VERKOMMEN
Ein alter Mann
saß vor seiner Höhle, die mit Goldstücken
vollgefüllt war und sich in einem abgelegenen Gebiet befand.
Hie und da kam ein Fremder vorbei, der ihn fragte, was er in
seiner Höhle habe. Das Prozedere war in jedem Fall das
Gleiche: Der alte Mann ging mit dem Blechkübel, der mit
Wasser zum Durstlöschen gefüllt war und den er immer
neben sich stehn hatte, wenn er nach draußen vor die
Höhle in die Sonne trat, hinein ins Innere. Drinnen leerte er
das restliche Wasser aus dem Kübel und füllte es nicht
mit dem Gold, sondern mit Sand vom Boden. Damit kam er heraus und
zeigt es dem Fremden: "Sieh, das ist es, was ich in meiner
Höhle habe." Den Fremden hielt dann nichts mehr und er ging
weiter seines Weges. Der alte Mann hatte hauptsächlich
folgende Gründe, warum er sich so verhielt und das
Kostbarste, das er besaß, den Anderen vorenthielt:
Er hatte Angst,
- dass der Fremde ihn
erschlüge und ihm den Schatz raubte, sobald er nur ein
winziges Körnchen zeigte.
- dass ihn der Fremde zwar in
Ruhe ließe und ging, er es aber überall
weitererzähle, wodurch dann viele Fremde kämen und ihn
erschlügen.
- dass der Fremde ihn zwar am
Leben ließe, ihm aber den Schatz wegnehme, dann ginge und er
mitansehen mußte wie sein Gold durch fremde Hände
gereicht wurde.
- dass der Fremde ein Armer
wäre, für den er sich dann verpflichtet fühlen
müsse, ihm einen Teil seines Schatzes abzugeben. Er
könnte möglicherweise wiederkehren bis nichts mehr vom
ursprünglichen Reichtum übrig wäre. Außerdem
könnte er es wiederum überall weitererzählen,
wodurch er dann bald eine Horde von Bettlern um sich hätte,
die das Gold noch schneller verzehrten.
- dass dem Fremden der Schatz
nichts bedeute, er ihn kaltließe und ihn dadurch entwerte.
Von solchen Fremden gab es zweierlei: zum einen solche, denen zwar
das Gold nichts bedeutete, ihm aber etwas Anderes entgegenhielten,
etwa Blechmünzen, zum anderen solche, die dem ihnen
nichtssagenden Gold nichts entgegenhielten und so den alten Mann
im Unklaren ließen, was für sie wert habe, auf ein
imaginäres Etwas hinweisend.
- dass der Fremde sich zwar
als Freund erwies, und mit ihm etwa schöne
Kleidungsstücke oder verzierte Töpferwaren tauschte,
doch dass sich der Ort unweigerlich herumsprechen und all die
vorherigen Möglichkeiten über den Umweg des freundlichen
Fremden wieder eintreffen würden.
- dass er irgendwann nur mehr
Kleider und sonstige Waren in seiner Höhle haben könnte,
seinen Schatz also vollständig eingetauscht zu haben.
- dass der freundliche
Fremde, wenn er auch alles für sich behielt, vor ihm sterben
könnte und so ihre fruchtbringende Tauschbeziehung abrupt ein
Ende finden täte. Er wäre dann womöglich von den
Kleidern schon so abhängig geworden, dass er keinen
ruhigen Schlaf mehr fände. Er könnte in den Wahnsinn
getrieben werden und sich vor lauter Entzugserscheinungen
töten.
- dass der Fremde nach
anfänglichem Interesse nach einigen Wochen oder Monaten
einfach nicht mehr wiederkäme. Oder wenn er wiederkäme,
ihm sagen würde, er habe keinen Gefallen mehr an dem Gold.
Besonders ängstigte ihn, wenn er dann auch noch sagen
würde, er habe von Anfang an falsch daran getan, sich an die
Goldmünzen zu halten und er hätte sich besser nach einer
Blech – oder Kupferhöhle umgesehen.
Das war in der
Tat für den alten Mann das Schlimmste: wenn plötzlich
alle, mit denen er in einer Beziehung über den Schatz
stünde, übereinkämen, dass Gold nichts wert
sei.
RETTUNG
Phobos bewohnt
eine abgedunkelte Kellerwohnung, in der man sich nur mit Hilfe von
elektrischem Licht oder – sofern man Raucher ist – Feuerzeug
orientieren kann. Die Fenster sind hinter zehn Vorhängen
verborgen, mit hundert Nägeln vernietet und tausend Mauern
umstellt. Die Nahrungsmittelversorgung erfolgt durch eigens
abgerichtete Maulwürfe, die so die jahrtausendlange Tradition
der helfenden Hunde ablösen.
Hie und da
gelingt es einem von ihnen – man mag ihn je nach dem wie man es
sieht entweder einen Tolpatschigen oder Gesegneten heißen –
das zu vollbringen, was die Schildbürger vergeblich unentwegt
versuchten – nämlich Licht in Kübeln in einen
fensterlosen Turm zu schütten – hie und da also bleibt an
einem augenlosen Maulwurf ein Lichtfetzen von draußen an
seinem Fell hängen und erstrahlt für einen kurzen
Augenblick Phobos Wohnung derartig, dass dieser sein für
den Fall der Fälle gelagertes Dynamit hervorholt, um
Vorhänge, Nieten und Ziegelsteine fortzujagen und unter den
blauen Himmel einzutreten.
DER
SPRUCH
Es war eine
Krise in Jaroslavs und Marjas Liebesbeziehung eingetreten. Je
länger sie dauerte, umso mehr wurde es Jaroslav bewußt,
dass er der Verursacher war und andererseits, wie die einzige
Lösung nur aussehen konnte. Er selbst trug das Knoten
zerschlagende Schwert bei sich, hatte es immer schon an sich
gehabt, übersah es aber aufgrund seiner andauernden
Präsenz. Es war so einfach, wie es einfacher nicht hätte
sein können, wie es nur Kinder begreifen und wie es in
Märchen zuhauf erzählt wird; etwa im Schneewittchen, das
tot im Glassarg liegt und vom Prinzen durch einen Kuß zum
Leben erweckt wird: Der Prinz erweckt seine Angebetete durch
seinen bloßen Kuß, der Schneewittchen bedeutet, es sei
Zeit des Aufwachens, Wiederlebens und Fortgangs; der Prinz habe
sie abgeholt, sie als die eine auserwählt, mit der er seinen
Sattel teilen möchte. Ähnlich wie der Engel Maria
erschien, ihr sagte "Fürchte Dich nicht" und die heilsvolle
Geburt Jesu verkündete, ihr also zu verstehen gab: "Es ist
Zeit, Du bist auserwählt, fürchte Dich nicht ob Deines
Loses, alles ist geregelt, für Alles gesorgt, hab Vertrauen
und nimm an". Maria und Schneewittchen werden erwählt und
nehmen an, sie lassen geschehen und verändern sich, sind
nicht mehr dieselben, die vorher waren. Vor allem aber vertrauen
sie ihrem jeweiligen Erwecker, geben sich ihm hin, glauben an
Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit seiner Absichten und halten sie
nicht für Spieler, denen es bloße Genugtuung bereitet
Menschen in ihren Händen zu benützen, zu beobachten, zu
analysieren, zu testen – im allgemeinen also unreife Menschen, die
noch nicht wissen, woran sie sich im Leben halten mögen und
denen leidergottes auch manche Marias und Schneewittchens auf den
Leim gehen –.
Die Macht des
Prinzen oder des Engels sind aber keine Mächte, die nur in
Märchen oder Bibelerzählungen ihre Wirkung haben, es ist
dies sogar völlig ausgeschlossen, denn wie hätte der
Mensch solche Geschichten erfunden, wenn er nicht die Wirklichkeit
der dargestellten Kräfte an sich selbst erfahren hätte.
Alle Erzählungen handeln nur vom Menschen, so irreal sie auch
erscheinen mögen, so fern von hiesigen Gegenden in jenseitige
Feenwälder versetzt.
So hat auch
unser Jaroslav die Macht des Prinzen und des Engels in sich. Er
muß sie nur aktivieren, den Zauberspruch laut sagen und es
wird sich erfüllen. Er muß nur seiner geliebten Marja,
die im Zweifel ob seiner Liebe zu ihr ist, sich also bildhaft
gesprochen im toten Zustand Schneewittchens befindet, er muß
nur die sieben Worte in ihrer Gegenwart, in ihr Angesicht
aussprechen: "Ich will, dass Du mich ganz liebst!" Er deutet
ihr damit an, selbst bereits einen Türflügel vom
für sie beide bestimmten hellen vielbelusterten Raum
geöffnet zu haben und nun nur mehr auf sie zu warten bis sie
den Anderen öffne und sie beide einschreiten können. All
ihre Zweifel ob Jaroslavs Liebesfähigkeit werden ob eines
solch gewaltigen magierähnlichen Spruches wie von einem
heftigen Sturm weggeweht sein!