Anfangs
war ich irritiert. Der flapsige Plauderton, in dem
Kempowski die Massenflucht aus Ostpreußen beschreibt,
erschien mir unangemessen. Schließlich wurden bis zum
Kriegsende 1945 über 600.000 Menschen gezählt, die auf
der Flucht vor den sowjetischen Truppen erfroren oder
verhungerten, erschlagen, erhängt oder erschossen
wurden. Der Leser erfährt sehr wenig über die Gefühle
der Protagonisten, die stellvertretend für die Vielen
stehen. Und so ist es nicht immer leicht, sich in sie
einzufühlen. Kempowski charakterisiert bzw. typisiert
seine (Anti-)Helden mit knappen Worten und vielen
Fragezeichen - den Symbolen für Unsicherheit. Er
benutzt seine Figuren gewissermaßen, um ein Stück
deutscher Geschichte erlebbar zu machen. Und das ist ihm
auf ungewöhnliche Art hervorragend gelungen.
Ort des Geschehens ist Mitkau, eine kleine Stadt in
Ostpreußen, wo im eiskalten Januar 1945 die Bewohner
eines Gutshofs nicht begreifen können oder wollen, dass
Hitler ihnen statt
des versprochenen Endsiegs Vertreibung und Tod beschert
hat. Sie beherbergen vorbeiziehende Flüchtlinge, die
Farbe und Abwechslung in den tristen, ungewissen
Alltag bringen und tauschen mit ihnen Gerüchte und
Vermutungen, Floskeln und (heute indiskutable)
Gesinnungen aus. Gepackte Koffer und Kisten stehen
bereit, doch ein Aufbruch ohne offizielle Genehmigung
ist verboten und würde als Beweis gewertet, der
Wehrmacht zu misstrauen. Man will nicht in
Schwierigkeiten geraten… Obwohl die Ostfront mit
Kanonendonner und Feuerschein immer näher rückt, sagt
Onkel Josef am Telefon, „es seien in der Nacht wieder
eine Reihe von Panzern vorüber gekommen, Waffen-SS, er
denke, die werden`s schon richten. So dumm sei Hitler
nicht, dass er die Russen ins Land lässt. Der lasse sie
vielleicht ein Stückchen hinein, aber dann ziehe er den
Sack zu."
Die Diskrepanz zwischen Sein und Bewusstsein der
ideologisch gefangenen Menschen macht für eine
„Nachgeborene“ wie mich die Spannung des Buches aus.
Das Nicht-wahr-haben-wollen von Tod und Verderben ist
aber auch eine psychologische Schutzfunktion, die Überlebenskräfte
freisetzt. Und aufs Überleben kommt es schließlich an
im endlosen Flüchtlingstreck gen Westen, der en detail
„durch die Brille“ der Protagonisten veranschaulicht
wird. Der Leser folgt den Figuren und ihren Schicksalen
– etwas distanziert und doch mitgerissen. Er fühlt
sich aufgrund seines historischen Überblick-Wissens den
handelnden Personen überlegen und sich ihnen
gleichzeitig verbunden: wir alle, jeder Einzelne – ein
Körnchen im Treibsand der Historie. Erika
Pillardy, 8. Februar 2007
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