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Gerald Ganglbauer Austria steirischer herbst 2014

 

Habe ich den Sommer übersehen? Beginnt der steirische herbst neuerdings schon direkt nach dem Frühling, wo ich mir doch eben erst eine Saisonkarte für den Schwarzlsee gekauft habe? Oder fahren die Busse mit dem Stempelaufdruck 26/09-19/10/2014 heuer schon früher?
Weder noch, der Kalender bestätigt es: gleich beginnt der Herbst!
In diesem Jahr unter dem Motto:

“Ich möchte lieber nicht ... teilen!”

steirischer herbst 2014

Der „herbst“ ist eröffnet

Eröffnungsparty in der Helmut List-Halle
Opening | Foto © Gerald Ganglbauer

If Art Is My Lover Then Who the Fuck Are You? | Needcompany

Die legendäre Needcompany, ein Künstlerkollektiv unter der Leitung von Jan Lauwers und Grace Ellen Barkey, hat sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neu erfunden und in den letzten 25 Jahren mit grenzüberschreitenden Performances auch die Theaterwelt entscheidend verändert und bereichert. Für dieses dem Experiment verpflichteten Lebenswerk wurde Jan Lauwers heuer mit dem Goldenen Löwen in der Theatersektion der Biennale in Venedig ausgezeichnet.

Needcompany | Fotos © Gerald Ganglbauer
Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II
Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II

In All Tomorrow’s Parties I + II bleibt die Needcompany nicht nur ihrem Wagemut treu, sondern treibt auch ihr Spiel der Grenzüberschreitung weiter und betritt wieder einmal neues Terrain. Schauspiel, Tanz, Musik, Text, Bühnenbildkunst und nicht zuletzt jede Menge an Videomaterial verwenden sie in einer eigens für den steirischen herbst entwickelten und auf die Stadt Graz zugeschnittenen Produktion – in einem lustvollen Umherschweifen, in einem über Stunden hinweg zelebrierten Happening, in dem die Grenzen zwischen Kunst und Unterhaltung verschwimmen. Auch um so auf die Bedrohung durch eine beständig mahlende Unterhaltungsmaschinerie, durch die immerwährende Party aufmerksam zu machen (aus dem Programmheft).

Leider fiel mir meine Kamera schon nach wenigen Minuten des im Gedränge über Köpfe hinweg fotografieren aus der Hand und ging dabei kaputt. Da musste das Handy herhalten, das jedoch nicht annähernd so gute Fotos macht. Daher nur ein paar kleine Bilder, die aber zumindest einen optischen Eindruck dessen vermitteln, was über die Bühne ging. Nach der Pause war dann auch noch das Handy ohne Strom. Dafür widmete ich dem Geschehen mehr Aufmerksamkeit und lief sogar einigen alten Bekannten aus der Kulturszene über den Weg.

Needcompany | Fotos © Gerald Ganglbauer
Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II Needcompany - All Tomorrow's Parties I + II
steirischer herbst eröffnung mit needcompany

Ein Volk, das sich selbst in einer Party verliert, hört auf zu existieren. Das sagt die Needcompany. Doch gleichzeitig gilt es auch zu feiern, was uns noch verbindet, was wir Menschen teilen und was wir noch nicht verloren haben. Ein Abend, der den Zusammenprall von Widersprüchen kraftvoll zelebriert. Eine Festivaleröffnung als Drahtseilakt ohne Netz, ein in jedem Wortsinn singuläres Ereignis. Sagt das Progammheft.

Nun ja, früher wusste man nie, was man von diesem schon seit 1968 bestehenden Avantgardefestival zu erwarten hatte, aber auch der steirische herbst hat sich immer wieder neu erfunden, ist seit 2006 unter Leitung der aus Dresden stammenden Intendantin Veronica Kaup-Hasler heute ein Festival neuer Kunst und liegt damit genau im Trend. Ich habe mich weit länger als beabsichtigt in der Helmut List-Halle aufgehalten, den reichlich dargebotenen Mitternachtssnacks zugesprochen und sogar bis ein Uhr getanzt – was für mich sehr beachtlich ist, da dieser Zeitraum im Normalfall in meine Tiefschlafphase fällt.

Ursprung, am 27. September 2014

 

Premiere | Maria Hassabi

Gespräch mit Maria Hassabi
Talk mit Maria Hassabi (Mitte) | Foto © Gerald Ganglbauer

Eine Performance im grell erleuchteten und heissen Dom im Berg, die Verlangsamung als Kunstform zelebriert, in einem Stück, das auf den ersten Blick für Parkinson-Betroffene mit Bradykinese choreografiert zu sein scheint. Im Gespräch danach war sich überraschenderweise keiner der Darsteller bewusst, dass es diese Symptome tatsächlich gibt, worauf ich mit Bedacht aufmerksam machte. Für das unbedarfte Publikum waren diese 60 Minuten Zeitlupe eine interessante Darbietung, für mich als Betroffener ein Hinweis, dass ich mich mit fortschreitender Behinderung immer mehr zum Performance Artist entwickeln würde. Sozusagen.

Ursprung, am 28. September 2014

 

Nein, ich will! Eine Hochzeit für alle | Die Transmissionare

Nein, ich will!
Nein, ich will! | Foto © Wolfgang Silveri

Was für in großartiges Stück aus der Feder der aus Bad Radkersburg stammenden Natascha Gangl, das eine kleine privilegierte “Hochzeitsgesellschaft” hier miterleben durfte! Was für ein unterhaltsamer und gleichzeitig nachdenklich stimmender Abend! Wie schade, dass es nur drei (längst ausverkaufte) Aufführungen gibt, denn dieses Stück sollte als Lehrstück behandelt werden, als Pflichtübung für jedes Liebespaar, das den riskanten Schritt in den Hafen der Ehe in Erwägung zieht.

Nein, ich will!
Nein, ich will! | Foto © Gerald Ganglbauer

Ich muss vorausschicken, dass ich mit diesem Stück eine sehr persönliche Erinnerung verbinde, da ich genau an jenem Spielort (dem Heimatsaal im Volkskundemuseum) vor nicht allzulanger Zeit selbst an der Hochzeit eines Jugendfreundes teilgenommen hatte. Auch damals in geselliger Runde kam es zwischendurch einmal zu einem Wechselbad der Gefühle – this is the end of fiction – die Realität machte dann sofort Schluss mit der Romantik, denn im wirklichen Leben kommt es schnell zur Eifersucht, selbst wenn einem durch lieben und geliebt werden das Versprechen eines monogamen Lebens als höchstes Ziel erscheint.

Nein, ich will!
Nein, ich will! | Foto © Gerald Ganglbauer

Daher war es ein déjà vu als wir wie alte Freunde des Brautpaares begrüßt wurden, uns mit einem Glas Wein unter die anderen Gäste mischten und untereinander Gespräche führten, bis wir einzeln von den Akteuren an unsere Plätze an der Hochzeitstafel geführt wurden und uns plötzlich mitten im Geschehen fanden. Die Grenzen zwischen Schauspielern und Publikum verwischten, wir fühlten mit den Brautleuten, die wiederum selbst immer wieder Rollen tauschten, von Mann zu Frau, und Frau zu Mann wurden, wir wurden befragt und belehrt, gestreichelt und verspottet, zelebrierten und analysierten die altbekannten Rituale, feierten und beklatschten aber das schliesslich einander als ménage à trois gegebene Ja-Wort. Und nach lange anhaltendem Applaus tanzten wir auch noch zur Musik der Hochzeitsband Boalous.

“Nein, ich will!” wurde unter der Regie von Kathrin Mayr tatsächlich eine sehr intelligente “Hochzeit für alle” mit überzeugender Performance der deutsch-österreichischen Transmissionare (Musik von Sergio Vásquez Carrillo aus Bogotá) und für mich ein Höhepunkt des diesjährigen steirischen herbstes.

Ursprung, am 2. Oktober 2014

 

Maybe the way you made love 20 years ago is the answer? | Christine Gaigg

Nein, ich will!
Christine Gaigg | Foto © Wolfgang Silveri

Während die Wiener Choreografin, Regisseurin und Autorin Christine Gaigg aus einem roten Tagebuch teils fiktive, teils reale Notizen und Korrespondenz rund um das Thema Sex und seinen gesellschaftlichen Statuswandel in den jüngsten Dekaden vorliest, geht er hinter ihrem Rücken live über die Bühne: Drei junge Menschen, 2nd nature, geilen sich gegenseitig auf, reissen einander die Kleider vom Leib, schlecken und ficken, was das Zeug hergibt. Nun ja, fast. Denn ein echter Porno geht auf einem ab 16 Jahren freigegebenen Spielort selbst im steirischen herbst nicht. Gestöhne am Mikrofon und ästhetisch dargestellte Lust sollte vielleicht vom Text ablenken, tat es aber gar nicht, denn kaum jemanden kann heutzutage ein Geschlechtsakt noch schockieren, Nacktheit per se erregt niemand, und voyeuristische Sexangebote gibt es ohnedies in ausreichender Zahl. In den drei ausverkauften Performances der Uraufführung des Stückes kam es nur in der ersten zu zwei empörten Abgängen aus dem Publikum, einige Lacher in der zweiten und aufmerksames Schweigen in der dritten Aufführung, der ich beiwohnte. Weit und breit kein Skandal, wie dazumal.

Im Text plädiert Gaigg für eine Renaissance des guten alten Liebeslebens wie wir es noch vor 20, 30, 40 Jahren hatten: Love, peace, and freedom war damals die Hippie-Devise und jeder Tag ohne Sex war vergeudete Zeit. Damals durfte man noch ein Objekt der Begierde sein, heute wäre jede (auch niveauvolle) Anmache sofort sexuelle Belästigung. Und ich musste ihr recht geben: in ihrer (und meiner) Generation stand Sex an erster Stelle unserer Interessen, wir taten es hingebungsvoll und redeten wenig darüber. Heute hingegen – mit YouPorn am Internet und Sex sells in der Werbung – sind viele schlichtweg “oversexed and underfucked”.

Nein, ich will!
Talk Christine Gaigg | Foto © Gerald Ganglbauer

Einen interessanten Einblick in das Liebesleben der heutigen Generation bescherte der anschliessende Talk. Als ich in einer Wortmeldung feststellte, dass meine Beobachtungen zeigen, dass die Sexualität der jungen Generation in einen neuen prüden Konservativismus eintaucht, sich falsche Scham wieder breit mache und fast alle Aspekte der sexuellen Befreiung, für die wir gekämpft hatten, verloren gegangen waren. Man sieht kaum mehr junge Leute am Nacktstrand oder in der Sauna, erst recht nicht zuhause, wo oft die Eltern nackt sind, die Kinder aber nicht. Und wenn sie ausgehen, wäre Komasaufen und/oder Abtanzen bis in die Morgenstunden und danach mit dem Taxi allein heimfahren weit attraktiver, als abends einen “Aufriss” zu machen, den man mit der letzten Strassenbahn mit nachhause nimmt. Diese Kenntnisse haben heutzutage nur mehr die Mitte 40- bis 5o-jährigen, die es aber verabsäumten, sie den Kindern weiterzugeben.

Worauf sich sofort eine 25-jährige zu Wort meldet und energisch widerspricht. Das würde ich völlig falsch sehen, denn sie und ihre Freundinnen hätten da so eine App am Handy, wo sie ihre Wünsche für einen (one-night-stand) Sexpartner rund um die Uhr in Echtzeit, verortet und mit allen geforderten Parametern eingeben können und irgendeiner würde sich da immer finden der sie fickt. Ähem, ist Sex nur rein-raus-abspritzen? Wo bleibt der Flirt, Augenkontakt, Berührungen, die komplexe Chemie von Begehren, Lust und Leidenschaft? Keine App der Welt kann das, damit assoziiere ich sofort die Schlüsselszene in “Nymphomaniac”, dem Film von Lars van Trier, wo sich die junge Protagonistin gefühllos und mechanisch entjungfern lässt. Diese Generation hat noch viel zu lernen. Zumindest habe ich nun eine ungefähre Vorstellung davon was sie da tun, wenn sie, jeder für sich, in Gruppen zusammenstehen und immer irgendetwas auf ihren Smartphones suchen. Sicher nicht nur What's App.

Nein, ich will!
2nd nature | Foto © Wolfgang Silveri

Christine Gaigg teilt ihre Erfahrung und dafür ist ihr jedenfalls zu danken, auch, dass sie Sex als intellektuell nur schwer fassbare Thematik durch eine sinnliche Performance ins Scheinwerferlicht rückt. Mit zunehmender Entfernung von der Sinnlichkeit käme eine Kälte in die Welt, die einem harmonischen Zusammenleben gar nicht gut täte. Ich bin überzeugt, dass ich viel mehr Mensch (und Mann) sein aus meiner dreistelligen Vergangenheit gelernt habe, als jemand, der heutzutage erst seine Sexualität entwickelt. Ich schätze mich glücklich, in den 70er Jahren in sexueller Freiheit aufgewachsen zu sein.

Kudos auch für den Mut der Darsteller von 2nd nature.

Ursprung, am 8. Oktober 2014

 

... und mehr Theater/Performance/Tanz | steirischer herbst

manger (essen)

Man hätte jeden Abend im dichten Programm des steirischen herbst ausgehen können, aber das wäre selbst einem gesunden Exemplar meiner Spezies zu viel gewesen. Das generelle Fotografierverbot für die Presse (die Kamera ging zwar bei der Eröffnung kaputt, aber ich bin mit jeglicher Einschränkung der Pressefreiheit nicht glücklich) hatte mich auch nicht 100% motiviert, alles mit fremden Augen (selektierten Pressefotos) zu sehen und kommentieren zu müssen. Der Besuch der vier folgenden szenischen Produktionen hat mich für diese Saison jedenfalls ausgelastet: Life and Times, Straight White Man, manger und Elektra.

Life and Times, Straight White Man | Fotos © Wolfgang Silveri
Life and Times Straight White Men

Thematisch waren manche Inhalte weit weg vom eigentlichen Motto "Ich möchte lieber nicht ... teilen!" und hätten durchaus auch ausserhalb des Festivals bequem in der steirischen Kulturlandschaft ihren Platz gefunden. Einige Produktionen waren Fortsetzungen früherer Zusammenarbeit, wie das durchgedrehte Trivialepos Life and Times des Nature Theater of Oklahoma, mit Episode 4.5 (einem witzigen aber zu langen animierten Film), Episode 5 (die musste man 45 Minuten lang bei musikalischer Untermalung in einem eigens gedruckten Buch mit der ausgehändigten Leselampe selbst lesen und sich dazu sorgsam gezeichnete pornografische Darstellungen mit Außerirdischen ansehen) und Episode 6 (einem unterhaltsamen, gut dargestelltem aber auch viel zu langem Bühnenspiel) im Mumuth.

Ebenso aus den USA war auch hervorragendes traditionelles Theater zu erleben, das gesellschaftskritische Drama Straight White Men von Young Jean Lee im Orpheum.

In manger (essen) des französischen Choreografen und Tänzers Boris Charmatz wurde in der Helmut-List-Halle in allen erdenklichen Lagen “Nahrung” (stilisiert als Blätter aus Papier) aufgenommen: hineingewürgt, gekaut, geschluckt. Im horizontalen Ausdruckstanz wurde so gut wie alles angebissen: sein eigenes Fleisch, das des nächsten, ja sogar der dreckige Boden wurde geleckt, bis die 14 Tänzer sich wanden, zuckten und kotzten, ohne sich von ihrer angestammten Position weg zu bewegen. Nicht ganz nach meinem Gaumen, aber vielleicht ein gehaltvolles Lehrstück für Anorexie.

Die Uraufführung von Elektra von der amerikanischen Performancekünstlerin Ann Liv Young im Dom im Berg war meine letzte Vorstellung im steirischen herbst 2014. Und da war es wieder, das Thema. Nein, nicht “Teilen”, sondern “Sex”. Was das Publikum schmunzelnd (99%) bis schockiert (1%) miterlebte, könnte man vielleicht auf ein “Singspiel mit einem Schwanz, drei Muschis und Schweinchen” reduzieren. Aber das macht weder Sinn für jene, die den Stoff aus der griechischen Mythologie von ihrer humanistischen Gymnasialzeit kennen, noch für jene, die sich Mühe gaben der Performance zu folgen und John Travolta und die Traveling Wilburys irgendwie einzuordnen. Und die weder-noch-Männer hatten einfach ein breites Grinsen im Gesicht und ergötzten sich an gespreizten Muschis und prallen Hintern, während die weder-noch-Frauen sich nichts anmerken ließen. Wenn nacktes Fleisch und Blut so freizügig serviert wird, wen interessiert dann noch Sophokles? Die Buhrufe einer Religionslehrerin gingen jedenfalls im Applaus unter. Für die Tierfreunde sei noch erwähnt, dass das Schweinchen dabei nicht zu Schaden kam.

manger, Elektra | Fotos © Wolfgang Silveri
manger (essen) Elektra

Die (vorläufige) Bilanz des Festivals

527 Veranstaltungen gab es an 24 Festivaltagen. Mehr als 50.000 Besucherinnen und Besucher zählte das Festival, nicht zugerechnet sind dabei die Projekte, die im öffentlichen und medialen Raum stattgefunden haben. Die Veranstalter freuen sich auch über eine sehr hohe Auslastung von über 90% bei den szenischen Produktionen und Konzerten. Über 1000 Künstler, Theoretiker und sonstige Teilnehmer aus insgesamt 45 Nationen waren involviert.

Der steirische herbst 2015 findet von 25/09 – 18/10/2015 statt.

 

Ursprung, am 18. Oktober 2014

 

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