Geplant war Ewigkeit (4)

24. Januar 2014

“Bist du müde?” frage ich Vater.

“Was?!”

“Ob du müde bist.”

“Müde?!”

“Ja, müde. Bist du müde?”

Sein weißes Haar steht wirr in der Luft, wie nach einer Razzia. Er überlegt eine Weile. Dann:

“Ich bin nicht glücklich. Ich bin deprimiert. Und müde.”

*

“Wenn du gleich nach Hause kommst, ist dann der älteste Sohn da?”

Einen Moment denk ich, dass er mich vielleicht mit meinem Bruder verwechselt, der hat zwei Söhne. Vater schaut mich verzweifelt an. Er ahnt, dass er etwas gesagt hat, das irgendwie nicht stimmt, doch er kann es nicht gerade rücken, nicht berichtigen, weil er nicht mehr genau weiß, was er gesagt hat. Nur, dass irgendetwas damit nicht stimmt.

Ich glaube, mit ältestem Sohn meint er Sanne.

“Ja”, antworte ich, “Sanne ist da, wenn ich gleich nach Hause komme.”

Sein Blick glüht vor Freude, dass ich ihn verstanden habe.

*

Als das Abendbrot kommt, helfe ich ihm in die Sitzposition. Sagen wir, in eine halbwegs aufrechte Liegestellung.

“Noch was höher das Kopfteil?”

“Nee, ist schon gut. Ist schon gut.”

Ich schmiere ihm ein Brot mit Butter und Käse, schneide es in kleine Stücke und füttere ihn. Dazu gibt es roten Tee. Wie im Altenheim. Da gibt es auch immer roten Tee. Alte Leute trinken roten Tee, ob im Krankenhaus, im Sanatorium, im Altenheim, im Demenzclub der Busch-Stiftung, im Hospiz. Das scheint Gesetz zu sein. Wenn ich demnächst alt bin, will ich auch roten Tee haben. Oder wenn ich tot bin. Dann spiele ich alter Mann und saufe im Himmel kannenweise Früchtetee, ihr Arschgeigen.

Vater war schon immer ein langsamer Esser, doch seit er zunehmend Hilfe benötigt beim Essen, isst er noch langsamer. Er scheint jeden Bissen im Mund fünfzig Mal hin- und her zu wälzen, umzudrehen, zu kauen und zu prüfen, wie ein Edelsteinhändler, der neuerdings in Graubrot macht.

Aber ich bin ein geduldiger Mensch. Genauso geduldig wie die Menschen in meiner näheren Umgebung geduldig mit mir sein müssen. Ich bin nämlich meines Vaters Sohn. Wir sind vom langsamen Schlag. Er kaut und kaut und kaut. Und kaut und kaut. Und wenn ich zwischendurch die Geduld verliere und schon das nächste Stückchen Brot mit Käse nachschieben will, obwohl er noch was im Mund hat und kaut, funkelt er mich böse an.

“Willst du mich ersticken?”

Die gleichen Worte, mit denen er sich früher bei Mutter beschwerte, wenn ihr eine Speise zu trocken geraten war, für seinen Geschmack.

Die Scheibe Mortadella verlangt er ohne lästiges Brot und mümmelt die Wurst in sich hinein. Nicht nur das Abendessen, auch die Medikamentengabe zur Nacht nehme ich den Schwestern ab, die nirgends so unfreundlich sind wie auf dieser Station. Durch die Bank zickige Tanten, spezialisiert auf patzige Antworten und Selbstgerechtigkeit.

“Dazu darf ich Ihnen nichts sagen.”

“Müssen Sie warten, bis der Doktor kommt.”

“Müssen Sie warten, bis der andere Doktor kommt.”

“Der Doktor kommt erst morgen. Der kann Ihnen mehr sagen. Wir wissen nichts. Und selbst wenn wir etwas wüssten, dürften wir es Ihnen nicht sagen.”

Immerhin erhalte ich auf meine Frage, ob es medizinisch unbedingt nötig gewesen sei, Vater ins Klinikum zu überweisen, prompt eine Antwort, von Stationsschwester Monika, dem schläfrigen Monstrum:

“Ja.”

Mehr dürfe sie nicht sagen, klar. Aber soviel rückt sie dann doch raus: was den Blutzucker betrifft, musste die Medikamentation neu eingestellt werden. Die Werte seien öfter mal im Keller, dann wieder im Himmel. Das erklärt auch den Traubenzucker, der sich neuerdings stets griffbereit in Vaters Nähe befindet, als erste Hilfe, falls ihm schwarz wird vor Augen.

“Ich kann nicht mehr”, prustet Vater, und einige feuchte Bröckchen Brot fliegen durchs Bett.

“Genug?”

“Ja. Ich bin satt.”

Mit einer Papierserviette berge ich Krümel von seinem Mund und von der Bettdecke, eine Aktion, die er mit weit aufgerissenen Augen verfolgt.

“Wo ist mein Alligator?”

Ich schaue mich im Zimmer um. Der Bettnachbar ist immer noch nicht zurück, seit er sein Tablett auf den Gang rausgebracht hat. Auch sonst gibt es nicht viel zu sehen. Schon gar keinen Rollator, den Vater nur noch Alligator nennt.

“Den hast du doch bestimmt im Heim gelassen, oder nicht?”

“Bei Gisela? Hab ich den bei Gisela vergessen?”

“Wieso bei Gisela?”

Gisela ist eine Bekannte aus besseren Tagen, die er seit bestimmt zwei Jahren nicht mehr getroffen hat.

“Von der Gisela hab ich heut Nacht geträumt”, meint Vater und neigt mir vertraulich den Kopf zu. “Obwohl es bei ihr nicht mehr viel zu träumen gibt.”

Er gluckst schelmisch.

Bald ist der Rollator vergessen, Gisela ist vergessen, das Abendbrot ist vergessen. Und plötzlich wird er ernst.

“Ich hab manchmal Angst, Andreas”, sagt er. Wenn er mich beim Vornamen anspricht, weiß ich, dass es dicke kommt. “Angst davor, was kommt.”

Und so oft ich auch sonst blöde Gegenfragen stelle, aus lauter Hilflosigkeit, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, in diesem Moment halte ich meine Klappe und sage gar nichts. Ich weiß natürlich, dass er unter all der Dunkelheit um ihn herum leidet, unter der Einsamkeit, und das wir Kinder ihm dabei nicht groß helfen können, so oft wir ihn auch besuchen.

“Haben wir nichts Süßes hier?” fragt er.

“Hm, ich kann was holen, unten in der Cafeteria.”

“Würdest du das tun?”

“Na klar. Bin schon unterwegs.”

Ich kaufe eine Packung Kaffeegebäck Schoko-Traum, die er fast alleine verputzt.

Waffelröllchen, Biscuit.

“Du haust aber ganz schön rein.”

“Ja nun, was soll ich sonst machen? Was bleibt sonst noch übrig? Soll ich auf meine alten Tage das Rauchen anfangen?”

Er greift ein letztes Mal in die Kekspackung und entnimmt ein Plätzchen. Von der Wärme im Krankenzimmer ist die Schokolade geschmolzen und bleibt an seinen Fingern kleben. In den folgenden Minuten, die wir schweigend verbringen, muss er sich mit der Hand durchs Gesicht gewischt haben, denn das nächste, was ich sage, als ich ihn mir näher betrachte, ist bloß ein einziges Wort, he,

“Schokoschnute!”

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