Was muss einer fürchten, was darf einer hoffen, der 1947 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrt? Nach ihrem gefeierten, 2008 erschienenen Buch »Shanghai fern von wo« geht Ursula Krechel mit ihrem neuen großen Roman »Landgericht« noch einmal auf Spurensuche. Die deutsche Nachkriegszeit, die zwischen Depression und Aufbruch schwankt, ist der Hintergrund der fast parabelhaft tragischen Geschichte von einem, der nicht mehr ankommt. Richard Kornitzer ist Richter von Beruf und ein Charakter von Kohlhaas’schen Dimensionen. Die Nazizeit mit ihren absurden und tödlichen Regeln zieht sich als Riss durch sein Leben. Danach ist nichts mehr wie vorher, die kleine Familie zwischen dem Bodensee, Mainz und England versprengt, und die Heimat beinahe fremder als das in magisches Licht getauchte Exil in Havanna. Ursula Krechels Roman lässt Dokumentarisches und Fiktives ineinander übergehen, beim Finden und Erfinden gewinnt eine Zeit atmosphärische Konturen, in der die Vergangenheit schwer auf den Zukunftshoffnungen lastet. Mit sprachlicher Behutsamkeit und einer insistierenden Zuneigung lässt »Landgericht« den Figuren späte Gerechtigkeit widerfahren. »Landge-richt«, der Roman mit dem doppeldeutigen Titel, handelt von einer deutschen Familie, und er erzählt zugleich mit großer Wucht von den Gründungsjahren einer Republik.
„Der schönste und zugleich doppelbödigste deutschsprachige Roman des Herbstes.“
Andreas Platthaus, FAZ
Wo die Entfernung ein Leben zerstört
Akten sind keine schöne Literatur. Weil ein Wort allein nichts gilt, muss man in ihnen blättern, um etwas zu belegen oder zu widerlegen. Und das bringt nur selten Spaß. Froh ist derjenige, dessen Ordner eine dicke Staubschicht bedeckt. Aber: Manchmal muss man Akten auch sehr dankbar sein. Dann, wenn aus ihnen etwas so Großartiges entsteht wie der Roman "Landgericht" von Ursula Krechel. Die in Berlin lebende Autorin hat sich durch sterile Archive gearbeitet, um Zeiten lebendig werden zu lassen, die das Zusammensein in Deutschland bis heute prägen, obwohl sie häufig so fern erscheinen: die dreißiger und vierziger Jahre, in denen Hunderttausende "Andersartige" vor dem NS-Regime flüchteten, ihr anschließendes Leben im Exil und ihre beschwerliche Rückkehr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Angesichts dieser Themen von vergnüglicher Lektüre zu sprechen wäre also auch bei Krechels stark dokumentarischem Buch unzutreffend. Eher passend: Adjektive wie beklemmend, eindrücklich und horizonterweiternd. Über ihr Aktenstudium tastet sich die 64-jährige Schriftstellerin ("Landgericht" ist ihr zweiter Roman nach "Shanghai fern von wo") in die Welt ihres fiktiven Protagonisten Richard Kornitzer hinein, sucht behutsam nach den adäquaten Worten. Der jüdischstämmige Jurist steht am Anfang seiner Karriere, als der Verfolgungswahn der Nazis seine junge Familie auseinanderreißt. Seine zwei Kinder, gerade erst lauffähig, finden Zuflucht in einer englischen Quäker-Gemeinde. Er allein erhält ein Visum für Kuba - er wird "gezwungen, freiwillig zu gehen", schreibt Krechel. Kornitzers Frau, protestantisch und somit nicht lebensbedroht, muss dagegen in Hitlers Reich ausharren.
Als Kornitzer in die frisch gegründete Bundesrepublik zurückkehrt, versucht er zwischen Ruinen wieder Beziehungen aufzubauen - zu seiner Frau, zu seinen Kindern, zu seiner einstigen Heimat. Schnell jedoch spürt er, dass der Krieg in allen Bereichen "irreparable Schäden" hinterlassen hat. Er will als Landesrichter in Mainz mithelfen, ein demokratisches System zu etablieren, spürt aber noch die Diktatur im Rücken. Du bist keiner von uns, da du nicht mit uns im Bunker gekniet hast, als draußen die Bomben einschlugen, geben ihm seine Mitbürger zu verstehen.
Immer ermatteter kämpft Kornitzer dafür, entschädigt zu werden für das ihm widerfahrende Unrecht - und scheitert, weil den Nazis sein Schicksal während des Kriegs keine noch so kleine Aktennotiz wert war. Dafür braucht es erst einen Roman wie diesen.
Johan Dehous, Kulturspiegel 10/12
Januar 2014: Frank Arnold erhält den Deutschen Hörbuchpreis für seine Interpretation von "Landgericht" (Audiobuch). Aus der Begründung der Preisjury: "Frank Arnold macht sich lesend zum sprachlich-markanten Anwalt von Ursula Krechels Roman „Landgericht“. Sein wirkungsvoller Einsatz rhetorischer Mittel, die gekonnte Variation von Rhythmus, Tempo und Modulation, das stimmliche Konturieren von Personen und Situationen sowie das analytische Abtasten der Erzählstruktur des Textes machen seine Lesung zum außergewöhnlichen Hör-Erlebnis.
„Es ist gerade die große Leistung dieses Romans, eine Geschichte zu erzählen und tausend andere Geschichten mitzubedenken.“ Ulrich Rüdenauer, taz
„Der schönste und zugleich doppelbödigste deutschsprachige Roman des Herbstes“ Andreas Platthaus, FAZ
„Manchmal muss man Akten auch sehr dankbar sein. Dann, wenn aus ihnen etwas so Großartiges entsteht wie der Roman "Landgericht" von Ursula Krechel.“ Johan Dehoust, kulturSPIEGEL
„Romane wie dieser sind selten. Ursula Krechels «Landgericht» ist ein Glücksfall.“ Martin Zingg, NZZ
„Ein großer Roman.“ Katrin Hillgruber, Literaturen
„Ursula Krechel folgt empathisch den Lebensspuren der Marginalisierten und skizziert dabei ein intensives Lebensbild des Heimatverlusts.“ Michael Braun, Tagesspiegel
„Wer so schreiben kann wie die bislang viel zu wenig beachtete Spitzen-Lyrikerin Ursula Krechel, der erreicht trotz akribischer Akteneinsicht, für die sich "Landgericht" auch ausgiebig Zeit nimmt, das Herz seiner Leser und sein Ziel." Angela Wittmann, Brigitte
„Es brauchte Ursula Krechel, um dieses wahrheitsliebende, schöne und wirklich einzigartige Buch in die Welt zu bringen.“ Andreas Isenschmid, Die ZEIT
"Die Lyrikerin hat für ihren erst zweiten Roman im vergangenen Herbst den Deutschen Buchpreis erhalten – zu recht." BZV
http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/k/ursula-krechel-landgericht.htm
Heimkehr einer Rumpfexistenz
Der Jude Dr. Richard Kornitzer, so heißt die Hauptfigur in Ursula Krechels neuem Roman "Landgericht", kehrt 1948 als Displaced Person nach zehnjähriger Odyssee zurück aus Kuba. Bereits 1933 wurde der Gerichtsassessor am Landgericht Berlin in den Ruhestand versetzt, die Restriktionen und Gängeleien nahmen nach und nach zu. Dass er mit der "Arierin" Claire, einer modernen, selbstbewussten Geschäftsfrau, verheiratet ist, schützt ihn zunächst noch - aber spätestens Ende der 30er wird die Situation immer bedrohlicher. Ihre beiden Kinder Georg und Selma schicken sie per Kindertransport nach England, um sie zu schützen und ihnen eine Zukunft zu ermöglichen. Die Pläne, ihnen nachzufolgen, scheitern. Kornitzer lernt in Kuba Spanisch, erledigt Hilfsarbeiten für einen Anwalt, gerät in eine Emigrantenszene aus Kommunisten und Sozialisten.
Ursula Krechel schildert diese Welt aus "transitorischen Existenzen" äußerst eindringlich, anknüpfend an Peter Weiss "Ästhetik des Widerstands". Dabei verflicht sie Dokument und Fiktion so, dass man immer auch die Nähte sehen kann. Dieses Verfahren der Collage prägt wie schon ihren letzten Roman "Shanghai fern von wo" auch dieses Buch: Man merkt ihm die enorme Sachkundigkeit der Autorin an, auch die Akribie, mit der sie ihre Leser über das Gefundene unterrichtet, um es mit dem Erfundenen kunstvoll zu verbinden.
Kornitzer kehrt als gebrochener Mann zurück - als "Rumpfexistenz". Und zugleich möchte er am Aufbau eines anderen Deutschland mitwirken. Zunächst scheint ihm der Weg zurück offen zu sein. Er bekommt eine Stelle am Landgericht. Aber bereits die Bürde, mit ehemaligen Mitläufern und jenen "furchtbaren Juristen" des Dritten Reichs zusammenarbeiten zu müssen, lastet schwer auf ihm. Die Forderungen nach Wiedergutmachung werden nur schleppend oder gar nicht bearbeitet. Und die Zerrissenheit der Familie zeigt sich deutlich in der Entfremdung der in England aufgewachsenen Kinder, die nicht zu den Eltern zurückkehren wollen. Der Kampf ums pure Überleben weicht Verzweiflung. Und der traurigen Erkenntnis, allein zu sein mit seinen Erfahrungen. Kornitzer wird darüber zu einem Kohlhaas, der Petition um Petition schreibt, Klage um Klage erhebt, schließlich aber zusehends verbittert, sich quält, krank wird, am Körper und an der Seele.
Die 1947 in Trier geborene, in Berlin lebende Ursula Krechel arbeitet intensiv mit dem Archiv und hält uns ihre Fundstücke nicht vor. Die Klarheit des Faktischen wird in Literatur verwandelt: Das Zeithistorische reichert sie an mit Leben; jene Lücken, die von den Akten belassen oder erst aufgerissen werden, füllt Krechel einfühlsam und dezent.
Das macht die Qualität von "Landgericht" aus: Es wird nicht alles in Erzählung aufgelöst. Es ist gerade die große Leistung dieses Romans, eine Geschichte zu erzählen und tausend andere Geschichten mitzubedenken. Deshalb muss sich dieser Roman immer wieder vom Einzelnen entfernen, wegzoomen von Claire und Richard, um sie dann umso schärfer wieder in den Blick nehmen zu können. Und so jenen ein Denkmal zu setzen, die in Geschichtsbüchern nur als statistische Größe einen Auftritt haben.
Ulrich Rüdenauer, Südwestpresse