Heft 16 ist erschienen.

Aus dem Logbuch für …

 

… Oktober 2018:

Intensive Suche nach Rastplatz durch alle sieben Weltmeere; schließlich Kalmenzone gefunden. Prächtige Stimmung auf Gaffeln und Rahen.

 

 

… November 2018:

 

Irene Klaffke: Vögel fliegen übers Dach (2018). Federzeichnung, schwarzer Buntstift. Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

DRONTEN ÜBER DER STADT
dröhnen in den Ohren

Doo – doo werden wir
vor ihrem Angesicht stammeln

Die Evolution verzeiht
nicht den kleinsten Fehler

Die Schnäbel behielten sie
lernten das Übrige

von einem plump vertrau-
lichen Laborpraktikanten

 

   Cornelius van Alsum

 

 

… Dezember 2018:

 

St. Petersburg 2

Mit einmal locken Lichtrauten uns in sonst dunkle Hinterhöfe. Beleben für kurze Zeit Glassplitter und eine blinde Laterne.
Das die ganze Stadt durchziehende Netz aus Oberleitungsdrähten hat sich auch hier festgesponnen.
Als wir aus dem kühlen Hinterhof wieder auf die Straße treten, hat die Zeit solange gewartet: Die Autos haben stillgestanden und fahren, zugleich mit dem Wind, wieder los. Auch der Regen setzt erst jetzt wieder ein; der sanfte Regen, der vielleicht nur eine Brise vom Meer ist, eine permanente Brise, die das Rot von den Häuserdächern wäscht, von anderen das Grün.

 

Christine Kappe

 

 

… Januar 2019:

 

Aquaphobie
für Paul van Ostaijen (1896–1928)

 

Wie der Dichter
und sein Schimpanse
denke ich oft an die Nordsee.
Wie der Schimpanse
denke ich immer wieder,
das Wasser der Nordsee
ist mir zuwider.
Ich lasse mich im Neandertal nieder.

 

Romain John van de Maele

 

 

… Februar 2019:

 

Das Numinose

 

geht niemals allein außer Haus
denn es ist nackt und bloß und
kennt uns all nicht denn es hat
ja doch alles schon immer ge=
wußt : dies namenlose Grauen

 

     für R. P.

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… März 2019:

 

das humane kapitel

 

verschwunden im wirtschafts

wunde

   

Caroline Hartge

 

 

… April 2019:

 

Irene Klaffke: Flatterulme – Baum des Jahres 2019. Bleistiftzeichnung. Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

… Mai 2019:

 

Projektionsfläche sticht Standbild: Schon durch Peter Shaffers Theaterstück und Drehbuch „Amadeus“ hat Mozarts vermeintlicher Rivale Antonio Salieri, dort gegen den musikgeschichtlichen Befund zum Patron der Mittelmäßigen ausgerufen, stark an Publikumsinteresse gewonnen. Dem Geniekult, von dem Mozart lange Zeit profitierte, wird aber erst so richtig Paroli geboten, seit Internetportale mit Kommentarfunktion breitesten Raum für noch so unberufene Rehabilitationen, Ehrenerklärungen, Solidarisierungen und kaum verhohlene Identifikationen bieten.

  

Cornelius van Alsum

 

 

… Juni 2019:

 

St. Petersburg 6

Die eigentliche Apokalypsenjahreszeit ist der Sommer!

Auf der Straße, wenn weit & breit kein Auto zu sehen ist, riecht es plötzlich nach Abgasen, die irgendwo aus der Erde gekrochen kommen, und die verrammelten Gebäude gleichen von innen faulenden Palästen.

Wenn nur das der Tod wäre: in der Sonne auf dem Balkon zu schlafen und ab und zu aufzuwachen … ich würde ihn ertragen. Die Stimmung aber hier macht mir Angst. Die Wolken sind zu dicht gewebt. Ich fürchte, dass mir das Lachen schmerzt und solche Dinge, wirklich schreckliche Dinge …

  

Christine Kappe

 

 

… Juli 2019:

 

Sedimente für Seelenforscher

 

Mit siebzig hat man keine Träume,
es wachsen nur wenige Bäume
im Wintergarten des Lebens.
Was gewesen ist, hat sich abgelagert
in der Deltamündung
der verpassten Chancen:
Sedimente für Seelenforscher.

 

Romain John van de Maele

 

 

… August 2019:

 

Aus Herigunds Reich

 

Im ersten Licht
Im blauen Hag
Es setzt sich was
Im Haine auf
Es tschilpt
Es fiept
Es flattert fex
Ei ei ein Ei=
Chelhäher
Tagt

 

        für G. E.

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… September 2019:

 

ich kann nicht mehr engel schreiben

 

es wird immer

enger draus

 

Caroline Hartge

 

 

… Oktober 2019:

 

Irene Klaffke: Aronstab – Giftpflanze des Jahres 2019. Bleistift, schwarzer Buntstift. Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

… November 2019:

 

Aphorismen

 

Merke: Wer dagegen ist und trotzdem dazu gehören möchte, wird am Ende dafür gewesen sein und trotzdem nicht dazu gehört haben.

Ehrlichkeit ohne Höflichkeit ist eine Grobheit; Höflichkeit ohne Ehrlichkeit ein Widersinn und also eine Teufelei.

Pasiphaes Lieferservice: Der Werbeslogan „Ich will ein Rind von dir“ beweist außer schlechtem Geschmack auch eine umfassende Traditionsvergessenheit. Die Gemahlin des Minos könnte heutzutage trotz ihres mythisch schlechten Rufs sofort bei einem gewissen Lieferdienst anfangen.

Wer die restlose Gleichheit aller Lebensverhältnisse anstrebt, setze nur immer auf Nullen als Multiplikatoren.

 

Cornelius van Alsum

 

 

… Dezember 2019:

 

St. Petersburg 5

Die Sprache ist – ebenso wie die Stadt – eine großartig angelegte Bühne. Aber sie wird ja wirklich benutzt! Zu meiner Verwunderung hantieren sie leichtfüßig mit Wörtern, von denen jedes zweite so schwer und verziert ist wie ein Kronleuchter in einem Traum von Dekabristen. Im Gegensatz zu den Bolschewisten haben die sich selbst riskiert und nicht andere Menschenleben. Katja träumt davon, nach Sibirien zu fahren, einst, dorthin, wo … nein: Gott lebt in Norwegen, aber in Sibirien der Geist der Dekabristen.

 

Christine Kappe

 

 

… Januar 2020:

 

Brauerei der Parkabtei, Herbst 2019

Hier vollzieht sich eine Wiedergeburt. Die alten Gebäude der Parkabtei sind geschützt, und fast alle Mauern und Dächer sind renoviert. Wie auf dem Gemälde Volkszählung zu Bethlehem von Pieter Bruegel dem Älteren hat sich vor einer Tür eine große Menge Besucher versammelt. Sie wollen sich die erneuerte Brauerei anschauen, und vor allem wollen sie das Bier probieren. Keine kleinen Schlückchen! Keiner liest, was auf jeder Flasche steht: ne quid nimis. Es gibt fast keine Mönche mehr, und Himmel und Hölle sind antediluviale Begriffe. Libertus – first limited editionwird aber vielen Besuchern die Hölle heißmachen. Was bedeutet ne quid nimis, wundert sich ein alter Mann, der ausnahmsweise die Beschriftung gelesen hat. Seine Frau weiß Bescheid: Es ist nur der Wahlspruch der Mönche, sonst gar nichts.

 

Romain John van de Maele

 

 

… Februar 2020:

 

Anfang Februar

 

Auf den Gräsern liegt am Morgen Rauhreif,
der in der wiedergeborenen Sonne schwindet,
während die Schnecke lange schon heimgekehrt ist.

Die Krähen sitzen in den lichten Bäumen
wie wartende Totengräber.
Sie wissen, daß der Winter bald stirbt.
Manchmal fliegt eine von ihnen auf.
Dann steht der Himmel offen,
und die Welt wird ein Haus.

 

für G. E.

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… März 2020:

 

das motorsägenkreischen

hängt seit tagen überm quartier

 

heute

hundert kraniche.

 

Caroline Hartge

 

 

… April 2020:

 

Irene Klaffke: Naturstudien (1965). Federzeichnung. Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mai 2020:

 

Aphorismen

 

Im Hofstaat der Ironiker fällt dem Ernsthaften die Rolle des Narren zu.

Den Unglücklichen zur Warnung: Jede Berufung ist ein Schicksal, aber nicht jedes Schicksal eine Berufung.

Nach Hegel beginnt die Eule der Minervaerst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. Das ist mißlicherweise ein Zeitpunkt, vor dem die Zwerge bereits Schatten geworfen haben. Insofern gehört ein gewisses Maß an Kulturpessimismus zum philosophischen Eulendienst dazu.

Sollte man „Aphorismus“ mit „Gedankensplitter“ verdeutschen? Bedenkt man, wie wenig sich gerade in dieser Gattung herbeizwingen läßt, wie viel sich andererseits beiläufig durch das Nachdenken über größere Zusammenhänge ergibt, so wäre „Gedankenspan“ zutreffender.

 

Cornelius van Alsum

 

 

… Juni 2020:

 

Kleines Essay über laufende Motoren

Wenn etwas vor unserer Haustür brummt, ist es nicht der Verkehr, sondern Autos, die da mit laufenden Motoren warten. Immer ist das so. Im Winter, weil sie nicht frieren und die Heizung anmachen möchten. Im Sommer wollen sie nicht schwitzen und haben die Klimaanlage laufen. Im Frühling können sie sich nicht so schnell von ihren Verwandten verabschieden, aber den Motor haben sie schon angeworfen. Im Herbst können sie sich nicht entscheiden, wo sie hinfahren, aber der Wagen rappelt schon mal. Es brummt und summt, auch wenn sie längst nicht mehr vor unserem Haus stehen, vibriert es in meinem Kopf. Mich überkommt dann eine furchtbare Unruhe, ich denke, ich müsste das Fenster aufmachen und rausbrüllen, oder das Fenster zumachen. Oder die Polizei rufen oder mich nicht so anstellen. Und ich ahne: Ich werde es nie ändern. Doch warum stehen sie ausgerechnet vor unserem Haus?

 

Christine Kappe

 

 

… Juli 2020:

 

Hier, wo Licht und Flut
meine Sprache beherrschen,
fliegen Möwen immer leise
meiner Wehmut vorbei.

Das Wasser singt heiter
das ewige Versprechen
von einem neuen Tag,
bis ich die Farben
mit geschlossenen Augen
dem Papier anvertraue.

 

Romain John van de Maele

 

 

… August 2020:

 

Krabbe

 

Im Watt
traf ich dich
kleiner Freund
sah dich flinken Beins
hinrennen in eines Kindes
sicheren Sandburghafen :
der setzte dich leider
in Haf
t

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… September 2020:

 

eben noch stand es
in den wohnzimmergardinen und sang mit heller stimme
den morgenstern aus; jetzt

schickt es aus einer anderen zeitzone
ein bild von den himmelsgardinen
(und kann aurora mir erklären)

 

Caroline Hartge

 

 

… Oktober 2020:

 

Drei Haiku (Sommer 2020)

 

Abendsonne scheint
über die fernen Laute
tausender Puten

 

Die Wespen knistern
aus der Tapete dringen
vor in die Träume

 

Als ich Angstblüte
denke bäumt sich ein Wiesel
Wir schauen uns an

 

Cornelius van Alsum

 

 

… November 2020:

 

Die Amseln trotzen den Katzen

 

In die Landschaft schauen
nichts weiter
Nichts trinken, nichts schreiben
nichts verlieren

Bei den Nachbarn sieht man niemanden am Fenster
Kein Licht, nur frische Blumen
Es regnet in die Schornsteine
Die Amseln trotzen den Katzen

 

Christine Kappe

 

Irene Klaffke: Die Amseln trotzen den Katzen. – Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

… Dezember 2020:

 

Winter in Jütland, 1972

 

Ich höre wie meine Füße und die Erde mit einander sprechen und wie die Vögel Kälte voraussagen. Meine Finger und meine Augen wissen schon längst Bescheid, wenn Bodils Hund ins Gestrüpp verschwindet. Nach einer langen Wanderung ohne Ziel pfeife ich, und der Hund ist sofort wieder bei mir. Er hört wie ich meine Gedanken dem peitschenden Wind anvertraue und bestätigt als einziger Zeuge meiner Willenserklärung, dass ich hier nach vielen Meditationen eingeäschert werden will. Warum das Nordlicht mich eingeladen hat, weiß nur der Sturmvogel. Weder Wotan noch die Walküren sollen mir das Fell über die Ohren ziehen.

 

Romain John van de Maele

 

 

Alle Rechte an den Logbucheinträgen liegen bei den Künstlerinnen und Künstlern.