1
So, da bin ich also. Um unseren
Pakt einzulösen, den wir geschlossen haben. Eine
Krankenschwester hat mich angerufen und mir gesagt, dass du
mich von nun an zu sehen wünschst.
Fast hätte ich dich nicht
erkannt. Dein Gesicht ist alt geworden, deine Augen tief und schon
fast tot. Nein, schau mich nicht so an: ich bin nicht gekommen, um
dir etwas vorzulügen. Das war niemals abgemacht. Einfach nur
zu kommen, das haben wir vereinbart – nicht mehr, kein Wort mehr
als die nötigsten, keine Gefühle: das vor allem. Denn es
gibt nichts mehr zu sagen. Wovon sollten wir reden, wir haben uns
so lange Jahre nicht gesehen. Ich habe mein eigenes Leben, das
mußt du doch verstehen. Genauso, wie du damals dein eigenes
Leben geführt hast und nicht wolltest, dass wir daran
auch nur den geringsten Anteil nehmen. Keine Fragen, keine
Erklärungen – damals wie heute. Aber was interessiert mich
diese Vergangenheit? Sie ist tot. Für heute werde ich gehen,
das reicht. Du weißt nun, dass ich kommen werde. Nein,
tu deine Hand weg, ich werde kommen, weil es unser Pakt ist. Ich
werde meinen Teil erfüllen, weil du den deinen auch
erfüllt hast. Bis morgen.
2
Ich habe dir doch gesagt,
dass ich kommen werde. Auch wenn ich den Geruch von
Krankenhäusern hasse und den Anblick all dieser Apparate, an
denen du hängst. Auch wenn du mir schon lange nichts mehr
bedeutest. Aber du selbst hast dich in mir getötet, das lag
nicht an mir. Man wird trübsinnig, wenn man dich sieht, dein
jammervolles Gesicht, dein Selbstmitleid. Selbst wenn du den Blick
abwendest, so wie jetzt, spürt man es, man kann sich ihm
nicht entziehen. Jemanden zu besuchen, das bedeutet doch einfach:
bei ihm zu sitzen. Wozu rede ich? Vielleicht, weil du schweigen
mußt, einmal und zum einzigen Mal in deinem Leben schweigen.
Vielleicht, weil ich mir so oft gewünscht habe, dass du
mir zuhörst. Ist dir eigentlich bewußt gewesen,
dass du mir nie zugehört hast? Ich meine: richtig
zugehört? Selbst wenn ich dir etwas erzählt habe, hast
du währenddessen immer nur auf deine eigene Stimme
gehört. Mein ganzes Leben lang hast du mir nicht ein einziges
Mal zugehört, nicht einmal, als ich es bitter nötig
gehabt hätte, nicht einmal, als ich es mir so sehr
gewünscht habe, dass es schon weh tat. Doch wozu spreche
ich heute davon... du mußt schweigen, aber das bedeutet noch
lange nicht, dass du mir auch zuhörst.
Der Weg hierher ist lang. Er
führt durch eine seltsame Allee von Bäumen, die ich
nicht kenne, deren Schattenspiel auf dem Kies mir aber
gefällt. Ich weiß nicht, wie diese Allee heißt,
aber ich gebe ihr den Namen deines Todes. Dein Erschrecken ist
überflüssig: auch ich werde sterben, und auch mein Tod
wird einen Namen tragen, den ich selbst nicht mehr kennen werde.
Wie alles stirbt... Selbst der Vogel, der dort vor dem Fenster
singt, weil Frühling ist – er kann nicht anders als singen
und sterben, unter Blütenschnee oder mitten im Sommer. Aber
er weiß nicht um seinen Tod. Vielleicht könnten wir
leichter singen, wenn der Tod uns fremd wäre.
Du hast hier ein gutes Zimmer, in
das die Nachmittagssonne fällt, die weicher ist als die harte
Sonne des frühen Morgens. Meine Wohnung? Ja, sie ist
schön – schön für mich, ich glaube nicht, dass
sie dir gefallen könnte. Im Frühling ist sie
erfüllt vom Duft naher Spiraeen und dem Rauschen eines
blühenden Lindenbaumes. Aber sie ist für mich
schön, weil es meine Wohnung ist, meine allein. Nichts davon
kam je in Berührung mit dir, nichts wird je mit dir zu tun
haben. Es gibt nichts, was an dich erinnern könnte, keine
Fotos, keine Briefe, keines deiner Geschenke – nichts. Als ob es
dich nie gegeben hätte.
Die Sonne wird rot, ich muß
gehen. Ja, natürlich werde ich wiederkommen.
3
Als ich heute kurz vor meinem
Besuch bei dir durch den Park mit seinen riesigen
Kastanienbäumen ging, sah ich einen jungen Vater mit seinem
Kind, das kaum noch laufen konnte. Er fing es immer auf,
ermunterte es zum Weiterlaufen, half ihm. Ich weiß nicht,
warum mich solche Bilder noch immer berühren, noch immer eine
Sehnsucht in mir hervorrufen. Daß es auch bei mir so gewesen
sein möge. Aber wir beide, du und ich, wissen genau,
dass es völlig undenkbar gewesen wäre... Du und
ich, vereint, vertraut, ein Fühlen, ein Freuen, ein
gemeinsames Erkunden der Welt, als wäre es unsere, als
wären wir die ersten, die es zusammen taten. Ein Vater und
sein Kind. Eine bunt schillernde Seifenblase, auf der man sich
durch die Welt treiben läßt. Nicht einer stärker
als der andere, sondern ein behutsames Herantasten an die Seele
des anderen. Auch ein Kind hat eine Seele, auch wenn du es nicht
wahrhaben wolltest, ist in sich schon ein ganzer Mensch. Ein
ganzer Mensch, hörst du. Nicht ein Klumpen feuchter Ton. Ich
habe immer nur kämpfen müssen gegen dich, niemals konnte
ich mich an dich anlehnen und mir sagen: er nimmt mich so, wie ich
bin. Er mag mich so, wie ich bin. Nichts davon, nur Kampf, nur ein
Nicht-zuviel-Preisgebn, weil du es hättest gegen mich
verwenden können. Ich habe mich oft danach gesehnt, dass
du einfach die Hand gewesen wärst, die ein Kind auf den
schweren Wegen ergreifen kann, um die Wärme in ihr zu
spüren. Die Liebe. Aber alles, was dich interessierte, war
das Echo deiner eigenen Stimme, deiner Gedanken und Gefühle.
Wenn du mir zuzuhören vorgabst, hörtest du in
Wirklichkeit in dich hinein.
Du hast mir immer vorgeworfen,
nichts von mir zu wissen, nichts von meinem Leben. Aber es hat
dich einfach nie interessiert. Wenn ich dich heute fragen
würde: was waren meine liebsten Fächer in der Schule,
welche die, die ich nicht leiden konnte? was hat mir in meiner
Kindheit und Jugend viel bedeutet, und welche Ereignisse sind
spurlos an mir vorübergezogen? – so wüßtest du
selbst auf diese einfachen Fragen keine Antwort, weil diese Dinge
dich nicht interessiert haben. Nichts anderes war ich für
dich in all den Jahren als ein ganz normaler Schüler, dessen
Individualismus dich genausowenig interessierte wie der aller
deiner Schüler. Vielleicht hattest du das Gefühl, nichts
von mir zu wissen, weil mir die Dinge, die du hören wolltest,
mindestens genauso gleichgültig waren wie dir jene, die mir
etwas bedeuteten und noch heute bedeuten. Noten, Ehrungen, Titel,
was auch immer an leerem Tand – das wolltest du: ein
funktionierendes Kind im Sinne der von dir nie angezweifelten
Werte einer für mich so zweifelhaften bürgerlichen
Gesellschaft. Die Kämpfe, die ich ausgefochten habe, galten
nichts, nichts mein Schmerz, meine Freude, mein Leben.
Stets warst du auf der Seite der
anderen, es war für dich undenkbar, dass ich recht haben
sollte. Darauf angesprochen, leugnetest du. Außerdem sei das
eine Erziehungsmaßnahme. Eine wunderbare Maßnahme, das
muß ich sagen: seinem eigenen Kind kein Vertrauen zu
schenken, ihm nicht zuzuhören, es niemals ernst zu nehmen.
Das war der Weg, wie du mein Vertrauen verloren hast. Welchen
Grund hätte es für mich geben sollen, mit irgendeinem
Problem der Welt zu dir zu kommen, wo ich doch bereits im voraus
wußte, dass du nicht einmal mit halbem Ohr zuhören
würdest, dass du dich dann gegen mich entscheiden
würdest, ganz egal, ob ich im Recht war oder nicht.
Nein, es wäre eine Lüge,
würde ich sagen, es hätte mir nicht weh getan. Es hat
mich tief getroffen, immer wieder, auch dann noch, als ich
längst wußte, dass ich von dir keine Hilfe zu
erwarten hatte, keine Unterstützung. Aber das ist lange
vorbei, und ich habe viele Menschen getroffen, die mir geholfen
haben, die auf meiner Seite waren, die dachten, dass ich es
wert sei. Vielleicht war es auch das oft: dass du mir das
Gefühl vermittelt hast, dass ich deiner Hilfe nicht wert
sei, dass ich ganz allgemein nichts wert sei. Das war sehr
lange allzu tief in mir verwurzelt, und vermutlich werde ich auch
dieses Geschenk von dir lange nicht loswerden.
Wessen Hilfe es war, die mich
geleitete? Das tut hier nichts zur Sache.
Es ist Abend, ich muß
gehen.
4
Ich kann sie nicht mehr
hören: nicht die Blumen, die weinen, und nicht jene, die
schreien. Nichts ist mir geblieben als der große Lärm
der Welt, dieser unerträglich große Lärm, den die
Menschen verursachen, weil sie nicht verstehen zu leben, nicht
verstehen, das Leben um sich zu begreifen. Sie zerstören nur
und machen dabei so unbändigen Lärm, dass ich es
nie ertragen habe, jeden Tag weniger.
Noch heute zeigen sich nur Spott
und Verachtung in deinen Augen, wenn ich von solchen Dingen
spreche. Und ich frage mich, wie ein Mensch so alt werden kann wie
du und dennoch nichts vom Leben begreift. Aber du hast nie etwas
anderes gehört als deinen eigenen Lärm. Du warst stets
eine große Kugel aus Lärm, die durch die Gegend rollte
und nicht einmal begriff, dass sie nur gerollt wurde. Du hast
es nie verstanden, die Kugel zu zerbrechen und zu sehen und zu
begreifen und endlich ein Mensch zu sein. Ich weiß ja nicht
einmal, ob ich selbst es konnte, aber ich habe es wenigstens mein
Leben lang verzweifelt versucht...
Manchmal wünschte ich mir so
sehnlich, dich in deiner großen Kugel aus Lärm und
Selbstgefälligkeit zu erreichen, aber ich habe es nie
geschafft. Als ich zwölf oder dreizehn war, habe ich es
schließlch aufgegeben. Und du – du hast es nicht einmal
bemerkt.
Was wußtest du schon von
Wintersonnen und Schneekristallen auf bloßer Haut? Was von
den Frühlingsstürmen und dem Geruch
naßglänzender Baumrinden? Und wie es ist, wenn man
plötzlich trotzdem lebt? Nichts. Ich möchte es dir ins
Gesicht schreien, aber ich kann es nicht mehr. Es bestürzt
mich, dass ich mit den Jahren die Kraft dazu verloren oder
die Gleichgültigkeit gewonnen habe.
Ich habe mich oft gefragt: wie
kann man davon reden? Wie kann man überhaupt jemals zu
jemandem davon sprechen? Ich erinnere mich zu gut an die hilflosen
und desinteressierten Gesichter meiner Bekannten. Zu gut an das
salbungsvolle Mitleid einiger allzu Religiöser. Aber das ist
es ja – immer erinnert man sich. Doch erinnern darf man sich
nicht, um keinen Preis. Man muß lernen zu vergessen. Streit
und Gebrüll aus anderen Räumen, denen man hinter leicht
geöffneten Türen lauschte. Der Schlaf, der nicht kommt,
und die Tränen unter der Decke und schließlich doch
irgendwo der Schlaf. Acht Jahre war ich damals alt und weiß
bis heute nicht, wie ich es überstanden habe. Dieses Kind,
das ich damals war, ist mir heute so fremd, und oft berührt
es mich beinahe unangenehm, dass ich es war. Ich lebte in so
vielen Welten – und die, welche du die reale nanntest und der dein
einziges flüchtiges Interesse galt, war mir die
allerunwichtigste, allerfernste, allerfremdeste. Ich lebte in
Welten, von denen du niemals auch nur etwas ahntest... und wenn,
so wären sie dir gleichgültig gewesen. Was wußtest
du schon davon, dass die Flügel der Seele den Horizont
streifen können in den grün-schwarzen Momenten der
Dämmerung?
Vorwürfe? Ach nein. Sie
würden nichts ändern an all diesen alten Dingen. All die
Wunden, die du mir geschlagen hast, haben mir doch auch in
gewisser Weise geholfen, so ganz anders zu werden als du. Meinen
eigenen Weg zu finden fernab der ausgetretenen Wege. Später?
Was interessiert dich heute, was später war in meinem Leben,
in all den Jahren, in denen wir nichts voneinander hörten?
Ja, du hast immer gesagt, ich würde mich noch wundern und
mich anpassen müssen.Ich habe es nicht getan. Irgendwann habe
ich begriffen, dass ich mein Leben lang würde
kämpfen müssen für die Art zu leben, die ich
gewählt habe. Aber all das hatte schon längst nichts
mehr mit dir zu tun.
Es ist Abend, ich muß
gehen.
5
Man hat dir gesagt, dass du
in wenigen Tagen oder gar Stunden sterben wirst, nicht wahr? Man
hat es auch mir gesagt. Aber was geht mich das noch an? Dein
Guthaben ist verbraucht, unser Pakt erfüllt. Als ich in
meiner Jugend einmal dringend Geld brauchte und nicht wußte,
wann und ob ich es dir zurückzahlen könnte, hast du mir
etwas Geld gegeben und gesagt, ich sei dir dafür zu fünf
Besuchen verpflichtet zu einem Zeitpunkt, den du bestimmst. Nun
war ich fünf Mal hier. Es gibt nichts mehr, was uns
verbindet. Nichts mehr. Mit keinem Geld der Welt könntest du
mich halten: du hast noch immer nicht verstanden... Nun ist es zu
spät. Viel zu spät. Ich gehe, und die Zeit, die dir
bleibt, solltest du vielleicht zum Nachdenken
nützen...
Aber was soll's: das Ergebnis
wäre kein anderes als immer zuvor. Ich kann und will weder
richten noch verzeihen noch sonst irgendetwas. Ich bin gekommen,
weil es unser Pakt war. Das ist alles. Und ich werde in mein Leben
zurückkehren und es vielleicht schaffen, dich so im
Gedächtnis zu behalten, wie du warst, als ich ein kleines
Kind war. So, wie du vielleicht im tiefsten Inneren dein Leben
lang warst, unter dem Stacheldraht und hinter der Mauer mit
Glassplittern und unter all der Gehässigkeit und der
Eitelkeit und der Lüge und dem Geiz. Ich habe dich besser
gekannt als je ein anderer Mensch, weil ich dir so ähnlich
war, weil ich einmal deine Tochter war, vor sehr langer Zeit. Ich
habe dir längst nicht alles gesagt, was ich dir einst sagen,
dir an den Kopf werfen wollte. Wozu auch? Schau es dir an, das
weiche Licht des Abends, das Streifen auf den Boden malt.
Vielleicht ist das Leben nicht mehr als das Muster des Lichts auf
Wänden und Böden und unseren Seelen. Wer vermag das
schon zu sagen? Nein, auch du nicht, lüg' dir doch wenigstens
dieses eine Mal nichts mehr vor. Ich gehe jetzt. Leb wohl.