Der Autor dieser Texte legt Wert darauf, dass die Leserschaft weiß,
dass der Autor jetzt weiß,
dass diese Texte – gelinde gesagt – schlecht sind.
(Stefan Rois 2007)
Chaostheoretiker
Im
Abendrot verschwammen die Stadtrandhügel wie magisch mit dem Rosengewölk.
Der Sendeturm bohrte sich dort hinten in eine mondlose Nacht. All die
Häuser und Straßen hatten ihre Konturen verloren, schliefen
gemeinsam als dort und da blinkendes, von abertausenden Lichtern zersetztes
Schwarz.
Es
ist immer ein berauschendes Gefühl für mich, wenn ich eine
ganze Stadt unter mir sehe. stellte Björn fest, bevor er
wieder an seiner Zigarette zog. Ein kurzes rotes Glühen. Rauch
schwappt über seine Lippen.
Sylvia
besah Björn, dessen Blick sich irgendwo über den Dächern
verlor, von der Seite. Da ihr nichts einfiel, was sie hätte erwidern
können, begann sie mit zärtlichen Bewegungen über seinen
Rücken zu streicheln. Sie wollte ihm zeigen, dass sie zuhörte.
Es
ist unglaublich... Björn vollzog mit den Fingern seiner freien
Hand eine Abfolge kleiner Greifbewegungen, als könnte er die Worte,
nach denen er suchte einfach aus der Luft fischen.
Einfach
unglaublich... begann er schließlich erneut. Ich meine...
ein einzelner Mensch ist isoliert betrachtet bereits so furchterregend
komplex, so unverständlich mit allem versponnen, solch ein gigantisches
Wunderwerk; er ist eine eigene völlig unüberschaubare Welt,
ein Universum für sich.
Björn
spürte noch immer Sylvias Hand auf seinem Rücken, aber sie
lag nun still, schien zu lauschen.
Und
dort unten in dieser Stadt leben dreihunderttausend... dreihunderttausend!
dieser Universen, von denen sich nicht einmal eines selbst auch
nur ansatzweise versteht. Sie leben tagtäglich miteinander. Sie
stoßen immer wieder zusammen, in den unterschiedlichsten Formen.
Allein die Gegenwart, nein die Existenz! des einen beeinflusst das andere
und unzählige andere permanent. Gemeinsam spinnen die Menschen
dieser Stadt ein Netz unvorstellbarer Verstrickung.
Björn
lächelte sanft. Und das ist nur eine Stadt. Bloß
eine etwas größere Stadt in einem ziemlich kleinen Land.
Er
senkte den Kopf, starrte lange auf den Kies zwischen seinen Schuhen,
nahm einen tiefen Zug.
Ein
wahres Paradies für Chaostheoretiker...
Sylvia
verspürte in diesen Momenten Zuneigung für Björn in einem
Ausmaß, für das sie keine Worte fand. Als sie dann seine
Hand in ihre nahm und fest umschloss, war es ein sanfter und andächtiger
Ausdruck ihrer Verbundenheit zu Björn, aber auch ein Festhalten,
denn die Distanz der Bewunderung hatte sich in ihr Empfinden gemischt
und ängstigte sie.
Björns
Lippen legten sich wieder um den dunklen Filterbereich seiner Zigarette.
Ein roter Punkt erhellt das Beisammensein im Dunklen. Ein Fingerklopfen.
Asche fällt.
Scheiße
ist das Leben groß... Björn deutet ein ungläubiges
Kopfschütteln an und grinst. Sylvias Augen strahlen.
Über
den beiden Verliebten rauscht der Wind des Abends im Geäst der
Esche.
Sylvia
beugt sich vor, führt ihren Mund nahe an Björns Ohr. Ein Verharren.
Schließlich ein Flüstern.
Wie
groß das Leben ist!
Sie
legt langsam ihren Kopf auf seine Schulter, schaut hinaus in eine Nacht
voller Universen, doch sieht nur eine Zweisamkeit.
In
Utero
10:43
Aus
dem Gebäude kam eine Frau. Ihre Lippen schienen lautlos nach Worten
zu suchen. Während sie ging, hielt si den Kopf gesenkt. Mit langsamen
Schritten ließ sie das Krankenhaus hinter sich. Sie überquerte
ohne auf den Verkehr zu achten die Straße auf das Hupen
eines bremsenden Autofahrers reagierte sie nicht-, bog um die Ecke und
erreichte das Geschäftsviertel.
Menschen
mit Einkaufstüten, Einkaufstüten mit Menschen; eine nackte
Schaufensterpuppe; bis minus 30 %; Top-Angebot Schlagen sie zu.
Ein
Mann stellte sich der Frau in den Weg. Langer Mantel, altmodische Brille,
Schmutz an den Händen und Schürfwunden im Gesicht.
Hätten
sie ein paar Cent für mich? fragte der Mann.
Für
kurze Zeit standen die zwei Menschen einander wortlos gegenüber.
Dann hob die Frau den Kopf und begann zu sprechen.
Hätten
sie eine intakte Gebärmutter für mich? fragte sie den
Mann. Der sah sie an, als wäre er eben angeschossen worden. Danach
versuchte er einen Augenblick lang zu lächeln, doch der gefrorene
Blick der Frau ließ seine Mundwinkeln erst erstarren und dann
nach unten sacken, was ihm einen Hauch von Schwachsinnigkeit verlieh.
Oder
vielleicht neue Eierstöcke?
Top-Angebot.
Schlagen sie zu.
12:09
Ich
weiß... denen unterlaufen auch... Fehler. Die Frau holte
Luft. Ihre Stimme zitterte. Ja, oder ein... verdammt schlechter
Scherz. Ein ganz mieser Scherz von einem... Arschloch in Weiß.
Einige Momente schwieg sie.
Ich
liebe dich auch. Die Frau nahm das Handy vom Ohr, legte auf und
schob das Gerät zurück in die Manteltasche. Sie zog sich etwas
Rotz in die Nase hinauf und wischte sich dann mit einem Ärmel die
wartenden Tränen aus dem Gesicht.
Sie
atmete durch. Mit geschlossenen Augen.
Das
Klingeln der Straßenbahn. Das Stimmengewirr der Fußgängerzone.
Weiter weg Motoren.
Sie
hob ihre Lider, sah neues Licht.
16:
40
Ein
Junge streichelte der Frau durch das Haar. Er biss sich auf die Unterlippe
und legte den Kopf schief. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten.
Mama...
Hmm...
Die Frau nahm ihren Blick nicht vom Fußboden.
Schau.
Du hast in deinem Leben doch noch nie etwas Verrücktes gemacht.
Der
Ausdruck in den Augen der Frau verlor seine Leere.
Viel
zu wenig, ja...
Aber
wenn du dann eine Glatze hast; dann kannst du das ganz leicht nachholen.
Dann lasse ich mir auch alle Haare abscheren...
O
nein Schatz, deine schönen Locken... lächelte die Frau.
Dann
lasse ich mir alle Haare abscheren und wir ziehen gemeinsam durch die
Stadt, machen nur noch Blödsinn und scheißen darauf was die
Leute über uns denken! Mama, das werden wir machen. Zwei Glatzen
auf Chaostour!
Es
hatte zu regnen begonnen. Der Junge und die Frau hörten wie die
ersten Tropfen gegen die Fensterscheiben fielen.
Ja,
Schatz. Sie küsste den Jungen auf die Stirn und streichelte
seinen Rücken. Das Trommeln der Tropfen füllte das Zimmer.
Das
werden wir machen.
20:15
ICH
!!! HABE !!! KREBS !!!
Manche
ignorierten die Stimme. Die meisten Fahrgäste sahen jedoch für
einen Moment in den hinteren Bereich des Waggons, bevor sie ihre Augen
wieder in die vorbeirasende Dunkelheit schickten oder ihre Köpfe
hinter ihren Zeitschriften versteckten.
Die
Frau stand dort hinten, eine Hand im Haltegriff, ausdruckslose Miene,
die Lider gesenkt. Als wäre nichts geschehen. Als hätte sie
nie den Mund aufgemacht.
Die
U-Bahn hält an. Die Türen werden aufgezogen. Leute raus, Leute
rein. Ein, zwei kurze Blicke im Vorbeigehen. Verstohlene Betrachtungen,
die wie zufällig wirken sollen. Menschen, die vorübergehen.
Menschen, die sitzen bleiben.
Respekt
meine Damen und Herren... wirklich sehr... beherzt... flüsterte
die Frau und begann zu lachen. Erst ganz leise, dann immer lauter, so
schallend als wäre sie verrückt geworden.
Dort
und da ein Kopfschütteln. Na hören sie mal! rief
irgendjemand.
Auf
einmal schnitt sich ein Schluchzen in das Gelächter der Frau und
Tränen quollen hervor. Sie brach nieder, krümmte sich auf
dem Boden des Abteils zusammen, presste ihr Gesicht an ihre Schulter
und weinte los.
Die
Lautsprecher spuckten Zug fährt ab!. Die Türen
schlossen, die U-Bahn setzte sich in Bewegung, verschwand aus der beleuchteten
Zone und wurde erneut von der Schwärze des Tunnels verschluckt.
Nächster
Halt Zivilcourage.
Kick
Donner.
Ein riesiger Hammer der auf dickes, elastisches Blech niederfährt.
Hundert treibende Pauken. Raubtiergebrüll.
Blitz.
Eine plötzliche, gleißende Erkenntnis eines erbosten Gottes.
Ein Riß im Himmelstuch. Für Sekundenbruchteile offenbart
sich eine Leiter ins Universum.
Ich
stand am Fenster.
Die
Mauern meines Zimmers schienen zu flackern wie eine defekte Glühbirne.
Alle paar Augenblicke erhellten sich die Winkel. Alle paar Augenblicke
bekamen die Konturen der Gegenstände ein Gesicht.
Draußen
rollten die Donner über nassen Asphalt und brodelten durch die
zerschnittene Dunkelheit. Die Baumkronen taumelten, träge und trotzig,
sie suchten Halt; und alles tanzte bei ihnen bis in die letzten
Blätter. Was für eine Nacht.
Ich
liebe Unwetter. Wenn alles rauscht und knickt und der Sturm regiert,
der Regen die Luft mit seinen Lanzen flutet, die Natur in bizarrer Finsternis
mit sich selbst kämpft; dann ist es für mich, als ob die Welt
am Abgrund steht und im Begriff ist einfach auseinanderzubrechen, Schluß
zu machen mit all dem Theater.
Ich
stand am Fenster.
Ich
bin nicht gewöhnlich. Damit meine ich: Ich glaube, dass die allermeisten
Menschen, wenn sie mich kennenlernen, Vieles sehen und erfahren, das
sie so noch nie erlebt haben. Ich mache beispielsweise Dinge, die anderen
sinnlos, verrückt, wahnsinnig erscheinen. Und ich mache solche
Dinge oft.
Ich
stand am Fenster.
Jetzt
bin ich im Garten.
Der
Wind zerrt an meinen Kleidern und strömt massiv über meinen
Körper. Er scheint beständig seine Angriffsrichtung zu wechseln.
Ein naher Blitz bricht aus dem Sternenfeld.
Ich
will Fußball spielen. Ich will in diesem Szenario des Untergangs
ein paar Haken schlagen, imaginären Gegnern den Ball durch die
Beine spielen und aus vollem Lauf ins Sträuchertor treffen. Schwerfällig
und irgendwie neu sind meine Bewegungen. Wasser und Luft wüten
um mich, während ich mit meinen Sohlen über das Leder streichle
und mit einem Fersentrick glänze. Manchmal treibt mir der Wind
den Ball davon. Der Regen ist schneidend hart und derartig dicht, dass
ich durch zugekniffene Augen nur ein paar Meter weit sehe (Vollristschuß!)und
so erscheint mir dieser Garten wie eine unerreichbare, gespenstersatte
Insel. (Fallrückzieher!) Er ist die ganze Welt, von allem abgeriegelt,
von allem gelöst. Ich bin im Exil der Alpträume. (Er sieht
die Lücke!) Am Ende der Wirklichkeit. (Golden Goal!) Im Gartenstadion.
Plötzlich
überkommt mich ein großes Gefühl von Freiheit. Allein
und (für diese traumtrunkenen Momente) ohne Halt in der Realität
glaube ich ein gigantischer Vogel aus stählernem Licht zu sein.
Ich rufe in das Gesicht des Gewitters. Jedes Wort wirkt wie eine Hymne.
Ich lache. Alles ist voll von Bedeutung und Größe und frei
von Lügen und Fesseln. Ja! Diese Welt kann ich lieben.
Und
dann.
Irgendwann
falle ich erschöpft ins Gras. Das kalte Wasser kriecht durch den
Stoff zu meiner Haut, legt sich in einem dünnen tropfenden Film
auf meinen Körper. Egal. Ich ringe nach Luft. Meine Gedanken. Mein
Befinden.
In
den Wolken herrscht Krieg. Der Himmel kracht und kracht. Meine Finger
spüren die Nähte meines Fußballs. Da sind wir. Drei
Freunde im Jenseits der Alltäglichkeit. Ein Garten, ein Ball und
ein Mensch.
Ich
liege im Garten.
Ich
stand am Fenster.