Es
war gerade wieder jene Zeit, wo der Frühling unbemerkt anfängt
in den Sommer über zu gehen. Die Kirschbäume hatten ihre zartrosa
Blüten schon abgeworfen und sie für kleine grüne Knötchen
eingetauscht. Knötchen, die unbeachtet langsam vor sich hinreifen,
um dann ganz plötzlich alle Welt mit den ersten roten Kirschen
zu beglücken. Das ganze Land atmete Wärme und unter der Jugend
war die Vorfreude auf kommende Ferientage deutlich zu spüren.
Es
war auch diejenige Zeit, welche ich immer schon am meisten geliebt hatte,
besonders als Schulkind. In der Erinnerung ist in mir noch immer das
Glück von unbeschwertem Indianerspiel mit meinen Kammeraden lebendig,
nach Baumhäuser bauen, nach, mit selbstgefertigtem Pfeil und Bogen
durch die Gegend streifen um feindliche Stellungen auszuspionieren.
Kein mahnendes Wort der Eltern in den Ohren haben, wenn man Morgens
so lange man wollte im Bett blieb und in das tiefe Blau des Himmels
hineinträumte, der sich fast täglich hinter dem Fenster zeigte.
Holzwinkel,
so heißt das Dorf in dem ich aufwuchs, hat sich seit den Tagen
meiner Kindheit nur unwesentlich verändert. Die Einwohnerzahl ist
so viel ich weiß die selbe geblieben, und die markantesten Gebäude
sind noch immer die hohe alte Steinkirche am Ende des Markplatzes, sowie
die Volksschule mit ihrer seltsamen, fast chinesisch anmutenden Dachkonstruktion.
Irgendwie ist sie viel zu groß geraten und will so gar nicht zu
den übrigen Gebäuden passen. Die beinah städtisch anmutenden
Handwerkshäuser rund um das Zentrum erfreuen sich inzwischen zwar
eines bunt-frischen Anstrichs und an den Fronten der wenigen Geschäfte
prangern Neonschriften über breiten Auslagenscheiben. Doch solche
Neuerungen gehören zu den üblichen Zeiterscheinungen, die
wohl kaum dem allerkleinsten Ort erspart bleiben und über die sich
bei auch bei uns längst niemand mehr erbost.
Folgt
man dem Lauf des Faschnitzbaches flußabwärts, der ganz Holzwinkel
in zwei Hälften schneidet und es damit in ein linkes und ein rechtes
Holzwinkel teilt, dann stößt man zwar bald auf einige neuere,
erst in den letzten Jahren gebaute Reihenhäuser, ansonsten aber
ist kaum eine wesentliche Veränderung seit meinen Leben als Indianer
zu bemerken. Abgesehen vielleicht von den paar hinzugekommenen Fremdenpensionen,
die sich fast unbemerkt zwischen die umliegenden alten Bauernhäuser
geschoben haben. Seit einiger Zeit hat sich nämlich so etwas wie
ein bescheidener Tourismus entwickelt, welcher der vordem eher ärmlichen
Gemeinde einen gewissen Wohlstand eingebracht hat. Dieser Wohlstand
zeigt sich in Form einer neuen, sehr bizarr anzusehenden Straßenbeleuchtung,
einem kleinen Springbrunnen zwischen Post und Gemeindeamt, zahlreichen,
leuchtend gelben Papierkörben an allen nur möglichen und unmöglichen
Stellen und ein paar hinzugekommene Blumenbeete entlang der Ortseinfahrt.
Die
Holzwinkler lieben ihr Dorf und sind sehr bemüht, es den Fremden,
die in der Wintersaison kommen, sauber und adrett zu präsentieren.
Denn der Winter ist eben jene Jahreszeit, die den Ort für Gäste
attraktiv macht. Das bezeugt schon der supermoderne Vierersessellift,
der erst kürzlich gebaut und die Schifahrer auf die sich gleich
hinter Holzwinkel erhebende Ochsenkappe bringt. Von dort sieht man sie
dann je nach Können und Temperament im Kampf mit den Steilhängen.
In kniesteifer und rührend anzusehender Unsicherheit die einen,
in todesverachtender Tollkühnheit die anderen.
Trotz
des unverkennbaren wirtschaftlichen Aufschwungs, den das Dorf durch
den sanften Tourismus, wie das offizielle Beiwort lautet, erlangt hat,
verdienen die wenigsten Bewohner ihren Lebensunterhalt im Ort selbst,
sondern pendeln in die benachbarte, zirka zehn Kilometer entfernte Stadt
Ossburg, wo es eine Menge klein und mittelständische Unternehmen
gibt. Die, welche nicht zu pendeln brauchen, betreiben meist selbst
einen Gewerbe und versorgen so die Einwohner mit dem Nötigsten.
Oder sie sind direkt oder indirekt am Tourismus beteiligt. So gibt es
neben einem Gemischtwarenladen noch eine Bäckerei, die Trafik,
ein Trachtenmodegeschäft, die Fleischhauerei, zwei Cafès
und drei Gasthäuser. Nicht zu vergessen die Tankstelle mit angeschossener
Autoreperaturwerkstatt am unteren Ende von Holzwinkel. Und natürlich
den unvermeidlichen Gendarmerieposten, der in keinem Dorf der Gegend
fehlen darf.
So
lebt es sich ruhig und beschaulich in meinem Heimatflecken, besonders
jetzt in der warmen Jahreszeit. Die Fremden zieht es außerhalb
des Winters nur vereinzelt zu uns. Zwar liegt der Ort romantisch eingebettet
zwischen den Ausläufern des Herrsteingebirges, doch die Kuppen
und Anhöhen sind, abgesehen von der schon erwähnten Ochsenkappe,
meist bis oben bewaldet, und bieten so für den Bergsteiger oder
Wanderer wenig Reiz. Auch fehlt es an attraktiven Bademöglichkeiten.
Der kleine Waldsee, gerade mal 20 Gehminuten vom Ortskern entfernt,
eröffnet an seinen Ufern nur spärliche Liegemöglichkeiten,
und für ein Freibad haben die Mittel des neuen Wohlstandes dann
doch noch nicht gereicht.
Die
Bürger gehen allesamt brav ihrer täglichen Arbeit nach. Ich
kenne nicht einen einzigen der je versucht hätte, in irgend einer
Form gegen den Strom zu schwimmen. Alle ordneten sich, seit ich mich
zurück entsinnen kann, stets in das wie ein gleichmäßiges
Uhrwerk ablaufende Räderwerk des Alltags ein. Pflicht und Ordnung
sind die wichtigsten Eckpfeiler des dörflichen Zusammenlebens,
das war immer schon so und daran hat sich auch bis zum heutigen Tage
nichts geändert.
Doch
wie es den Anschein hat, sind ohnehin alle mit dieser Lösung zufrieden
alle außer mir.
Ich
bezeichnete mich zwar nie definitiv als Außenseiter, doch zu jener
Zeit war ich mit meinem Leben alles andere als zufrieden. Ich hatte
gerade das Gymnasium vorzeitig abgebrochen, welches ich bis zur siebenten
Klasse im benachbarten Ossburg besuchte. Mit meinen Lehrern endgültig
überworfen, kotzte mich das ganze Schulsystem an und mich noch
länger mit dem geisttötend langweiligen Unterrichtsstoff herumzuquälen,
dazu fehlte es mir an Motivation. Vor allem aber fehlte es mir an Hoffnung,
doch noch irgendwann die letzte Klasse zu erreichen. Jetzt auszusteigen
bedeutete zwar den Verlust von zwei vollen Jahren, doch weitermachen
hätte unter Umständen noch Schlimmeres bedeutet. Und was sind
schon zwei Jahre angesichts des ganzen Lebens, das noch auf mich wartete.
Mir
war mit einem male klar geworden, dass ich nicht für eine
akademische Laufbahn geeignet war. Wofür ich aber geeignet sein
könnte, das wußte ich deshalb auch noch nicht Um meinen Eltern
zu beweisen dass doch noch nicht alles verloren war, hatte ich
mir sofort nach meinem Ausstieg in der benachbarten Stadt eine Lehrstelle
gesucht. In einem grafischen Betrieb, einer Druckerei. Warum gerade
in dieser Branche, weiß ich selber nicht zu sagen. Bis dahin hatte
ich jedenfalls nicht die geringsten Ambitionen in diese Richtung gezeigt.
Ich glaube, das einzige was mich dabei wirklich anzog war der Klang
des Wortes Grafik. Es hatte für mich irgend etwas Bedeutsames,
Wichtiges. Das war aber auch schon alles. Natürlich gestand ich
das niemandem ein, am wenigsten mir selber. Was tut man nicht alles
um sich etwas vorzumachen. Und ich machte mir viel vor, damals. Zum
Beispiel, dass mich die Arbeit als Offsetdrucker interessieren
würde. In den ersten beiden Wochen glaubte ich sogar selbst daran.
Nicht so meine Eltern. Denen war die ganze Sache von vornherein suspekt.
Aber sie hielten sich in ihren Kommentaren diskret zurück und ließen
mich machen. Und damit hatten sie natürlich vollkommen recht. Hätten
sie sich dagegen gestellt, dann würde ich mich wohl nur noch mehr
in meine Selbsttäuschung verbissen haben.
Und
wirklich, es dauerte kein ganzes Monat und ich mußte meinen Fehler
einsehen. Die Arbeit gestaltete sich zur einzigen Katastrophe. Ich begann
sie zu hassen, mehr und mehr. Das schlimmste dabei war aber nicht die
so sehr schmutzige und ungesunde Tätigkeit eines Druckerlehrlings,
sondern die Vorstellung, dass ich ab nun mein ganzes Leben fünf
Tage in der Woche, von früh am Morgen bis spät am Abend, dem
immer gleichen, monotonen Trott unterworfen war. Und das Jahr für
Jahr, unterbrochen nur von der Lächerlichkeit der paar kurzen Urlaubswochen
die einem von Staats wegen zugestanden wurden. Jahr für Jahr, immer
das Gleiche, ohne Abwechslung, ohne die geringste Chance auf eigene
Gestaltung des Lebens. Keine Abenteuer, keine Spannung und Gefahr, nichts,
was man sich in seiner Jugend so erträumt. Dafür heißt
es arbeiten, arbeiten, Geld verdienen, Geld ausgeben, Geld beiseite
legen, für später, für schwerere Zeiten, für dies,
für das. Und immer wieder von neuem Geld verdienen und noch mehr
verdienen. Geld hier, Geld dort, es wieder ausgeben, wieder sparen,
für eine bessere Wohnung, ein besseres Auto, für Kleidung,
Urlaub, Kinder und der Himmel weiß für was noch alles. Bis
man dann irgendwann alt und erschöpft, seiner besten Jahre und
Kräfte beraubt, das lang ersehnte, von allen herbeigewünschte
Ziel erreicht hat, und einem endlich, endlich in den wohlverdienten
Ruhestand zu treten erlaubt wird. Dann darf alles Versäumte nachgeholt
werden. Dann darf man leben, darf träumen, darf aufatmen. Dann
ist alles gut. Dann, dann, dann aber erst dann.
Und
das zu erreichen, so versuchte man mir klar zu machen, sollten auch
mein Bestreben sein, sollte das sein, worauf ich mich freuen dürfe,
meine Zukunft, mein Glück, mein Leben.
Kann
es für einen knapp Siebzehnjährigen etwas schlimmeres geben?
Für mich, war das das Schlimmste. Allein die Vorstellung daran
bereitete mir mindestens eben solche Furcht wie der Gedanke, unschuldig
des Mordes angeklagt und zu lebenslänglicher Haft verurteilt zu
werden. Lebenslängliche Haft, das war das wahre Wort für meine
Empfindungen.
Und
dagegen rebellierte ich, wehrte sich alles in mir und ich suchte Tag
und Nacht nach einem Ausweg, einer Möglichkeit der Flucht aus diesem
Gefängnis. Doch ein Ausweg war vorerst nicht in Sicht. Meine Lehre
einfach abzubrechen, darin sah ich im Moment nicht die Lösung.
Was hätte ich denn statt dessen anfangen sollen? Ich wußte
es nicht und so sah ich mich vorerst gezwungen, weiter zu machen. Aber
ich lauerte verbissen auf den Augenblick, wo ich erkennen würde,
was ich zu tun hätte. Ich war mir ganz sicher, der Augenblick würde
kommen irgendwann. Die Frage war nur, wann. Denn lange konnte
ich so nicht mehr weitermachen, ohne dabei ernsthaften Schaden an meiner
Seele zu nehmen. Das fühlte ich ganz deutlich. So grübelte
und dachte ich in einem fort über meine Möglichkeiten des
Ausbruch aus dem Straflager.
Und
wer weiß wie lange ich noch gegrübelt hätte, wenn nicht
die bald darauf eintretenden Ereignisse meine Aufmerksamkeit in eine
völlig andere Richtung lenkten. Auslöser und Mittelpunkt dieser
Ereignisse war ein Fremder, der eines Tages in unserem Dorf auftauchte.
Er war von unscheinbarem Äußeren, mittelgroß, etwa
vierzig Jahre alt. Ein beigefarbener Staubmantel verdeckte zur Hälfte
sein graues Beinkleid, ein ebenso grauer Filzhut schmückte den
Kopf, und in der einen Hand trug er eine kleine gelbe Ledertasche, in
der anderen einen Regenschirm. So stand er am Straßenrand, in
dieser, für diese Jahreszeit, viel zu warmen Kleidung. Ganz offensichtlich
wartete er auf irgend etwas. Zuerst fiel er keinem Menschen sonderlich
auf, auch mir nicht. Wer kümmert sich schon um einen X-beliebigen
Unbekannten, der da am Gehsteig steht und wartet. Als ich ihn aber zum
fünften oder sechsten male an der selbe Stelle antraf, immer in
der selben Kleidung, immer mit dem selben freundlichen Lächeln
auf den Lippen, dem sanften Blick, begann ich mich zu wundern. Was ist
das bloß für eine seltsame Gestalt, fragte ich mich. Er wirkt
so friedvoll und gelassen. Doch scheint er auf etwas zu warten. Doch
auf was? Ich konnte mir keinen rechten Reim darauf machen. Jedenfalls
handelte es sich an der besagten Stelle weder um eine Busstation, noch
um sonst einen Ort, der eine derart häufige Anwesenheit rechtfertigen
würde. Und immer dieser weiche, friedvolle Gesichtsausdruck. Ich
mußte zugeben, dieser Mensch begann mir Rätsel aufzugeben.
Inzwischen
war er natürlich nicht nur mir aufgefallen, sondern auch den meisten
andern im Dorf. Trotzdem dachte niemand daran, ihn einfach um den Grund
seines Hierseins zu fragen. Und das, obwohl die Holzwinkler sonst gern
Gespräche mit Fremden anknüpfen. Schon allein, weil es sich
für das Geschäft gut auswirkt. Im Allgemeinen lieben es Touristen
ja, mit Ortsansässigen in Kontakt zu kommen. Und die Holzwinkler
sind nicht auf den Mund gefallen. Doch in diesem Fall waren alle wie
von einer Lähmung befallen Auch mir ging es nicht anderes. Irgend
etwas hielt uns davon ab, einfach vor ihn hinzutreten, ihm Guten Tag
zu wünschen und über irgend etwas Belangloses, meinetwegen
über den letzten Politskandal, mit ihm zu reden. Jedenfalls soviel
ich weiß, tat niemand dergleichen.
Dafür
begann man über ihn zu munkeln. Die Hausfrauen stecken beim Kaufmann
die Köpfe zusammen, tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Ein Verrückter
sei das, ein Narr, was sonst. Vielleicht einer der aus der Irrenanstalt
in Bremberg entkommen war, wer weiß. Womöglich ist er sogar
gefährlich und mit seinem freundlichen Lächeln beabsichtigt
er nur uns zu täuschen und in Sicherheit zu wiegen. Man soll sich
nur in acht nehmen. Vor allem gehören die Kinder geschützt.
Solche
und ähnliche Dinge bekam man bald immer öfter zu hören.
Und die ersten besorgte Eltern verbaten auch tatsächlich bald ihren
Sprößlingen, sich in seiner Nähe aufzuhalten.
Nach
einer weiteren Woche gab man sich keine Mühe mehr, die Sache heimlich
zu handhaben Das Thema drängte ungeniert an die Öffentlichkeit
und in den Wirtshäusern wurden lautstarke Debatten über den
seltsamen Fremden geführten.
Wenn
ihr mich fragt, ich halte den Kerl schlichtweg für einen Verrückten,
brummte am Biertisch der Fleischergeselle Karl Reinbrechter mit seiner
unverwechselbaren Baßstimme. So einer kann doch nicht ganz
normal sein. Steht jeden Tag von morgens bis abends an der gleichen
Stelle und schaut blöd vor sich hin. Was will er denn überhaupt?
Genau das frag ich mich auch, meinte der Bäckermeister Josef
Karnitz. Mir war der Kerl von Haus aus suspekt. Schon am ersten
Tag ist er mir aufgefallen. Und dabei machte er ein finsteres
Gesicht, während er den Rauch seiner Zigarette dem Reinbrechter
um die Ohren blies.
Ja
wirklich, ein komischer Vogel, das muß ich auch sagen, mischte
sich hinter dem Schanktisch der rotbackige Wirt ein. Allein schon
wie der angezogen ist. Wie eine Mischung aus Inspektor Colombo und Tante
Eusebia.
Lautes
Gelächter der Umstehenden munterte ihn zum Weiterreden auf.
Es
geht einen zwar nichts an, es kann ja jeder machen was er will, aber
einfach nur auf der Straße stehen, einfach so, so etwas hat es
bis jetzt noch nie gegeben. Jedenfalls nicht bei uns in Holzwinkel.
Richtig,
bestätigten ihm der Bäckermeister, so etwas hat's noch
nicht gegeben.
Man
sollte die Gendarmerie benachrichtigen. Ich versteh sowieso nicht, warum
sich die noch nicht um den Burschen gekümmert haben. Sonst sind
sie ja auch gleich da, besonders wenn man sie nicht braucht.
Haha,
lachte Karl Reinbrechter auf, meinst wohl wenn du mit deinem BMW
mit hundert Sachen über den Marktplatz flitzt.
Hundertzwanzig,
Reinbrechter, Hundertzwanzig warn es. Dafür haben sie mich aber
auch gleich ins Röhrl blasen lassen. Als ob es für die nichts
wichtigeres in der Welt zu tun gäbe. Aber bei so einem Typen da,
da machen sie nichts. Gar nichts. So einer darf rumstehen so viel er
will, und die schauen noch zu. Eine Sauerei ist das.
Seine
beiden Gesprächspartner nickten ihm beistimmend zu.
Eins
sag ich euch. Ich werde heute noch am Posten anrufen. Denen erzähl
ich was. Für was zahlt man den seine Steuern. Die sollen mal was
vernünftiges tun für ihr Geld.
Auch
von den anderen Tischen kam allgemeines Kopfnicken herüber. In
dieser Sache war man sich jedenfalls einig.
In
solcher und ähnlicher Weise liefen die Gespräche ab, wenn
es um das besagte Thema ging. Ich selbst wunderte mich gar nicht, dass
die meisten Dorfbewohner so aggressiv reagierten. Für sie war dieser
Mensch ein unerklärlicher Fremdkörper in ihrer Gemeinde und
allein deshalb schon unerwünscht. Was meine eigenen Gefühle
betraf, so ließen sie sich wohl am Ehesten mit neugierig bis leicht
zugetan beschreiben. Jedenfalls empfand ich keine direkte Abneigung
gegen den Unbekannten, lenkte mich sein Erscheinen doch ein wenig von
den finsteren Zukunftsgedanken ab, die mich damals gerade so quälten.
Außerdem fühlte ich mich mit ihm als Außenseiter in
gewisser Weise verwandt. Im Innersten begriff ich mich selbst ja auch
unverstandenen. Allein schon deshalb brachte ich ihm eine gewisse Sympathie
entgegen. Doch fand dieses leise Wohlwollen in keiner Weise einen sichtbaren
Ausdruck. Nie wäre ich zu jenem Zeitpunkt auf den Gedanken gekommen,
mich offen auf seine Seite zu stellen, ja mich vielleicht sogar zu seinem
Verteidiger aufzuschwingen. Zu unsicher war ich mir dazu und viel zu
suspekt war mir die ganze Sachlage noch. Doch blickte ich voll gespannter
Erwartung auf die weitere Entwicklung der Dinge.
Inzwischen
waren tatsächlich die ersten Beschwerden bei der Gendarmerie eingetroffen.
Nicht nur vom Bäckermeister Josef Karnitz, auch von anderer Seite.
Doch die Staatsorgane hatten in diesem Fall natürlich schon längst
von sich aus ermittelt. Es war aber nichts wesentliches dabei herausgekommen.
Jedenfalls nichts was sie veranlaßt hätte, den Fremden vom
Platz zu verweisen. So mußten sich die Bürger vorerst einmal
mit Vertröstungen zufrieden geben. Das hielt die Gemüter aber
nur eine kurze Zeit in Schach. Als nichts geschah und der Fremde Tage
später immer noch unbehelligt an der selben Stelle stand, lief
das Maß über. Täglich trafen nun die Beschwerden beim
Bürgermeister ein. Bald sah sich dieser gezwungen einzugreifen,
wollte er nicht eine empfindliche Niederlage bei der nächsten Wahl
riskieren. Und die stand bald bevor.
Er
versprach jedem hoch und heilig, den Fremden zur Rede zu stellen, sobald
es seine Amtsgeschäfte zuließen. Im Grunde aber war ihm dieser
Auftrag höchst widerwillig, denn er war ein friedliebender und
wohlwollender Charakter. Was aber sein mußte, mußte sein.
Da half nichts. Diese Sache konnte ihn seine Stellung als Bürgermeister
kosten. Nach einigem hin und her, einigem zögern, rang er sich
durch. Bedeutsam setzte er seinen besten Hut auf, um sich mehr Würde
zu geben griff er sogar Spazierstock und maschierte wackeren Schritts
zu der Stelle, wo der Fremde zu stehen pflegte.
Guten
Tag der Herr, sprach er ihn an. Ich bin hier in der Gemeinde
der Bürgermeister.
Der
Fremde sah ihm freundlich in die Augen
Um
es kurz zu machen, die Einwohner von Holzwinkel sind seit einiger Zeit
ein wenig...., nun wie soll ich sagen....,nun ja...., sagen wir ein
wenig irritiert, durch Ihr erscheinen. Sie stehen hier schon seit mehreren
Tagen..., ach was sag ich...., seit mehreren Wochen. So etwas ist ..,
nun, gelinde gesagt, nicht ganz üblich. Dabei ist nicht einmal
ersichtlich, warum oder wozu. Die Leute machen sich natürlich so
ihre Gedanken, verstehen Sie...,schließlich ist das nicht...,
äh... ja üblich..., äh..., jedenfalls nicht hier bei
uns in Holzwinkel, verstehen Sie.
Der
Fremde zog gelassen den Hut, verbeugte sich höflich und schmunzelte
amüsiert.
Aber
natürlich kann ich sie verstehen.
Die
Antwort kam mit klarer und fester Stimme.
Ich
kann Sie sogar sehr gut verstehen. Es ist nicht üblich, da haben
Sie vollkommen recht. Nun, Herr Bürgermeister, um der allgemeinen
Neugierde Genüge zu tun, der Grund warum ich hier stehe ist schnell
erklärt. Ich warte hier auf einen Freund, der versprochen hat,
mich abzuholen. Das ist alles. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Der
Bürgermeister sah ihn verdutzt an.
Sie
warten bloß hier, weil Sie abgeholt werden?
Genau
so ist es.
Ja
aber..., aber das ist doch nicht..., verzeihen Sie wenn ich es so direkt
ausspreche...., das ist doch nicht normal. So lange wartet doch kein
Mensch auf der Straße, nur weil er abgeholt wird.
Daß
es nicht normal ist, da mögen Sie recht haben. Doch nur weil es
nicht normal ist heißt das noch lange nicht, dass es nicht
wichtig wäre. Und glauben Sie mir, Herr Bürgermeister,
und dabei sah er ihn streng aber immer noch liebevoll an, es ist
wichtig. Für meinen Freund ist es wichtig, dass ich hier bin,
wenn er kommt.
Der
Bürgermeister bekam große Augen. Darauf wußte er nicht
recht zu antworten. Hilfesuchend drehte er den Kopf den paar Neugierigen
zu, die auf der anderen Straßenseite stehen geblieben waren. Doch
die blickten nur stumm auf den Mann mit der gelben Ledertasche.
Ist
es denn verboten zu warten, so lange man möchte?
Äh
..., also...
Wenn
es verboten ist, dann werde ich auch nicht länger hier bleiben.
Nein
nein..., natürlich ist es nicht verboten..., nur....
Nur?
Ja...,
ich weiß nicht....Es ist ...,wollen Sie..., wollen Sie noch lange
hier bleiben?
Genauso
lange wie es notwendig ist.
Genauso
lange...., wie es notwendig ist, wiederholte er wie geistesabwesend.
So
ist es. Die Gendarmerie war übrigens vor ein paar Tagen hier und
hat mir ähnliche Fragen gestellt. Somit hat mich das Auge des Gesetzes
bereits erfaßt
Jaja,
darüber bin ich informiert.
Dann
ist es gut.
Äh...,
ja, natürlich, es ist gut.....
Da
ihm nichts mehr einfiel, zuckte er nur hilflos mit den Schultern.
Ja
dann..., dann darf ich mich wohl wieder verabschieden.
Ganz
wie Sie möchten. War mir ein ausgesprochenes Vergnügen, Sie
kennen gelernt zu haben, Herr Bürgermeister. Übrigens, mein
Name ist Jeremias Wunder, und er reichte ihm eine feingliedrige
Hand.
Wurzinger.
Josef Wurzinger.
Damit
war das Gespräch beendet. Während sich das Grüppchen
Neugieriger rasch verteilte, kehrte der Bürgermeister in seine
Amtsstube zurück.. Er war verwirrt und verunsichert, was denn nun
eigentlich von dem Fremden halten sollte. Daß er auf jemanden
wartete, soviel wußte er jetzt. Na gut. Doch das war nicht besonders
aufschlußreich. Was hat das schon zu besagen, sprach er zu sich
selbst. Jeder wartet irgendwann einmal auf irgendwen. Und dass
er Jeremias Wunder hieß, auch das wußte er. Was für
ein seltsamer Name übrigens, Jeremias Wunder. Der Bürgermeister
überlegte. Er wurde ja, seit er das Amt übernommen hatte,
mit allen möglichen Namen konfrontiert. Aber den Nachnamen Wunder
hatte er noch nie gehört. Wunder, Wunder. Wie kann jemand nur Wunder
heißen, ging es ihm durch den Kopf. Doch schnell riß er
sich wieder aus seinen Gedanken. Was kümmerte ihn schon dieser
Name. Namen waren nicht wichtig. Jedenfalls nicht für ihn. Wenn
überhaupt für jemand, dann für die Gendarmerie. Und die
hatte ja schon ermittelt. Im Grunde wußte er also nicht mehr als
vorher. Habe ich mich abwimmeln lassen, fragte er sich? Was habe ich
denn überhaupt von ihm gewollt? Richtig, zur Rede wollte ich ihn
stellen, einfach zur Rede stellen. Sonst nichts. Um endlich Klarheit
in die Angelegenheit zu bringen. Diese lästige Angelegenheit, die
mir ohnehin zuwider ist und die ich rasch erledigen haben möchte.
Erreicht habe ich eigentlich gar nichts. Soll ich noch einmal zu ihm
gehen...? Nein, das wäre Unsinn und würde zu nichts führen.
Unschlüssig
sah er zum Fenster raus. Dort lachte die Sonne von einem blitzblauen
Himmel herab. Ein leichter Wind war aufgekommen und trieb sein Spiel
mit den Blättern der Japanischen Zierkirschen vor dem Rathaus.
Nur einen kurzen Augenblick lang ließ er sich von dem hübschen
Anblick gefangennehmen. Er durfte sich jetzt nicht gehen lassen. Um
einfach irgendwas zu tun, griff zum Hörer und wählte die Nummer
des Gendarmeriepostens.
Gendarmeriekommando
Holzwinkel, meldete sich eine bekannte Stimme.
Hallo
Herbert. Da ist der Josef.
Grüß
dich Josef. Wie gehts so?
Es
geht. Du Herbert, hör mal zu. Ihr habt doch vor ein paar Tagen
über diesen Typen da ermittelt, du weißt schon, der da am
Straßenrand steht, dieser Wunder, wie er heißt.
Jaja,
haben wir.
Und
was ist dabei heraus gekommen?
Eigentlich
gar nichts. Seine Papiere sind in Ordnung. Er steht nicht auf der Fahndungsliste...,
was sonst noch? Ja richtig, gemeldet ist er auch ordnungsgemäß...
Gibt's irgendwelche Probleme mit ihm?
Naja,
wie man's nimmt. Es ist halt..., also ein paar Bürger sind beunruhigt,
weil der schon so lange dasteht und...
Ja,
bei uns rufen auch immer wieder welche an, wegen dem. Aber wir können
ihnen nur sagen, dass alles in Ordnung ist mit ihm.
Es
ist alles in Ordnung?
Im
Grunde ja. Wir können ihm ja schließlich nicht verbieten,
am Gehsteig zu stehen.
Aber
so lange?
Das
Gesetz sieht diesbezüglich keine zeitliche Begrenzung vor.
Aber
es muß doch Paragraphen geben, die so etwas regeln.
Das
schon. Da wäre zum Beispiel der Paragraph für Landstreicherei.
Er verfügt aber über einen ordentlichen Wohnsitz. So kommt
Landstreicherei nicht in Frage.
Und
sonst, gibt's da nichts?
Nicht
wirklich. Zelten und Lagern tut er ja auch nicht. Das wäre nämlich
nicht erlaubt, am Gehsteig. Aber er steht ja nur da, legt oder setzt
sich nicht hin...Also kommt Zelten und Lagern nicht in Frage. Was sollen
wir also machen. Wir können nur eingreifen, wenn ein Tatbestand
vorliegt, eine Gesetzesübertretung. Und das ist nicht der Fall.
Versteh
mich nicht falsch, Herbert. Mir persönlich ist der Kerl vollkommen
wurscht. Von mir aus kann der da Jahre stehen. Ich hab nichts dagegen.
Aber du weißt ja, die Gemeinderatswahlen stehen vor der Tür.
Und die Bürger sind beunruhigt. Das macht keine gute Stimmung.
Die wollen von mir, dass ich irgend etwas unternehme. Der Bäcker,
der Karnitz, der macht den Leuten heißes Blut. Der Bürgermeister
nimmt die Wünsche der Bevölkerung nicht wahr, sagt er. Der
Bürgermeister ist lahm. Und immer mehr geben ihm recht. Das kann
sich bei den Wahlen sehr ungünstig für uns auswirken, verstehst
du. Der Karnitz sieht jetzt eine gute Gelegenheit, Stimmung gegen uns
zu machen. Er hat sich ja als Kandidat für die Gegenliste aufstellen
lassen, wie du sicher weißt.
Ja
ich weiß. Aber was soll ich da machen?
Laß
dir was einfallen. Was ist mit Erregung öffentlichen Ärgernis?
Das
geht nicht. So lange der nur dasteht, kann man schwerlich sagen, er
erregt öffentliches Ärgernis. Da müßte er schon
was ungehöriges machen. Zum Beispiel irgendwohin pinkeln, den Gehsteig
beschmutzen, die Leute anpöbeln oder Lärm machen. Irgend so
was, verstehst du. Gegen die guten Sitten. Aber er tut ja nichts. Er
steht nur da. Wir haben ihn ja schon die ganze Zeit im Auge.
Schläft
er nie? Geht er nie auf's Klo? Er muß doch was essen?
Soweit
wir feststellen konnten, benutzt er die öffentliche Toilette am
Marktplatz. Und im Kaufhaus Flavinger holt er sich ab und zu etwas Obst.
Sonst hat er seinen Standplatz wahrscheinlich noch nie verlassen.
Aber
das gibt's doch nicht. Der Mensch muß doch auch einmal schlafen...
Apropos schlafen, da fällt mir ein, wer sich mehr als zwei Wochen
im Dorf aufhält, muß hier gemeldet sein. Da haben wir ihn
ja schon.
Josef, ich muß dich enttäuschen. Er hat in der Frühstückspension
Obermaier ein Zimmer gemietet. Und das hat er gleich für ein ganzes
Monat im voraus bezahlt hat. Wir haben das überprüft. Daß
er dort praktisch nie hingeht, ist seine private Angelegenheit. Aber
vom Gesetz her ist alles in Ordnung.
Ein
ganzes Monat im Voraus bezahlt? Der erlaubt sich was. Er wird doch nicht
etwa....? Nein, das ist Unsinn....Du, was hast du noch gesagt? Er legt
sich nie schlafen?
Soweit
wir informiert sind, nein. Wir beobachten den Kerl ja nicht rund um
die Uhr. Dafür haben wir nicht das Personal. Wir sind ja nur zu
zweit, wie du weißt, und die andere Arbeit darf nicht liegenbleiben.
Jaja,
schon gut.
So
wie die Dinge im Moment liegen, sind uns jedenfalls die Hände gebunden.
Wir können dir da nicht weiterhelfen.
Hmm...,
wirklich gar nicht?
Wirklich
gar nicht.
Na
schön, wenn das so ist, dann muß ich mir eben was einfallen
lassen. Also, mach's gut Herbert. Und halt mich auf dem Laufenden.
Mach
ich, mach ich. Servus Josef.
Der
Bürgermeister ließ den Hörer auf die Gabel sinken. Nun
war er noch mehr verwirrt als vorher. Er schläft nicht, ging es
ihm durch den Sinn. Unglaublich. Gibt es so etwas überhaupt, kann
man ohne zu schlafen leben? Vielleicht schläft er im stehen. Solche
Dinge sollen ja vorkommen. Aber wie auch immer, in jedem Fall ist die
ganze Sache sehr mysteriös und bedarf der Aufklärung. Nur,
dass das ausgerechnet jetzt passiert, jetzt vor den Wahlen, das
ist natürlich sehr ärgerlich. Hmm...,ob das Zufall ist? Was
ist, wenn das Ganze beabsichtigt ist? Ein Komplott? Ein Komplott gegen
mich? Möglicherweise steckt der Karnitz dahinter. Vielleicht hat
der den engagiert um mich zu provozieren, um eine Volkshetze gegen mich
anzuzetteln? Wäre doch denkbar, oder....? Ach was, Unsinn. Vergiß
es. Der Karnitz ist viel zu naiv für so etwas. So etwas fällt
dem gar nicht ein. Außerdem ist das nicht seine Handschrift. Nein,
nein, wahrscheinlich sind solche Überlegungen sowieso nur ein Zeichen
von Nervosität und rede ich mir da was ein. Ich muß eine
klaren Kopf behalten. Das ist jetzt das Wichtigste. Einen klaren und
nüchternen Kopf. Ja, das ist es worauf es ankommt.. Dann wird sich
alles regeln. So ist es. Es wird sich alles von selbst regeln. Ganz
bestimmt....
Er
ging zum Aktenschrank, holte einen Ordner heraus und ging zum Tagesgeschäft
über.
So
geschah also von Amts wegen in dieser Sache einmal nichts. Bürgermeister
Wurzinger versuchte vor den Bürgern, die weiterhin ein behördliches
Eingreifen forderten, das Ganze zu bagatellisieren. Zum Teil hatte er
sogar Erfolg damit. Viele ließen sich beschwichtigen, sahen ein,
dass für ihre Sicherheit von dem Fremden keine Gefahr ausging
und dass die Gendarmerie und die Gemeinde alles im Griff hatten.
Des weiteren versuchten sie, den Mann auf der Straße so gut es
ging zu ignorieren. Es gab sogar welche, die Gefallen an dem Fremden
fanden, der ja nun eigentlich schon gar kein Fremder mehr war. Allen
voran natürlich die, welche von ihm profitierten. Das waren einmal
die Familie Obermaier, bei der er eingemietet war und die in ihm einen
zahlungskräftigen und pflegeleichten Gast gefunden hatten, um den
sie sich überhaupt nicht kümmern mußten. Und das war
gerade in der ohnehin eher mageren Sommersaison von besonderem Wert.
Der zweite, der finanziell von ihm profitierte, war Herr Kaufmann Flavinger.
Wenn er auch nur etwas Obst und Mineralwasser an den seltsamen Kunden
verkaufen konnte, so wurde er ihm doch nach und nach vertraut. Auch
viele der anderen Kunden, welche den kleinen Laden aufsuchten, trafen
ihn dort das eine oder andere mal an und wagten mit der Zeit sogar ein
kurzes Wort an ihn zu richten. Nachdem sie bald merkten, wie freundlich
und aufmerksam er stets war, verloren auch sie die Scheu und gewöhnten
sich an seine Anwesenheit.
Doch
nicht alle waren ihm freundlich gesonnen. Es gab immer noch viele, denen
er ein Dorn im Auge war. Allen voran der Bäckermeister. Der nützte
weiterhin jede Gelegenheit, um die Gemüter gegen den Verrückten
vom Marktplatz, wie er sich auszudrücken pflegte, aufzubringen.
Besonders die täglich beim Dorfwirten einkehrenden Zechbrüder
waren mit ihm einer Meinung. Man ließ kein gutes Haar an ihm.
Doch seit klar war, dass von Seiten der Behörde keine Unterstützung
zu erwarten war, hielten sie sich mit ihren Äußerungen merklich
zurück. Auf keinen Fall hätten sie es gewagt, den unerwünschten
Gast tätlich anzugreifen. Wenn sie sich auch in der Gaststätte,
die quasi zum Hauptquartier der Unzufriedenen avancierte, in wilden
Schimpfparolen erbosten, so begnügten sie sich doch in der Öffentlichkeit,
ihre Antipathie in gelegentlichen giftigen Bemerkungen Ausdruck zu verleihen.
Trotzdem
hatte auch das seine Auswirkung. Zumindest führte es dazu, dass
es bald niemanden mehr im Dorf gab, der sich nicht genötigt sah,
in irgendeiner Weise zu dem Thema Stellung zu nehmen, sozusagen seinen
eigenen Standpunkt festzulegen. Es gab wenige, die in dieser Angelegenheit
neutral eingestellt waren. Die meisten tendierten entweder zur einen
oder zur anderen Seite. So führten die dauernden Auseinandersetzungen
zu einer regelrechten Spaltung der Einwohnerschaft, in eine Liga Pro-Wunder
und Contra-Wunder.
Auch
ich stand nicht außerhalb dieses Zwistes. Meine anfänglich
bloß sympathisierende Neugierde hatte sich inzwischen eindeutig
in eine befürwortende Haltung verwandelt. Ich sah nicht ein, warum
man nicht am Straßenrand stehen sollte, so lange einem der Sinn
danach steht. Schließlich tat er ja niemand etwas zu leide. Was
mir dabei am erstaunlichsten anmutete war die Tatsache, dass die
Dorfgewaltigen in dieser Sache der selben Meinung waren wie ich. So
etwas hatte es bis jetzt noch nicht gegeben. Ich war es gewohnt, stets
die Herrschenden gegen mich zu haben, was mich wie von selbst in die
Rolle des Unverstanden und heimlichen Außenseiter trieb. Diesmal
war es zum erstenmal anders. Der Staat stand hinter mir, meine allgegenwärtige
innere Auflehnung gegen jegliche Art von Bevormundung fand in diesem
Fall keine Nahrung. Ein Zustand der für mich überaus ungewöhnlich
und neu war. Trotzdem änderte diese Ausnahme noch nichts an meiner
kritischen Grundhaltung der Polizei und ganz generell allen Ordnungshütern
gegenüber. Ich wußte zwar nicht warum dem ganze Spektakel
nicht einfach von Gesetzes wegen ein Ende bereitet wurde. Doch war ich
überzeugt, dass es nicht aus plötzlicher Einsicht bezüglich
Anerkennung des menschlichen Grundrechts auf Selbstbestimmung geschah.
So blauäugig war ich nicht mehr.
Auf
der anderen Seite fand ich natürlich auch keine rechte Erklärung
für die Motive des Helden in dem ganzen Drama. Im Grunde erschien
mir sein Verhalten noch immer gleich rätselhaft und absonderlich
wie zu Beginn. Ich würde sagen sogar noch mehr als zu Beginn. Denn
da dachte ich nicht im Traum daran, wie weit dieser Mensch zu gehen
imstande war. Mittlerweile war ja schon ein voller Monat verstrichen,
seit er auf seinem Platz Stellung bezogen hatte. Diese Ausdauer hätte
ich ihm, genauso wie alle anderen, am Anfang niemals zugetraut. Aber
einen ganzen Monat tagaus tagein im Freien zu stehen, bei jedem Wetter
und das ohne sich jemals schlafen zu legen, dies war eine Leistung die
mich schon mehr als in Erstaunen versetzte. Auch wenn die vorgegebenen
Motive für diese Tat eher lächerlich anmuteten und wohl von
niemanden, auch von mir nicht, so recht ernst genommen wurden. Doch
da man sich andererseits auch nicht denken konnte, was er sonst für
Beweggründe für eine derartige Handlung haben könnte,
nahm man es eben als das hin, was es bis jetzt war eine spektakuläre
Aktion, auf deren Ausgang man gespannt sein durfte. Im Grunde gab es
wohl schon längst niemanden mehr, der ihn nicht für diese
Maratonleistung an Kraft und Ausdauer bewunderte. Auch seine Gegner
nicht. Selbst wenn sie dies vor anderen, und vielleicht auch vor sich
selbst, nicht zugaben. An der Tatsache aber, dass es sich dabei
um eine übermenschliche Tat handelte, konnte man nicht mehr vorbeisehen.
So
hegte ich im Stillen immer mehr Achtung für diesen Herrn Wunder,
der seinem Namen mehr als gerecht wurde. Oft saß ich nach meiner
Rückkehr aus Ossburg eine geschlagene Stunde bei einem Glas Tonic
im Cafè Kronberger, schräg gegenüber von seinem Standplatz
und beobachtete ihn durchs Fenster. Er wirkte nie müde oder gelangweilt,
noch trat er, wie die meisten es beim Warten zu tun pflegen, von einem
Fuß auf den anderen. Er stand da, als wäre er erst von fünf
Minuten hergekommen und blickten mit wachen und freundlichen Augen in
die Welt. Neben sich seine gelbe Ledertasche, bekleidet mit Hut und
Staubmantel, in der Hand den schwarzen Schirm. Der war inzwischen wohl
sein wichtigstes Utensil, denn bei uns regnet es auch im Sommer gerne.
Oft fragte ich mich bei solcher Gelegenheit, was wohl der Inhalt seiner
Tasche sein mochte. Vielleicht nichts weiter als Kleidung, Lebensmittel,
so sagte ich mir. Manchmal aber kam mir auch in den Sinn, dass
er vielleicht irgendwelche geheimnisvolle Dinge darin aufbewahrte, Magisches,
aus dem er seine Kraft bezog. Seit einiger Zeit hegte ich ab und an
solche abstrusen Spekulationen. Woher das kam, konnte ich selber nicht
sagen. Voran hatte ich jedenfalls nie derartige Eigenarten bei mir festgestellt.
Überhaupt
bemerkte ich an mir seit einer Weile immer öfter eine Veränderung
meiner Denkgewohnheiten. Die Unzufriedenheit mit der Gesellschaft im
Allgemeinen und mit meinem Leben im Besonderen, die mich früher
nach Feierabend besonders stark heimgesucht hatte, quälte mich
nicht mehr so häufig. An ihre Stelle trat immer öfter ein
stilles Nachdenken, ein Nachdenken über diesen Menschen, der da
am Marktplatz stand. Was bewegt ihn, fragte ich mich immer wieder, zu
so einem außergewöhnlichen Verhalten. Woher nimmt er diese
Ausdauer, diese Zähigkeit. Und dann dieser Blick. Immer freundlich,
immer gut gelaunt, als gäbe es in der Welt nichts erquickenderes,
als wochenlang am Straßenrand zu stehen und darauf zu warten,
abgeholt zu werden. Nie hatte ich irgend jemand sagen hören, er
hätte ihn jemals anderen als in der besagten Gemütsverfassung
gesehen. Er war eindeutig die erstaunlichste und außergewöhnlichste
Erscheinung, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Ein Phänomen,
wahrlich.
Wenn
ich jedoch daran dachte ihn näher kennen zu lernen, ihn vielleicht
anzusprechen, dann überfiel mich jedesmal eine eigenartige Scheu.
Noch nie hatte ich Lust verspürt, auch nur ein einziges Wort mit
ihm zu wechseln. Ich hätte auch gar nicht gewußt, was ich
zu ihm sagen sollte. Ihn etwa fragen, was er in seiner Tasche aufbewahrte?
Nein, da hätte ich mir eher die Zunge abgebissen. Dazu hatte ich
schon längst viel zu viel Achtung vor ihm. So etwas fragt man keinen
Fremden. Auch wenn der Fremde für mich und für alle anderen
längst kein Fremder mehr war. Für ihn war ich es in jedem
Fall. Viel lieber sah ich ihn mir aus sicherer Entfernung an. Da konnte
man seiner Phantasie freien Lauf lassen, mich meinen Träumereien
hingeben. Möglicherweise war es das, was mich so an ihm fesselte.
So war er unbemerkt zu einem Medium für die Flucht aus meiner ungeliebten
Alltagswelt geworden. Eine hilfreiche Hand, die mich meiner Sorgen für
eine gewisse Zeit enthob. Dachte ich an ihn, so ging es mir gut. Von
diesem Standpunkt aus erklärt sich meine Scheu, mit ihm in näheren
Kontakt zu treten. Was, wenn sich herausstellte dass er gar nicht
der Held war, zu dem ich ihn in meinem Inneren erhob. Vielleicht hatten
seine Gegner recht und er war tatsächlich nichts weiter als ein
armer Narr, der nicht wußte was er tat. Ja, so war es wohl, ich
fürchtete eine Desillusionierung.
Nun
gut, die Tage verstrichen und es kam was früher oder später
kommen mußte die Kunde von Herrn Wunder erreichte die Nachbardörfer,
erreichte die Stadt Ossburg. So dauerte es nicht lange und die ersten
Schaulustigen trafen bei uns ein. Zuerst nur vereinzelt, dann immer
zahlreicher. Irgendwann tauchte sogar ein Reporter einer Ossburger Stadtzeitung
auf und interviewte den Mann. Eine Woche später erschien in dem
Journal ein reißerischer Artikel. Das Ergebnis davon war, dass
noch mehr Neugierige unser Dörfchen aufsuchten.
Dieser
langsam ansteigende Besucherstrom wirkte sich natürlich auf vielerlei
Arten belebend für den Ort aus. Die Gäste die da kamen wollten
ja nicht nur ihre Sensationslust befriedigen, so ein Ausflug macht hungrig,
macht durstig. Bald waren die Gaststätten und Cafés nicht
nur wie bisher, an Wochenenden und Feiertagen gut besucht, sondern auch
die übrige Zeit. Noch nie konnten sich die Lokalbesitzer in der
Sommersaison an einem dermaßen guten Umsatz erfreuen. Doch dies
war erst der Anfang.
Richtig
los ging es dann, als ein privates Fernsehteam Filmaufnahmen, von dem
Wunder von Holzwinkel, wie es inzwischen überall hieß,
machte. Der Beitrag erregte großes Aufsehen und bescherte dem
Sender im Nu eine Verdoppelung der Einschaltquoten. In der Folge trafen
von überall her weitere Reporter, Journalisten und Berichterstatter
ein. In allen namhaften Tages und Wochzeitungen erschienen Reportagen
über unser Dorf, selbstverständlich mit Stellungnahme des
Bürgermeisters und einiger Gemeinderäte zu dem sensationellen
Ereignis.
Überhaupt
war die plötzliche Berühmtheit von Holzwinkel für die
Kommunalpolitik von ungemeiner Bedeutung. Die inzwischen stattfindenden
Gemeinderatswahlen brachten einen Erdrutschsieg für die Partei
von Bürgermeister Wurzinger. Und noch nie war der Prozentsatz an
Wahlbeteiligung dermaßen hoch gewesenn. Die Entscheidung, nicht
mit Gewalt gegen Herrn Wunder vorzugehen, hatte sich somit als weise
und richtig erwiesen. Sein Widersacher, der Bäckermeister Karnitz,
bescherte seinen Wählern die empfindlichste Niederlage seit bestehen
der Partei. In der Folge trat er aus der Politik zurück und widmete
sich fortan nur noch seinem Geschäft. Dies mußte er auch,
denn seine Bäckerei blühte unter dem Besucherstrom genauso
auf wie alle anderen Gewerbebetriebe des Ortes. Er mußte sogar
zwei zusätzliche Kräfte einstellen, um die vermehrte Nachfrage
nach seinen köstlichen Semmeln, Brezeln und Salzstangerln erfüllen
zu können. Von den vielen schmackhafte Süßigkeiten gar
nicht zu reden. Die klingende Kassa war ihm ausreichende Entschädigung
für seine mißglückte Karriere als Politiker.
Und
was war mit seiner ehemaligen Anhängerschaft geschehen, den Zechbrüdern
und Stammgästen des Dorfwirts? Der kleinere Teil verhielt sich
stumm und verkrochen sich hinter ihren Biergläsern. Die meisten
aber wechselte rasch das Lager. Von einer einstigen Antipathie gegen
Herrn Wunder wußte man in jenen Kreisen fortan nichts mehr.
So
war auf wahrlich wundersame Weise die Spaltung des Dorfes aufgehoben
und gehörte der Vergangenheit an. Man war sich wieder einig, empfand
sich wieder als eine Seele und fest zusammengeschweißte Familie.
Ein Wunder bedingt das andere.
Die
Zeit verfloß und mittlerweile waren schon fast drei Monate vergangen,
seit am Marktplatz von allen unbeachtet, ein stiller und unbekannter
Mensch in Staubmantel und Filzhut, mit Regenschirm und gelber Ledertasche
Aufstellung genommen hatte. Inzwischen war jedoch von unbekannt längst
keine Rede mehr. Er war zum Star aufgestiegen, dieser bescheidene und
stets freundliche Mensch. Man wußte auch längst alles über
ihn, was die Massen von einem Menschen nur zu wissen wünschen.
Denn er gab all ihren Fragen ohne Widerwillen Auskunft. Über seine
Abstammung, Herkunft, Beruf, ja den gesamten Lebenslauf wußte
man Bescheid, bis hin zu Privatem und Allerprivatestem. Nichts blieb
der Öffentlichkeit verborgen. Was ich mich niemals ihn zu fragen
getraut hätte, nun wußte ich es bis ins Detail, sowie es
jeder andere aufmerksame Verfolger der Medien wußte. Was sein
Lieblingsessen war, welche Schuhe-, Strümpfe- und Unterwäschemarke
er bevorzugte, was seine politische Meinung, seinen Lebensphilosophie
war und ob er an Gott und den Papst glaube. Ja sogar, welche Stellung
im Bett er empfehlen könnte. Das alles lag wie ein offenes Buch
da und konnte von jedem eingesehen werden.
Nur
eines gab es, das immer noch gewisse Fragen und Zweifel offen ließ.
Es war seine Behauptung, hier nur zu stehen weil er auf einen Freund
wartete. Nahm ihm dies schon früher niemand so recht ab, als er
noch unbekannt und zum Teil angefeindet wurde, so war diese Behauptung
jetzt, nachdem er zur Berühmtheit avanciert war, noch viel weniger
glaubwürdig. Denn welcher Freund hätte nicht längst von
ihm gehört und hätte den Armen endlich erlöst. Außerdem
wollte er partout nicht sagen, wer dieser geheimnisvolle Freund denn
nun überhaupt sei. Man hätte ihn ja benachrichtigen und herholen
können, selbst wenn er sich gerade am andern Ende der Welt aufhalten
haben sollte.
So
offen er sonst über alles sprach, so einsilbig wurde er, wenn es
um diese leidige Frage ging. Und sie wurde ihm natürlich immer
wieder gestellt. Viele mutmaßten, dass es sich dabei bloß
um eine Fiktion handle, eine geschickte Ausrede, oder bestenfalls um
eine symbolische, im übertragen Sinne zu verstehende Figur. Wie
auch immer, man wußte es nicht, und vielleicht war es gerade das,
was das nun schon lang anhaltende Interesse an ihm weiter aufrecht hielt,
ja sogar noch verstärkte.
Den
unser Star hatte längst die internationale Bühne betreten.
Von überall her kamen bereits die ausländische Fernsehteams,
das Wunder zu schauen. Holzwinkel kannte man nicht nur in den Nachbarländern,
sondern weit über Europa hinaus. Von Wellington bis Tokyo, von
Mexiko-City bis Kapstadt, überall erschienen die Berichte über
unseren Ort in Topauflagen. Wissenschaftler ersannen Theorien über
das ungewöhnliche Phänomen, Psychologen, Künstler und
Politiker gaben sich in den Cafès die Klinke in die Hand, Zukunftsforscher
erstellten Langzeitprognosen. Und unsere Homepage www.holzwinkel.online.at
wurde weltweit öfter angeclickt als alle Erotic und Partnersuchseiten
zusammen. Die gesamte zivilisierte Welt nahm an dem Schicksal von Herrn
Wunder teil.
Es
war Herbst geworden, als sich rund um das einst verschlafen Städtchen
Containersiedlungen gebildet hatten, nur um der Besucherschar einigermaßen
Herr zu werden. Alle Frühstückspensionen waren auf Monate
hinaus ausgebucht und einige ihrer Besitzer spekulierten schon mit diversen
Ausbaumöglichkeiten ihrer Etablissements. Im Gemeinderat diskutierte
man ernsthaft, ob man im nächsten Frühjahr mit dem Bau einer
topmodernen Ferienanlage beginnen sollte. Investoren hätten sich
bereits gemeldet, hieß es. In den Gäßchen rund um dem
Markplatz waren Jahrmarktsbuden aus dem Boden gewachsen. Fahrende Händler
machten in kürzester Zeit Rekordumsätze. Am Dorfrand hatten
Schausteller einen Vergnügungspark entstehen lassen. Man sah Feuerschlucker,
Zauberer, Jongleure, Wahrsager, Akrobaten und Raubtierbändiger.
Musik, Tanz und Ausgelassenheit gehörte längst zum Alltagsbild.
Auch
die Industrie naschte eifrig an dem Kuchen mit. Im Nu spannten gefinkelte
Musikmanager eine bekannte Popgruppe vor ihren Wagen. In weniger als
einer Woche wurde ein Wundersong kreiert, der sofort alle Charts stürmte.
Die Auflagen der CD-Verkäufe erreichten schwindelnde Höhen.
Dazu kam der Verkauf von Merchandisingprodukten wie Wunderleibchen,
Wunderkäppis, Wunderkugelschreiber, Wunderarmbanduhren, Wunderhandys,
ja sogar von Wunderzahnpaste und Wunderverhütungsmittel wußte
man zu berichten. Die Welle des Neokapitalismus hatte unser Dorf mit
voller Wucht erfaßt. Nichts war mehr übriggeblieben vom einstigen
beschaulichen Holzwinkel.
So
stand es um unseren Ort, als die ersten Schneeschauer den nahen Winter
ankündigten. Jeremias Wunder war ein nationales Heiligtum geworden,
Bürgermeister Wurzinger ein Held. Was jetzt alle bewegte war die
Frage, wird das Wunder von Holzwinkel den Winter überstehen? Man
erwog, eine geheizte Glaskuppel um ihn herum aufzustellen, doch er lehnte
dieses Entgegenkommen entschieden ab. Man solle sich nicht um ihn sorgen,
so meinte er, es sei bereits für alles gesorgt. Wie das genau zu
verstehen war wußte niemand, doch wagte man nicht, sich gegen
seinen Willen zu stellen.
Der
Gedanke an die kommende Veränderung der Wetterverhältnisse
machte jedoch auch gleichzeitig bewußt, auf welch wackeligen Boden
der neue Reichtum von Holzwinkel stand. Wenn Jeremias Wunder schwach
werden sollte, dann war der Traum zu Ende geträumt und Holzwinkel
würde wieder in seine frühere Bedeutungslosigkeit zurücksinken.
Ein schrecklicher Gedanke, nicht nur für die Gemeindeväter,
sondern vor allem für jene, die direkt oder indirekt am neuen wirtschaftlichen
Aufschwung verdienten. Und das waren nicht wenige.
Der
Gemeinderat lud die Unternehmerschaft zu eine Krisensitzung ein. Man
steckte die Köpfe zusammen, diskutierte, erwog. Um jeden Preis
müsse verhindert werden, dass Herrn Wunder etwas zustoßen
könnte, so die einhellige Bekundung. Ein Ärzteteam solle sich
um seinen Gesundheitszustand kümmern. Eine Katastrophe, wenn er
den kommenden eisigen Temperaturen nicht standhalten würde. Man
war sich einig, dass seinem Gesundheitszustand höchste Priorität
einzuräumen sei. Eine Grippe, eine Lungenentzündung und alles
konnte vorbei sein.
Doch
Jeremias Wunder wollte von all dem nichts wissen. Sanft aber bestimmt
lehnte er jede Fürsorge ab. Es sei für alles gesorgt, war
seine wiederholte Antwort auf dererlei Befürchtungen. Selbst eine
vorgeschlagene Untersuchung durch den Primar der Herzklinik von Ossburg
kam für ihn nicht in Frage. So blieb den besorgten Bürgern
nichts anderes übrig, als auf ein zweites Wunder zu hoffen. Denn
dass jemand den ganzen Winter im Freien stehend, mit nur einem
Staubmantel bekleidet überstehen könnte, daran glaubten sie
allesamt nun doch nicht so recht.
Nun
gut, man mußte sich mit den gegebenen Umständen abfinden,
auch wenn kommende bange Stunden die Winterfreude etwas trüben
würde. Es blieb immer noch die Zuflucht zum Gebet und der Dorfpfarrer
rief auch fleißig alle Gläubigen zur gemeinsamen Fürbitte
an die Heilige Mutter Gottes auf. Sie würde dem Armen ganz bestimmt
beistehen.
So
brachte der Ruhm auch seine Kümmernisse mit sich. Doch wo gibt
es schon Licht ohne Schatten. Man mußte diese Sorge wohl oder
übel in Kauf nehmen.
Und
wie erging es mir in all diesen bewegten Tagen? Rein äußerlich
hatte sich an meinem Leben nicht viel geändert. Ich fuhr nach wie
vor fünf mal die Woche zur Arbeit nach Ossburg und kam abends müde
nach Hause. Nur dass ich nicht mehr im Cafè Kronberger einkehrte.
Der Grund dafür war nicht der, dass man dort seit dem Sommer
kaum mehr einen freien Platz finden konnte. Warum ich mich lieber immer
mehr in meine vier Wände zurückzog, lag an etwas anderem.
Es lag an meinen Gedanken. Denn die waren inzwischen ganz einem einzigen
Thema zugewandt an Ihn. Den ganzen Herbst über hatte in
meinem Herzen die eine Frage gewütet, nämlich die: Wer war
dieser Jeremias Wunder wirklich Ich meinte damit nicht seine äußere
Existenz, die war ohnehin bis ins letzte Detail durchleuchtet und jedem
bekannt. Nein, ich fragte nach seinem Wesen, seinem wahren Wesen, seiner
Seele, wenn man es so will. Beinah mein ganzes Denken, mein Fühlen,
ja mein ganzes Sein, hatte sich in den letzten Monaten langsam aber
stetig immer mehr diesem Menschen zugewandt. Noch nie hatte es in meinem
Leben einen Gegenstand gegeben, der mich derart in Bann zog. Dieser
rätselhafte Mensch, oder sagen wir besser, nicht der Mensch selbst,
sondern das Denken an ihn, war für mich zu einer Quelle der Freude
geworden, gleichzeitig zu einem sicheren Hafen vor Trübsal und
Unzufriedenheit. Ich mochte es zuerst nicht glauben, doch mein Glück
lag tatsächlich einzig und allein im Denken an Ihn. Dies zu Erkennen
war ein derartiger Segen für mich, ein Geschenk, wie ich es noch
nie erhalten hatte. Ich gewahr, dass mein bisheriges Leid einzig
der Negativität meiner Gedanken entsprungen war und nicht, wie
ich früher meinte, aus dem Umstand, in einer durch und durch vom
Leistungs und Konsumdenken beherrschten Gesellschaft leben zu
müssen. Wie hatte ich mich doch täuschen lassen, wie verblendet
war ich gewesen. Indem ich meine Mitmenschen für ihre Schwächen
verachtete, schnitt ich mich selber von der Einheit des Lebens ab und
bohrte mir einen Dolch ins Herz. Wie hatte ich unter der Geisel meiner
Ablehnung zu leiden gehabt, welche Qualen mir selber bereitet. Nicht
dass ich jene Werte, welche ich vormals für schlecht hielt,
nun als gut erachtete. Dies war nicht der Fall. Einzig meine Blickrichtung
hatte sich geändert. Sonst gar nichts. Und das war der springende
Punkt. Denn die war jetzt nach oben gerichtet, sah das Gute, das gleichzeitig
mit dem Schlechten existierte. Und dieses Wunder, das verdankte ich
Jeremias Wunder. In dem ich mehr und mehr in Ihm das Bild des idealen
Menschen erkannte, verlosch in mir der dumpfe Wahn der Ziel und
Sinnlosigkeit meines bisherigen Daseins. Ohne etwas zu tun, ohne ein
einziges Wort an mich zu richten, hatte er alles in mir bewegt. Nie
hatte ich mit ihm gesprochen, ihn nie etwas gefragt und doch hatte er
mir alle Antworten gegeben, derer ich bedurfte. Bloß in dem ich
mich an Ihm ausrichtete, an Ihm orientierte, kam die Unordnung in mir
ins Gleichgewicht. Sein stilles Wesen hatte mich mit ganzer Kraft durchdrungen
und erfaßt, ganz wie ein feiner Wasserfaden einen Schwamm durchdringt
und schließlich füllt. So wie er war, war er mir zum Brennpunkt
meines Lebens geworden. Ebenso gleichmütig gegenüber den Jubelrufen
seiner Mitmenschen wie gegenüber den Anfeindungen, allen in stets
wohlwollender Gesinnung zugetan, unerschütterlich und ausdauernd
in der Durchführung seiner Absichten, dabei sanft, bescheiden und
durch nichts Äußeres zu beeinflussen. Ein Bollwerk im ewigen
Hin und Her des Zeitlichen. Wo hatte ich ähnliches schon erfahren?
Inzwischen
war meine Zuneigung zu ihm soweit gediehen, dass er mich tagsüber
während meiner Arbeit genauso beschäftigte wie in den Abendstunden,
während des Essens ebenso wie beim Zähneputzen, ja die banalsten
alltäglichen Handlungen waren vom Denken an ihn durchdrungen.
Und
dann erschien er mir sogar im Traum. Nacht für Nacht stand er Groß
und mächtig vor mir, wie ein Wesen aus einer anderen Welt, ein
Gott, herrlich anzuschauen in makelloser Reinheit. Wir sahen uns an
und flossen ineinander über, so dass ich nicht mehr wußte,
bin ich ich, oder bin ich Er, oder ist Er ich. Diese Träume waren
reinste Ekstase und mit nichts zu vergleichen. Schon gar nicht mit den
verschwommenen Unwirklichkeiten von gewöhnlichen Träumen.
Sie waren ebenso real wie die Welt im Wachzustand real war, ja noch
viel mehr, viel, viel mehr. Erwachte ich, so schien ich zu träumen,
träumte ich, so wußte ich mich wach.
In
diesem Zustand erkannte ich mich mühelos in Ihm wieder. In diesem
Zustand wurden wir beide ein und das selbe Wesen.
Eines
Morgens, als die ersten verschlafenen Frühaufsteher am Weg zur
Arbeit über den Platz gingen, glaubten sie ihren Augen nicht zu
trauten. Die Stelle an der seit mehr als einem halben Jahr ein Mann
in Staubmantel, Filzhut, Regenschirm und gelber Ledertasche stand, und
den man dort mit der selben Sicherheit anzutreffen gewiß sein
konnte wie den alten, steinernen Kirchturm, diese Stelle war
leer. Das heißt, nicht ganz leer. Am Boden lag, hingestreckt wie
ein zu Tode gestürzter Vogel, die gelbe Ledertasche.
Die
erschrockenen Passanten waren schlagartig hellwach. Alle riefen sie
durcheinander, rannte hierhin und dahin, in der bangen Hoffnung, ihn
vielleicht doch noch irgendwo zu entdecken. Vielleicht war er bloß
um die Ecke gegangen, sich kurz die Beine vertreten, vielleicht mußte
er auch nur einem menschlichen Bedürfnis folgen. Doch wußte
man die öffentliche Toilette um diese Zeit noch versperrt.
Die
Nachricht verbreitete sich in Windeseile und im Nu war das ganze Dorf
auf den Beinen. Der Bürgermeister, die Gemeindebediensteten, die
beiden Gendarmen, der Pfarrer, ja sogar der Bäcker, der Dorfwirt
und der Karl Reinbrechter, alle, alle kamen sie gelaufen. Der Bürgermeister
rief nach bewährtem Rezept zur Ruhe und Besonnenheit auf, man solle
nichts überstürzen, die Sache werde sich mit Bestimmtheit
bald aufklären. Doch niemand glaubte seinen Worten, am wenigsten
er selber. Der Gendarmeriekommandant vermutete ein Verbrechen, eine
Entführung, wahrscheinlich wollte man Lösegeld erpressen.
Schließlich
kam in dem allgemeinen Durcheinander der Pfarrer auf die glorreiche
Idee, doch in die zurückgelassene Ledertasche zu sehen, vielleicht
fände sich darin ein Hinweis auf sein Verschwinden. Alle lobten
die gute Idee und sofort holte man das gute Stück heran, das noch
immer ganz verwaist an seinem Platz lag. Jeder drängte sich gespannt
um den Bürgermeister, als dieser vorsichtig den Verschluß
öffnete. Doch nichts als schwarze, gähnende Leere blickte
den Neugierigen entgegen. Enttäuscht hob er sie hoch, drehe sie,
schüttelte sie, ob sich nicht vielleicht doch eine Kleinigkeit
darin befände. Und siehe da, ein kleiner weißer Zettel flatterte
munter der Erde entgegen. Man hob ihn auf. In schwungvoller Handschrift
war ein einziger Satz darauf zu lesen: Mein Freund ist gekommen,
Jeremias Wunder
Ein
erstauntes Raunen ging durch die Menge, ein Murmeln, viele Ah's und
Oh's. Bald waren auch ärgerliche Worte darunter zu hören,
mancher fand sich gefoppt, betrogen, beraubt. Doch nach und nach wurde
jedem klar, dass dies, so bitter es auch schmecken mochte, das
Ende einer schönen Geschichte war. Alle wußte ja um die immer
gleiche Antwort auf die hundertfach gestellte Frage, warum er denn hier
stehe. Aber niemand hatte die Antwort je ernst genommen. Nun war es
also doch wahr, der Freund war erschienen.
Sofort
rätselte jeder im Stillen für sich, wer denn dieser geheimnisvolle
Freund gewesen sein mochte, den niemand zu Gesicht bekommen hatte. Bestimmt
würde man ihn und seinen Freund noch finden, warf der Bürgermeister
ein, das Gesicht von Jeremias Wunder war ja bekannt wie das eines Weltstars.
So jemand konnte doch nicht einfach so mir nichts dir nichts verschwinden.
Man bräuchte nur abzuwarten, Jeremias Wunder kann nicht verloren
gehen. Diese Worte beruhigten die Gemüter und die Verstörtheit
wich langsam aus den Gesichtern. Man faste wieder eine Hoffnung und
ging einigermaßen beruhigt auseinander.
Doch
so sehr man sich auch Mühe gab, so sehr die Medien die Bevölkerung
landauf landab in Bewegung hielten, Jeremias Wunder und sein geheimnisvoller
Freund wurden nie wieder gesehen.
Ich
aber habe meinen Freund nun für immer bei mir. 24 Stunden am Tag
können wir miteinander sprechen, plaudern und scherzen. Wie durch
einen Wirbelsturm sind alle negativen Gedanken in mir weggefegt worden.
Nichts belastet mich mehr, nichts bedrückt mich. Nicht meine Arbeit
in Ossburg, nicht die Gesellschaft in der ich lebe, nichts. In allem
finde ich Ihn wieder, spiegelt sich mir Sein Glanz. Und durch Ihn hat
alles Sinn und Bedeutung, hat Wert und Seele. Durch Ihn werden mir alle
Geheimnisse offenbart, bleibt keine Frage unbeantwortet. Und dieser
Zustand wird sich nie mehr ändern. Ganz im Gegenteil, immer mehr
und noch mehr tauchen wir ineinander ein, explodiert unsere Ekstase
hinein in Welten, wo Raum und Zeit nie existiert haben. Bis in alle
Ewigkeit, werden wir nie wieder getrennt sein.
Schlußbemerkung
Die
Jahre vergingen, doch die Welt vergißt ihre Helden schnell. Und
wie befürchtet war Holzwinkel in kurzer Zeit in seine ursprüngliche
Bedeutungslosigkeit versunken. Das Leben nahm wieder seinen gewohnten
Gang, der Vierersessellift brachte im Winter die Schneehungrigen auf
die Ochsenkappe. Doch der Segen den der Fremde am Marktplatz einst über
das Dorf gebracht hatte, blieb ihm erhalten. Zwar wurde die topmoderne
Feriensiedlung nie gebaut, auch mußten die meisten Unterkunftsbetreiber
auf ihre geplanten Ausbauvorhaben verzichten, doch als würde ein
unsichtbare Kraft von der Stelle wo er gestanden hatte ausgehen, drückte
die Last der Sorgen weniger hart, fühlte man seinen Kummer weniger
schwer, wenn man dort vorbeiging.
Dies
veranlaßte die Gemeinde dazu, eine Gedenktafel mit zwei vergoldeten
Fußabdrücken in das Pflaster einzusenken. Jeremias Wunder
wurde zum Schutzpatron des Ortes ernannt. Die gelbe Ledertasche, die
fortan wie ein heiliges Relikt behandelt wurde, erhielt im neu erbauten
Heimatmuseum einen Ehrenplatz, gleich am Eingang rechts, unter einer
Plexiglaskuppel. Und der Fremde der nach Holzwinkel kommt, der erblickt
neben der mannshohen Holztafel mit der originellen Aufschrift: Willkommen
in Holzwinkel, einen kupfernen, ziselierten Schild, über dem
die Initialen J W prangen. Darauf hatte der Bürgermeister größten
Wert gelegt. Der Schild aber ist in vier Rechtecke unterteilt, in welche
man jeweils einen eingravierten Gegenstand erkennt. Es handelt sich
dabei, wie könnte es anders sein, um einen Staubmantel, ein Filzhut,
ein Regenschirm und eine Ledertasche.