III,64 – hébété … u.a.

III,64 – hébété

Vom Tabaccaio zurück bewegte sich im Windhauch ein leichter Plastikbeutel im Hofeingang, formte und verformte, hob und senkte sich, blieb dann wie ermattet liegen außerhalb des wahrscheinlichen Windkanals. Fünf Minuten vorher war er noch nicht dagewesen. Im Gegenzug ist Siope in der Zwischenzeit verschwunden, der am Nachmittag kurz hintereinander zwei mordshübsche Katzen/Kater eine kurze und sehr distanzierte Gesellschaft leisteten. Die mir zugewandte Hälfte des Platzes ist nunmehr autolos, zur Markierung sind vier Tische rechts und links aufgestellt. Peu a peu trudeln schon mal Leute ein. Vor dem Gang zum Tabaccaio mußte ich dauernd an das Wort “èbete” denken. In meiner Vorstellung drückte es den Zustand aus, in dem ich mich befand: wie weggewischt, vielleicht so wie einer, der Absinth getrunken hat (i.e. zwei Gläschen Ninno-Wein). Suchte andauernd Seiten auf, auf denen man sich T-Shirts selbst gestalten kann, als Motiv wählte ich die jeheimnisvollen Schriftzeichen in der Landschaft der Insel Tsalal (>>>> tsalal 5 (in die Suchmaske dann einfach “tsalal” eingeben, es werden dann sechs Texte in Serie erscheinen), pappte diese Zeichen auf T-Shirts mit kurzen Ärmeln, verwarf alles, verließ die Seite. Zehn Minuten Stirnrunzeln. Dann zum nächsten Anbieter, diesmal mit einem Sweater probiert. Dann mit einem langärmeligen T-Shirt. Immer mit von Unglauben geprägten Pausen. Was sich auszuweiten anfing auf den Film heute abend, den ich wahrscheinlich nicht werde verkraften können (‘Mr. Nobody’), nachdem ich nachgelesen. Und, wie gesagt, dann dieses Wort “èbete”. Klang mir auch recht angenehm. Man hört es nur sehr selten. Und bei so selten gebrauchten Worten lege ich mich manchmal selber rein: es heißt ‘schwachsinnig’, aber vielleicht krieg’ ich’s hingebogen mit einem ‘blöde’ in der alten Bedeutung von ‘schüchtern, ungeschickt’. Das französische ‘hébété’ kommt dem Bedeutungshof allerdings schon sehr viel näher. Fensterzwang jetzt: auf einem Tisch da draußen liegt bereits Essen: zwei Tüten Kartoffelchips. Zu morgenzünftiger Zeit endlich zur Post, dann zum Samstagsmarkt im Chiostro Boccarini: Kartoffeln und mittlerweile versaftete Kirschen. ‘Titanic’ mit Di Caprio wäre auch eine Möglichkeit. War schon immer neugierig auf diesen Film, nachdem ich Nettelbecks schmeichelhafte Besprechung in der ‘Republik’ dazu gelesen.

III,63 <<<<


 

II,70 – Fliegenkuß

Eher Ohr jetzt und per Assonanz auch ein bißchen >>>> Ohre. Auch, weil die Anspannung des Tages nicht mehr da ist (3 Texte korrekturgelesen und abgeliefert, Neues kam hinzu, das meiste davon für spätestens den 7. (und fast alles, was ansteht, geht derzeit im Endeffekt nach Bozen), Klavierspiel, Wesseltoft (‘Playing’), Landschaft, die aus dem Gedächtnis entsteht. Gelegentlich diese Nostalgie: meine einstige Fähigkeit, während des Dösens am frühen Nachmittag mich recht plastisch als fliegend zu denken. Flappsig könnte man sagen: Echt in 3D. Die Tanzleute scheinen mittlerweile untereinander warm geworden zu sein, und so führte der Umstand, daß es heute im Gegensatz zu gestern bloß noch sporadisch tröpfelte, dazu, daß man auf dem Platz schon am Nachmittag anfing zu klampfen und dazu zu singen. Auf italienisch. Und hatte somit etwas Typisches: wie oft schon hört’ ich Freundinnen hier irgendwelche Schlager oder Lieder gemeinsam singen (Flashback Spoleto in dem einen Restaurant: “Non voglio mica la luna”). Im Moment dudelt nur irgendwas aus Lautsprechern. Bis der eine Neffe eintrat, zünftig in der Dämmerung mit Sonnenbrille, diesmal ohne Freundin. Hatte wieder mal seinen Schlüssel vergessen, aber den neulich abgeholten noch nicht zurückgebracht. Ob er wirklich Wirtschaft studieren wolle. Er glaube schon. Fliege jetzt, die nicht fliegt, sondern spaziert neben “Ziegenhimmel” und Maus, graue Ahnung auf schwarzer Schreibtischplatte: “Ziegenhimmel, der die Sohlen krümmte / und fast mit Nachdruck schon verhieß: Nichtwissen / und gebrannte Erde.” (Rosselli). Die Selbstausschaltung des Druckers gliedert sich jetzt fast perfekt in den Jazz ein, ein Spinnchen gebärdet sich frei schwebend unter der Schreibtischlampe… Ich werde bald hinuntergehen: Geld ziehen und ein bißchen der Big Band zuhören, die im Chiostro Boccarini spielt. Zu allem Überfluß ist die Spazierfliege mir beim Austrinken des Weinglases auch noch an die Lippen gekommen, in dem sie mittlerweile unbemerkt verendet… P.S. Sie lebt noch.

III,69 <<<<


 

III,84 – Die Gegenstände nähern sich in der Entfernung

Die Oberarmmuskeln anspannen, die Finger an den knapp nach vorn in Brusthöhe geworfenen Händen auseinanderspreizen und verkrampfen, ein paarmal mit den Muskeln zucken: es bedarf solcher Übungen, um sich darauf vorzubereiten, etwas Unwichtiges zu schreiben. Wir sehen gerade durch, und die Gegenstände reihen und ordnen sich von selber. Wie zu Beginn meines mittäglichen Ganges zur Apotheke: eine Jemandin von hier geht vor mir und mir wird das Entgegenkommen der Ukrainerin willkommen, da konnt’ ich dann stehenbleiben und verhindern, die Einheimische, die vom Sehen ich sehr wohl kenne und der ich auch mal gegenübergesessen beim jährlichen Nachbarschaftsessen in der Gossen, im Zeitlupentempo zu überholen, denn ich ging nur ein ganz klein bißchen schneller, weil ich nicht gewußt, was sagen. Wir sehen das Entferntere nicht unmittelbar, sondern durch das Nähere. [Was die Bürgermeisterkanditaten von Rom und Mailand am liebsten lesen… solch ein Betreff jetzt: amazon-Mail]. Kurz, in der Nähe erweist sich die Ferne. Mich der Apotheke nähernd winkt von Ferne dann l’ami belgique, der frische Vater. Komisch, daß wir beide das gleiche Ziel hatten: die Apotheke. Das Entferntere scheint uns nur klein in Vergleichung mit dem Nähern – oder, in so fern wir es uns, wie auf der Fläche eines Gemäldes, eben so nahe wie das Nähere denken; oder es mit dem Nähern gleichsam in eine Reihe stellen. So daß wir, nachdem wir uns einander genähert, in der Apotheke in eine Reihe stellten. Man wolle nächste Woche für drei Wochen nach Belgien fahren: gut, also dann morgen die der Mutter versprochene Teatime. Daher kommt es, daß die Ferne zusammendrängt. Gut, daß er nach der Erledigung in die andere Richtung mußte, ich hatte es eilig, war unter Arbeitsstreß heute. Auch am Zweithandklamottenladen ging ich vorbei. Auch da war ich froh, daß L. zwar in der Tür stand, die linke Hand mit der Zigarette nach draußen haltend, aber sich ansonsten einem Herrn im Innern zuwandte, sonst hätte ich kurz stehenbleiben müssen. Die Gegenstände nähern sich in der Entfernung immer mehr der bloßen Idee von den Gegenständen; das Gesicht nähert sich immer mehr der Einbildungskraft, je weiter der Gesichtskreis wird. Am Metzgerladen vorbeigehend, wunderte ich mich, daß diesmal keine Porchetta im Schaufenster zu sehen war, schlug dann wie üblich den Panoramaweg ein. Daher sind wir im Stande, uns die Gegend wie ein Gemälde, und das Gemälde wie die Gegend zu denken. Grün indes die Suppe des weit unten stille stehenden Wassers mit dem Namen ‘Rio Grande’ inmitten der Baumreihen. Wir wandeln die Allee hinunter; das Zusammengedrängte erweitert sich, wie wir uns nach und nach ihm nähern; die Wirklichkeit tritt wieder in ihre Rechte. Aber dann wieder die Gasse, die sich scheinbar nach außen wölbenden Mauern. Wo das Auge durch nichts gehindert wird, da sehen wir Wölbung und Fläche. - Und wieder angekommen in der sich kurz wölbenden Erschöpfung wurde vorm Wiedereinstieg ins Wörterproduzieren die Zigarette zum Platzhalter der Nichtlust. Das Höchste, was uns erscheinen kann, ist die Wölbung – über diese kann uns nichts erscheinen; denn die Wölbung ist über allem. - Die sich tatsächlich arg in den Tag hineinwölbte. Aber auch Deutschland und Polen haben hart aneinander gearbeitet. Um es mal so zusammenzufassen. Heute aber ist kein Fußball vorgesehen. Das Kursive gibt vollständig wieder: K. Ph. Moritz, —> Grundlinien zu einer Gedankenperspektive, in: Magazin für Erfahrungsseelenkunde, Siebenten Bandes drittes Stück, 1789, S. 81 f.

III,83 <<<<

Kategorie: