Von seinem Zimmer bis
zur Bäckerei sind es zu
Fuß zehn Minuten. Wenn es regnet, macht das Brotholen mehr
Spaß. Dann nimmt Helmut einen großen Plastikbeutel mit
und verstaut das Brot darin. In seinem Zimmer, an seinem Tisch
wickelt er das Brot aus und ißt es. Zuvor streicht er Butter
drauf, manchmal Marmelade, manchmal Käse, manchmal Wurst, und
so ißt er es. Das Brot schmeckt nicht mehr wie es vor
dreißig Jahren geschmeckt hat. Vor dreißig Jahren ist
Helmut weggegangen von hier. Jetzt genießt er es, wenn es
regnet auf dem Weg in die Bäckerei und zurück, und es
regnet hier fast täglich. In Wagga-Wagga, wo er die letzten
dreißig Jahre gelebt hat, hats fast nie geregnet. In
Wagga-Wagga in Australien habe ich gelebt in einem schönen
Haus, sagt Helmut Frau Bohle, der Vermieterin. In Wagga-Wagga in
Australien haben sie nicht erlaubt, dass ich mein Haus
verkaufe und das Geld mitnehme zurück in meine Heimat. Das
Haus hätt ich verkaufen können, das Geld hätt ich
aber in Wagga-Wagga in Australien lassen müssen, so sagt
Helmut es Frau Bohle. Frau Bohle nickt und sagt: Daheim hat man es
doch am besten, und etwas zittert in ihr nach, so als ob sie einen
Kieselstein auf ein Holzstück legte und nicht
wüßte, ob er noch auf die eine oder auf die andere
Seite kippt. Überhaupt ist es aber mit dem Daheimsein so,
dass man es erst richtig zu schätzen weiß, wenn
man fort ist, sagt Frau Bohle philosophisch. Aber lassen wirs gut
sein, sonst kommen wir noch ins Grübeln, setzt sie hinzu.
Kann es sein, dass auch die Vermieterin Frau Bohle eine
bewegte Geschichte hat?
Im Nebenzimmer wohnt Achmed von der Baustelle. Achmed
verläßt sein Zimmer wenns noch dunkel ist und arbeitet
den ganzen Tag bei Hilti und kommt heim wenns dunkel ist. Dann
dreht Achmed das Radio auf und hört. Am Samstag hört
Helmut Achmed durch die Wand singen. Und er beschließt,
Achmed zu besuchen.
Zwei Flaschen Bier sind noch im Kühlschrank, die nimmt Helmut
und verläßt sein Zimmer und geht zwei Schritt und
klopft an Achmeds Tür. Achmed hört auf zu singen und
öffnet die Tür. Achmed steht unter der offenen Tür
und er lächelt, dass seine Zähne blitzen.
Höflich bittet er Helmut einzutreten.
Achmed geht in die hintere Zimmerecke und will das Radio
ausschalten, aber Helmut winkt ab, sagt, er mag das Radio. Achmed
sieht Helmut an, seine Zähne blitzen wieder. Helmut reicht
Achmed eine Flasche Bier – jetzt erst kommt ihm der Gedanke,
dass Achmed Moslem sein könnte und deshalb kein Bier
trinken darf –, aber Achmed holt den Flaschenöffner und es
zischen die Bierdeckel.
Sie stoßen mit den Flaschen an und trinken. Achmed weist auf
einen alten Ohrensessel, aus dem er eine Hose und einen Pullover
herausfischt, und Helmut setzt sich. Achmed nimmt auf dem
weißlackierten Gartenstuhl Platz.
Helmut vergleicht die Einrichtung in Achmeds Zimmer mit der in
seinem Zimmer. An Stelle von Achmeds Ohrensessel steht bei Helmut
ein altes Sofa mit abgewetztem Überzug. Der Gartenstuhl ist
der gleiche. Kochstelle und Abwasch sind gleich. Auch das
Klappbett, in dem Achmed schläft ist das gleiche wie das, in
dem Helmut schläft.
Helmut und Achmed verstehen sich. Achmed arbeitet seit drei Jahren
auf dem Bau. In seiner Heimat, in Tunesien, gibt es keine Arbeit
für ihn. Er ist froh, dass er hier in Österreich
leben und auf dem Bau arbeiten darf. Jeden Monat schickt er Geld
nach Hause. Helmut ist auch fremd hier. Er hat seine Kindheit und
Jugend hier verbracht, aber nach dreißig Jahren in der
Fremde ist man überall ein Fremder. Er erzählt Achmed
von seinem Haus in Wagga-Wagga in Australien und dass er es
nicht verkaufen und das Geld nicht hat mitnehmen können.
Und was hast du jetzt vor, fragt Achmed. Willst du hier bleiben,
obwohl dein Haus in Australien steht? Achmed weiß, wovon er
spricht, denn mit dem Herzen ist er bei seiner Familie in
Tunesien. Achmed ist sozusagen nur als Arbeitskraft hier in
Österreich anwesend. Am Samstagabend aber macht sich Achmed
fein und geht als vollständiger Körper und Mensch ins
Sutterlüty zum Tanz.
Helmut, du brauchst eine Frau, sagt Achmed. Im Sutterlüty
bleibt keiner allein. Außer du willst unbedingt allein
bleiben. Und Achmed zwinkert Helmut mit einem Auge zu.
Heute ist Samstag. Achmed macht sich bald fein. Und Helmut ist
schon überredet. Dreißig Jahre Wagga-Wagga in
Australien schützen nicht vor einem Besuch im
Sutterlüty.
Ein paar Stunden später stehen Helmut und Achmed in ihrem
besten Hemd vor dem Sutterlüty. Achmed streicht noch einmal
seine Haare zurecht, dann gehen sie die Treppe hinauf.
Die Musikkappelle spielt eine Polka. Auf der Tanzfläche
drehen sich drei Paare. An den Tischen sitzen weit mehr Damen als
Herren. Einige tragen Dirndl.
Helmut und Achmed setzen sich und bestellen erst einmal Bier. Die
Kellnerin beugt sich soweit vor, dass Helmut die Vorarlberger
Berge und die zwischen den Bergen liegenden Talschaften plastisch
vor sich sieht. Achmed lächelt und stößt Helmut
an. Sutterlüty ist o.k., sagt er und zwinkert mit einem Auge
Helmut zu.
Helmut und Achmed werden von einem der Nebentische herüber
gemustert, sie spüren die Blicke. Einer stattlichen Frau im
Dirndl scheint Helmut besonders gut zu gefallen, sie nimmt kein
Auge von ihm. Achmed zwinkert ihm lange zu, deutet mit dem Kopf in
ihre Richtung.
Ich helfe dir, sagt Achmed, und er geht und fordert die Freundin
der Frau mit dem Dirndl zum Tanzen auf. Achmed dreht sich mit ihr
an Helmut vorbei, schlenkert mit den Hüften nach Art seiner
Heimattänze und sagt: Sutterlüty ist o.k., und er
strahlt übers ganze Gesicht.
Jetzt ist es Zeit für Helmut. Die Blicke der Frau am anderen
Tisch werden immer dringlicher. Er geht zu ihr rüber,
grüßt mit einem Kopfnicken und bietet ihr seinen Arm
an. Er tut es nach Art der alten Kavaliere. Hat er das in
Wagga-Wagga gelernt? Die Frau im Dirndl fließt in seinen
Arm. Sie tanzen eine Polka, und Helmut kann führen, dass
Edith – ja, so heißt sie – glaubt, sie wäre leicht wie
eine Feder.
Helmut und Edith tanzen Polka, sie tanzen Rumba, sie tanzen
Walzer. Dann sitzen sie und trinken Bier. Ja, Edith ist nicht eine
von denen, die nichts vertragen. Sie trinkt ihr Bier fast wie ein
Mann.
Sie sagt, sie habe Helmut noch nie im Sutterlüty gesehen, ob
er zum erstenmal hier sei? Helmut bejaht es. Und woher er denn
komme, sie könne seinen Akzent nicht einordnen.
Helmut erzählt von Wagga-Wagga in Australien und seinem Haus,
das er dort zurückgelassen hat. Edith horcht auf, sie hat
gleich gewußt, dass es mit diesem Mann etwas Besonderes
auf sich hat. Helmut kann von den lauen Nächten in
Wagga-Wagga erzählen, dass Edith warm wird. Und was er
selbst Erlebtes erzählt aus dem outback von Australien, das
macht ihr noch mehr Hitze.
Edith hat noch nie daran gedacht Abenteurerin zu werden. Aber
bewundert hat sie die, die einfach aufbrechen und irgendwohin
gehen können schon. So ganz ohne Sicherheit und ohne Netz
durchs Leben gehen, der Gedanke daran jagt ihr noch immer Schauer
über den Rücken. Mit zwanzig, ja, da kann man leicht
weggehen von daheim. Für Edith ist sowas nie in Frage
gekommen. Es war ja alles schon geplant und eingerichtet. Ihre
Eltern haben mit ihr gerechnet, und sie hat dann auch das kleine
Lebensmittelgeschäft übernommen. Dass dann die
Supermärkte draußen am Stadtrand gekommen sind und das
Geschäft kaputtgemacht haben, das ist eine andere Sache. Der
Lebensmittel-Sutterlüty unterm Tanzlokal hat auch sein Teil
dazu beigetragen. Jetzt lebt Edith allein im Haus der Eltern. Sie
hat es sich schön gemacht, sie hat Freude am Garten. Es gibt
jeden Tag viel zu tun. Sie hat ein offenes Haus, oft kommen
befreundete Paare zu Besuch. Samstags geht sie meist zum
Sutterlüty.
Achmed verläßt sein Zimmer wenns noch dunkel ist und
arbeitet den ganzen Tag bei Hilti und kommt heim wenns dunkel ist.
Helmut wohnt nicht mehr in seinem Zimmer. Helmut ist zu Edith
gezogen. Unter der Bedingung, dass er sein eigenes Zimmer
hat. Edith hat die Bedingung angenommen. Jetzt wohnt Helmut in
einem schönen Haus mit Garten in der Messestadt in Vorarlberg
und er hat noch ein Haus in Wagga-Wagga in Australien. Aber er
redet immer seltener von seinem Haus in Australien. Zu Achmed sagt
Helmut, ein Mann muß sich eine Tür offen halten. Achmed
weiß, wovon Helmut spricht. Schließlich arbeitet nur
sein Körper bei Hilti. Sein Herz ist in Tunesien.