit leisen,
unspektakulären Tönen, und gerade dieses zurückhaltende Erzählen
macht den Reiz der Geschichten aus.
Wie bereits mit "Der Vorleser" beweist Bernhard Schlink
mit den "Liebesfluchten" seine Gabe, das scheinbar
Komplizierten zwischenmenschlicher Beziehungen entlarvend und
zugleich spannend in Worte zu hüllen. © Torsten Seewitz, 26.03.2002
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