Déjà
vu
Das Taxi hupte schon zum zweiten
Mal. Ausgerechnet heute war mein Wagen in der Werkstatt und ich
wie immer zu spät. Verzweifelt bearbeitete ich ein frisches
Hemd am Bügeltisch, gleichzeitig waren meine Gedanken im
Kleiderschrank und selektierten eine passende Krawatte. Je
öfter ich über den feinen Stoff bügelte, umso
zügelloser schienen sich die Falten darauf zu
vermehren.
Die Signation zur
Nachrichtensendung tuschte aus dem Radiogerät. Punkt Acht.
Ich hatte nur noch dreißig Minuten. Das würde ich nie
mehr schaffen, war ich mir sicher und griff postwendend in den
Wäschekorb, holte ein T-Shirt heraus und streifte einfach
meine gute alte Jacke über. Die Jeans behielt ich an. Den
Kaffee ließ ich stehen, eine Banane nahm ich mit.
Wozu so schick gekleidet sein,
belächelte ich mich selbst, schließlich ging ich nicht
zu einem Rendezvous sondern zum Scheidungsrichter.
Sonja hatte sich ja immer mit
leidenschaftlicher Akribie um mein Erscheinungsbild
gekümmert. Sie hätte mich in diesem Aufzug gerade auf
den Fußballplatz gehen lassen oder in eines meiner
Stammlokale. Vielleicht wollte ich sie heute regelrecht
verärgern, wahrscheinlich aber war ich einfach zu bequem oder
eben nur ungeschickt. Sonja würde jedenfalls kaum über
meine saloppe Kleidung überrascht sein; ich sah schon jetzt
ihr wissendes Lächeln, wenn sie mich erblickte. Sie
würde dabei den Kopf schütteln und sagen wollen:
Typisch.
So war sie. Schulmeisterisch.
Genau. Perfekt. Nicht wie ich. Ein Luftikus. Ein Träumer. Ein
Chaot. Wir passten wohl wirklich nicht zu einander.
Ich lebte nun seit zwei Monaten
von meiner Frau getrennt, und in einer knappen halben Stunde
sollte eine hundertmonatige Ehe geschieden werden. Wir hatten
schon im Vorfeld alles geklärt und erwarteten keine
nennenswerten Diskrepanzen. Einzig die Formalitäten fehlten
noch. Endgültig. Aus. Maus. Meine Maus.
Ich gebe zu, bei der Wahl des
Kosenamens für Sonja nicht gerade den Vogel abgeschossen zu
haben, und diese Einfalt entsprach in keiner Weise meiner
ansonsten fantasiereichen Eigenart, oft aber sind es gerade die
ungekünstelten und banalen Worte, die einer Beschreibung am
treffendsten dienen. Außerdem hatte der Umstand unseres
ersten Aufeinandertreffens dazu beigetragen, warum sie stets meine
Maus war. Der Gedanke an diese Geschichte war in diesem Moment
zwar nicht angebracht, trotzdem hatte er unvermittelt und auf eine
geheimnisvolle Art und Weise Besitz von mir ergriffen. Je
intensiver ich mich daran erinnerte umso widerstandsloser begann
ich ihn weiter zu spinnen. Bilder tauchten auf, Geräusche.
Düfte. Stimmen. Tief aus meinem Innersten wuchs ein bizarrer
Wunsch. Ich wagte nicht daran zu denken.
Endlich verließ ich meine
Wohnung, die Tür fiel sanfter ins Schloss als sonst, und ich
huschte das Stiegenhaus hinunter. Unterwegs schälte ich
schlampig meine Banane und biss einige Male hastig zu, als ich vom
Hauseingang her Schreie vernahm. Gekreische. Eine hysterische
Frauenstimme vibrierte an der Metalltür zum Müllraum.
Alsbald flog die schwere Tür wie von Titanen gestoßen
auf, und die Klinke knallte mit einer Wucht gegen die Mauer, dass
an dieser Stelle nicht nur der Putz sondern sogar ein Stück
vom Ziegel ausbrach. Wie vom Blitz getroffen erstarrte ich. Im
selben Augenblick haftete ein Frauenkörper an mir, warm, zart
und gut einen Kopf kleiner als ich. Die Unbekannte atmete schnell,
und ihr rasendes Herz trommelte an meinen Torso wie ein
ekstatischer Rave-Beat. Dabei drückte sie mich immer fester
an sich. Sie zitterte am ganzen Leib. Meine Hände hielten das
Häufchen Elend vorsichtig am Rücken und begannen bald
beruhigend nach oben und nach unten und im Kreis zu streichen. Als
sich die Unbekannte langsam gefasst hatte, hob sie ihr Haupt und
blickte mich an. Sie ließ nicht von mir los sondern schlug
unschuldig zwei- dreimal mit den Augenlidern auf und ab. Ihre
Mundwinkel spitzten sich zu einem feinen Lächeln, und in
ihren Augen funkelte ein sonderbares Licht, das mir vertraut war.
Der glänzende Schimmer zog mich hinab in eine tiefe
Sehnsucht. Für einen Sekundenbruchteil war ich in die
Ewigkeit eingetaucht.
Die Maus! Jetzt fügten sich
die Einstellungen zu einer Szene zusammen, die mir wohlbekannt
war. Aus dem Müllraum flitzte ein Mäuschen, vorbei an
uns und entwischte durch die geöffnete Kellertür. Die
Frau in meinen Armen aber nahm überhaupt keine Notiz mehr von
dem grauen Nagetier. Sie schluckte einmal verlegen und
öffnete vorsichtig den Mund, als wollte sie etwas sagen. Wohl
ahnte ich, was jetzt kommen würde, und ich erwartete sogar
diese Worte, eine kurze Frage, die ich vor fast zehn Jahren zum
ersten Mal in einer frappierend ähnlichen Situation erlebt
hatte. Auch damals passierte es genau an dieser Stelle, am selben
Ort, vor dem Müllraum.
Als ich zum ersten Mal in meinem
Leben Sonja gesehen hatte.
"Hab' ich Sie erschreckt?"
Ihre Stimme war der akustische
Inbegriff von Weiblichkeit. Ich kannte sie von Radioansagen,
hörte sie aus dem Fernseher und in Kinos, ja sogar aus den
Flughafenlautsprechern tönte dieser Stereotyp weiblicher
Phonetik, sie sprach durch den Telefonhörer, und zuweilen
hauchte sie auch aus meinem Computer. Trotzdem war sie mir
völlig unbekannt.
Ich nahm meine Hände von der
jungen Dame und stammelte: "Entschuldigen Sie vielmals." Na klar
war ich erschrocken. Aber nicht vor einer kleinen, harmlosen
Maus.
Sie lachte laut, und beinahe
lachte sie mich aus. Dann ließ auch sie von ihrer
Umklammerung los.
"Ich hätte sie fast
umgerannt! Und das wegen einer dämlichen Maus " einem
winzigen Mäuschen! Ich fasse es nicht!"
Während sie redete schlug sie
erneut mit den Augenlidern auf und ab. Ihre losen Hände
machten anmutige Bewegungen in der Luft von ihrem Oberkörper
hinauf zum Kopf und strichen dann durch die kurzen Wellen ihres
kaffeebraunen Haares. Sie war wunderschön.
"Ich bitte Sie." stammelte ich.
"Es ist doch nichts passiert."
Ich merkte förmlich, wie mir
heißes Blut ins Gesicht stieg. Gott, stell ich mich
blöd an, schoss es mir durch den hochroten Kopf.
"Sind Sie neu eingezogen?" fuhr
ich im selben Atemzug fort.
Das klang schon besser! Sag schon
ja, sag: Ja!
"Noch nicht wirklich. Ich bin
gerade dabei. Top 18. Aber der erste Eindruck " ich weiß
nicht."
"Ich kann Ihnen versichern, das
war die erste Maus, die ich in diesem Haus gesehen habe! Top 18?
Das ist genau über mir!"
Also gut. Ich konnte nichts
für meine einfallslose Kommunikation. Nicht jetzt. Nicht in
diesem Augenblick der tausend Explosionen, in diesem magischen
Moment, der mich langsam vom Boden abheben ließ. In meinem
Kopf knisterten sprühende Wunderkerzen, deren Funkenschlag
mein Herz entzündete und dort Detonationen auslöste,
eine heftiger als die andere, so dass mein ganzer Körper
drohte in Flammen aufzugehen. So stellte ich mir einen
Raketenstart vor – ich in der Abschussrampe. Ich spürte
förmlich, wie sich zwischen den Flurkacheln und meinen
Schuhen ein Höhenunterschied von mindestens einem Zentimeter
aufbaute. Was sage ich da " es mussten mittlerweile Meilen sein.
Welten.
Ich schwebte.
Verdammt.
Ich hatte mich verliebt.
Sie lachte zu mir hinauf und hielt
dabei die Augen geschlossen. Ich konnte es nicht glauben, aber
ihre Lider waren von kleinen Rosenblüten bedeckt.
Rote.
Sonja. Es war wie damals. In jedem
einzelnen Detail.
Sie sagte, sie müsse weiter,
habe es eilig, aber wir würden uns bestimmt wieder sehen.
Schließlich seien wir ja quasi Nachbarn. Ich sagte, ich habe
es auch eilig, ein wichtiger Termin, aber wahrscheinlich sei ich
ohnehin schon zu spät. Draußen auf der Straße
startete ein Wagen. Das auch noch. Ich erinnerte mich
plötzlich an das dritte Hupen des Taxis. Okay. Länger
hätte ich wohl auch nicht gewartet.
"Das kann wirklich nur mir
passieren." jammerte ich und atmete tief durch.
"Tut mir leid."
Ja, ja. Geh' nur. Ich nickte ihr
zu und zwang mich zu einer freundlichen Mimik.
"Wir sehen uns." winkte sie ab und
verschwand im Stiegenhaus. Zurück blieb der Duft von dezentem
Männerparfum. Ich wusste, dass immer mehr Frauen heutzutage
solche Odeurs wählten und zerbrach mir meinen ohnehin
dösenden Kopf nicht weiter darüber. Im übrigen
benutzte ich die Marke selbst gelegentlich.
Ich stand vor der geschlossenen
Tür zum Müllraum, und in meiner rechten Hand hielt ich
noch den Rest meiner Banane. Bevor ich nun hinaus gehen und mir
ein neues Taxi rufen wollte, hatte ich vor, den Obstabfall zu
entsorgen. Außerdem hing diese geheimnisvolle Stimme nach
wie vor in meinen Ohren. Ich öffnete also und griff nach dem
Lichtschalter. Klick-klack. Es blieb dunkel. Kein Wunder. Den
Müllcontainer fand ich trotzdem problemlos, schob den
schweren Deckel zurück, und genau in diesem Augenblick gingen
sämtliche Lautsprecher meines Lebens an, und die zu
Schallwellen gewordene Weiblichkeit vibrierte an meinem
Trommelfell.
"Das gehört in den
Biomüll."
Nein. Das war nicht denkbar. Das
durfte nicht wahr sein. War sie tatsächlich gekommen? Hatte
ich ihre Rückkehr tatsächlich gespürt? Liebte sich
mich wirklich noch?
In Erahnung des Unmöglichen
drehte ich mich langsam um, hin zum Licht, das vom Flur durch die
Müllraumtür fiel und zuckte zusammen. Ein rosiges Bukett
kroch meine Nasenhöhlen empor und erfüllte bald den
ganzen Raum.
"Hab' ich dich erschreckt?"
Und wie sie mich erschreckt hatte!
Sonja stand vor mir, und ich wusste nicht, wie mir geschah. Dann
begann ich zu lachen. Herzhaft. Verrückt. Sie lachte
mit.
"Du? Hier?" Mir standen die
Tränen in den Augen. "Ich meine, dass ich noch hier bin, ist
ja nicht weiter verwunderlich." Ich beruhigte mich. "Aber was
machst du da?"
"Ich habe noch immer eine Wohnung
hier."
Stimmt. Sie war nie aus Top 18
ausgezogen – zumindest nicht offiziell.
"Kannst du dich erinnern? Diese
Situation?"
"Mh."
Als wäre keine Sekunde seit
unserem ersten Aufeinandertreffen vor knapp zehn Jahren vergangen,
hingen wir aneinander wie Kletten und bedeckten unsere Gesichter
mit hastigen Küssen, bevor wir unseren Lippen freien Lauf
ließen. Inmitten eines Wirbelsturmes der Leidenschaft
unterbrach Sonja urplötzlich.
"Du wolltest hoffentlich nicht in
diesem Outfit zur Scheidung kommen."
So war sie eben. Und dafür
liebte ich sie.
"Scheidung? Da hab' ich wohl
wieder was versäumt!" wollte ich erheitert kontern und
wartete auf ein Lachen, stattdessen stieß Sonja einen
fürchterlich hysterischen Schrei aus. Ach ja! Eine
Maus.
Motherfucker
Der Gymnasiast Emil brütete
über den schier unlösbaren Hausaufgaben, die sein
Mathe-Professor heute Vormittag in einem regelrechten Anfall von
algebraischer Epilepsie an die Tafel gekritzelt hatte. Wie
für die meisten seiner Kommilitonen auch waren diese Aufgaben
an unnahbarer Abstraktion kaum zu überbieten. Nein, mit
derlei Weisheit konnte und wollte sich Emil nicht
auseinandersetzen. Da griff er schon lieber in sein geheimes
Lädchen unter dem Schreibtisch und holte eine Lektüre
hervor, die wesentlich gegenständlicher gestaltet und vor
allem aufregender für einen heranwachsenden Jüngling
war, der gerade begann, mit der Anatomie des anderen Geschlechtes
Bekanntschaft zu machen.
Das bunte Heftchen war zwar schon
durch die halbe Klasse gewandert und über zwei Jahre alt, und
Emil wusste eigentlich gar nicht, wem es denn überhaupt
gehörte, aber der Körper der Frau hatte sich
während dieser Zeit wohl nicht verändert, und mehr
verlangte der Jüngling ja nicht.
Die Haar- und Hautfarben der
Mädchen reichten über die gesamte Palette des weltweit
verfügbaren Angebots und unter Berücksichtigung der
kosmetischen Chirurgie sogar darüber hinaus. Emil hatte da
fürwahr einen Leckerbissen an glattpolierter Pinup-Erotik vor
sich. Je weiter er blätterte, umso stärker machten sich
die doch schon sehr ausgeprägten Attribute seines langsamen
aber unweigerlichen Heranwachsens bemerkbar. Emsig stöberte
er unter seiner Jogginghose, und als er sein zur Zeit liebstes
Spielzeug im richtigen Griff hatte, machte er sich unhaltbar
über die zahl- und variantenreichen Fotos von blanken
Mädchenbrüsten und vielem mehr her.
Das erst vor kurzem neu entdeckte
Gefühl der sexuellen Erregung, welches bislang in seinem
kindlichen Körper geschlummert hatte, bereitete dem Jungen
eine wilde und zügellose Freude, um nicht zu sagen eine
wahrhafte Gier nach diesen geheimnisvollen Tempeln der Lüste,
welche er vorerst nur in all ihrer Blöße auf
Hochglanzpapier vor sich hatte.
Immer tiefer drang er in die
imaginäre Welt der Playmates und Topmodels ein, und bald
schon war er ein Teil derer geworden. Er sah und fühlte sich
zwischen den nackten Schönheiten, umgeben von einem einzigen
Vulkan der Leidenschaft mit seinen zahllosen sprudelnd
heißen Kratern. Da wälzte er sich in völliger
Entrückung in seiner Welt, und es war seine Welt, denn alles
in ihr gehörte nur ihm.
"Ääähmieel!"
Sie allerdings nicht.
Sie gehörte nicht dazu, und
doch stand sie, wie aus dem Boden gestampft plötzlich mitten
in Emils Zimmer.
Der Junge war mit einem Schlag aus
seinen Phantasien gerissen worden, und da kniete er nun mit
verdutzter Miene und heruntergelassener Jogginghose vor seinem
Schreibtisch. Neben ihm stand seine Mutter, die, weiß Gott
warum, den Kanarienkäfig mitgebracht, diesen allerdings vor
lauter Entsetzen wie einen Müllsack fallen gelassen
hatte.
"Emil!"
Die dicke Alte blickte auf das
Heft, das nun wirklich nichts anderes mehr war als ein Heft, keine
Spur von Leben mehr zeigte, nur die Mädchen lachten ihr
gekauft lüstern entgegen. Sie nahm es und schleuderte es
hysterisch krächzend, als hätte sie ein gebrauchtes
Kondom angefasst, durch das Zimmer. Frau Mutter war entsetzt, da
bestand kein Zweifel. Die Schamesröte stand ihr im Gesicht,
als hätte sie zu lange in ihren Kochtopf geguckt, und obwohl
sie im ersten Augenblick nur schlucken und "Emil!", "Emil!"
stammeln konnte, raffte sie sich nun doch zu vollständigen
Sätzen auf, die allerdings wie ein Gewitter auf den
inzwischen in die raue Wirklichkeit zurück geworfenen Jungen
niedergingen.
"WAS BIST DU FÜR EIN SCHWEIN!
NOCH NICHT EINMAL VIERZEHN JAHRE ALT UND SOLCHE SCHWEINEREIEN IM
KOPF! ICH HALTE DAS ALLES NICHT MEHR AUS! DIE DÄMLICHEN
KANARIENVÖGEL VERSTREUEN IHRE FEDERN IN DER KÜCHE. NIMM
DIE VIECHER UND GEH MIT IHNEN ZUR HÖLLE!"
Sie verschwand wild gestikulierend
aus dem Zimmer und rief immer wieder : "Ich halte das alles nicht
mehr aus!"
Emil war verzweifelt. Er blickte
zu den beiden Kanarienvögel, Männchen und Weibchen, die
still und brav, als fühlten sie sich selbst vom Geplärre
der gestörten Frau betroffen, in ihrem umgekippten Käfig
hockten, und beneidete sie. Selbst diese Knirpse konnten
unbeschwert den schönen Dingen des Lebens frönen, nur
jetzt, nach dieser recht unsanften Landung drehten sie ihre
Köpfchen verstört nach oben und unten, nach links und
rechts und konnten sich wohl an ihrem neuen Platz noch nicht so
ganz zurechtfinden.
Wie haben es diese Wichte schon
getrieben!
Emil konnte sich gut vorstellen,
dass die beiden Kanarien eine Menge Federn ließen, wenn sie
so im Liebesrausch durch den Käfig jagten.
Er amüsierte sich
köstlichst dabei, wenn er daran dachte, wie seine frigide
Mutter aus der Haut gefahren sein muss, als die Vögel,
lüstern zwitschernd und krächzend, ihre Federn in der
Küche und im Speiseplan von morgen verstreut hatten.
Also rückte er liebevoll den
Käfig zurecht, putzte den ausgestreuten Sand weg und hockte
sich neben das kleine Liebespaar. Er pfiff animierend durch die
Gitterstäbe, worauf das Männchen sogleich aufmerksam zu
ihm blickte und erst zaghaft, dann aber voller Enthusiasmus seine
Melodien zu erwidern begann. Schon hüpften die beiden
Vögel wieder vergnügt herum, und es schien, als
wäre die Welt wieder in Ordnung.
Der frühreife Bengel setzte
sich also brav an seinen Schreibtisch und suchte in dem
Papierhaufen darauf nach seinem Mathematikbuch. Da spürte er
eine Unebenheit unter seinen Schuhen. Er blickte nach unten und
erkannte das skandalöse Bilderbuch, dessen obszöne
Darstellungen von nackten Frauen in eindeutigen Posen kurz zuvor
seine jungen und ungezügelten Triebe provoziert und seine
Mutter an den Rand des Wahnsinns gehetzt hatten. Er hob das
Heftchen auf, hielt es eine Weile streng und regungslos vor sein
Gesicht und schrie dann aus einer urplötzlichen
Gewalt:
"LECKT MICH DOCH ALLE AM
ARSCH!"
Das bunte Magazin flog abermals
auf den Teppichboden.
Emil aber schnappte nach seiner
Jacke und dem Vogelkäfig, riss die Zimmertür auf und
rannte, vorbei an seinem alten Mütterchen, das fassungslos
und mit offenem Mund auf dem Flur stand, hinaus, die Treppen
hinunter und auf die Straße.
Es war Samstag Abend vor dem
Muttertag und schon dunkel. Die große Stadt lockte mit ihren
bunten Lichtern und den fröhlichen Klängen aus den sich
nach und nach zu füllen beginnenden Kneipen und
Lokalitäten.
Emil folgte wie hypnotisiert den
rufenden Sirenen, und da schoss ihm ein abenteuerlicher Gedanke
durch den Kopf: Er wollte nie mehr heimkommen. Zwitsch-zwitsch.
Die Kanaris gaben ihm recht.
Primetime
"Oskar!"
Sie schrie und schrie und schrie und schrie ...
"Oooskaaaaar!"
Das Leben im Gemeindebau macht
selbst ein frommes Lamm zur Sau.
Es war einmal Samstag Abend und in
der Fünf-Quadratmeter-Küche der Familie Rettich ging
gerade ein Multi-Media-Spektakel über die Bühne. Auf dem
Küchentisch stand, in einem Labyrinth aus Toaster,
Kaffeemaschine, schmutzigem Geschirr, frischen Lebensmitteln und
Getränkeflaschen, ein Portable-Fernseher und frohlockte zur
grenzdebilen Senioren-Talkshow, das Radiogerät in der Kredenz
spielte die 49. Interpretation des Vogeltanzes, dazu sorgte eine
Geräuschkulisse aus Allzweck-Küchengerät,
Dampfbügeleisen, Kanariengekrächze, Katzenjammer und
Hundegejaule für eine harmonische akustische Untermalung. Der
Schlager des Abends aber war eine Horror-Liveshow auf der
Arbeitsfläche über dem Kühlschrank. Gierig kneteten
die Hände der Hausfrau in einem organischen Konglomerat aus
den sterblichen Überresten einer ehemals glücklichen
Landhenne, die in der Legebatterie neben der Bundesstraße
zwischen Oberkirchbrunn und Dreihütten wohl trotzdem nie das
Licht der Sonne gesehen hat. Mit mäßigem Geschick
führte die Mittvierzigerin eine halbmetrige Edelstahlklinge
zwischen blutigen Fleischklumpen und den eigenen Fingern ihrer
linken Hand und fuhrwerkte in der Leiche mit einer derartigen
Hingabe, dass ihr der Speichel vom Mund tropfte und das Dekor auf
den Fliesen rings um sie mit naturechten Rottönen
angereichert wurde. Hund und Katze, beide bekanntlich erst seit
einigen Jahrtausenden domestizierte Raubtiere, konnten ihren
blutrünstigen Instinkt nicht mehr unterdrücken, als sich
der tiefrote, nach Eisen und Salz schmeckende See auf dem
Hackbrett einen Weg über die Kühlschranktür bahnte
und sich am Fußboden erneut ergoss. Die beiden Bestien
drängten sich bald in ernsthaft konkurrierender, bald in
friedlich schleckender Pose unter dem Rock der Frau, sodass diese
genug Probleme bekam, den in Vorbereitung befindlichen
Sonntagsbraten in ihrer Gewalt zu behalten. Sie stieß und
trat die lästigen Parasiten in schier unendlich wollenden
Wiederholungen zur Seite, worauf diese, nur noch gieriger
lechzend, begannen, ihren offensichtlichen Gegner in völlig
unkontrolliertem Blutrausch zu attackieren. Da aber holte das
tapfere Frauchen zweimal hintereinander kräftig aus und
versetzte den schlimmen Kuscheltieren einen derartigen Tritt, dass
diese himmelschreiend jaulend und kreischend das Weite suchten.
Gegen Ende des infernalen Treibens zückte Frau Rettich dann
plötzlich die linke Hand und suchte hektisch nach einem
weißen Fleck in ihrer Arbeitsschürze, worin sie die in
ihrer augenscheinlichen Hektik wund geschnittenen Finger abrieb.
Mit einer demonstrativen Routine öffnete sie die Schublade
neben sich, nahm Verbandsmaterial heraus und suchte nach dem noch
freien Platz auf der lädierten Gliedmaße, worauf sie
ein weiteres Pflaster kleben konnte.
"Oskar! Wo zum Teufel steckst du
wieder? Komm endlich her und sieh, was die beiden Biester
angerichtet haben."
Frau Rettich streckte ihren Kopf
durch den Vorhang, der die Küche vom Wohnzimmer trennte und
sah nach ihrem Mann. Der aber lag, schnaubend wie ein altes
Postross, tief schlummernd auf der Couch, die eine Hand regungslos
in der Popcorn-Tüte auf dem Tisch, die andere unter dem
Gummizug seiner Pyjamahose. Sie schüttelte in stummer
Fassungslosigkeit den Kopf. Da konnte er sie ja gar nicht
hören, so wie er da selig schnarchte, dachte sie. Kurz
entschlossen aber schaltete die gute Frau dann den großen
Fernseher im Wohnzimmer, der, egal ob Oskar wachte oder schlief,
in ewigem Kontakt zu den Ätherwellen stand, ab und
rüttelte das faule Murmeltier so lange, bis es die ersten
zaghaften Reaktionen zeigte, sich also unfreiwillig hin und her zu
wälzen begann und letztendlich doch die sehr, sehr schwer
gewesenen Augenlider hochkrempelte. "Oskar! Pack deine Viecher
zusammen und dreh mit ihnen ein paar Runden!"
Frau Rettich rüttelte ihren
Mann und schrie ihn an, als hätte er einen ihrer garantiert
echten "Made-in-Taiwan-Brillianten" verschluckt. Er aber schaute
behäbig und verständnislos zu seinem Weibe auf, worauf
diese, noch immer schüttelnd und schreiend wie am
Spieß, einem plötzlichen Heulkrampf erlag.
"Ich halte das alles nicht mehr
aus!" schluchzte sie und malträtierte den armen Kerl, bis
sich dieser dann doch endlich erhob, laut gähnend streckte,
noch immer stark schlaftrunken nach seinen Pantoffeln suchte und
in den Vorraum verschwand.
"Und komm mir mit den Biestern ja
nicht vor Mitternacht nach Hause!"
Oskar aber hörte seine Frau
nicht mehr. Er war bereits mit dem Kater im Arm und dem Hund an
der Leine das Stiegenhaus hinunter und hinaus auf die Straße
geflüchtet.