india : 6.52 — Haruki, der in einer kleinen europäischen Stadt zu Hause ist, erzählte eine Geschichte, die ich kaum glauben mochte. Schon sein Name schien seltsam zu sein. Er habe, sagte er, manchmal das Bedürfnis, mitten in der Nacht zu telefonieren. Nicht weil er fürchte, sterben zu wollen, sondern weil er glücklich sei, wenn er einfach loserzählen könne, wenn ihm seine Worte von einem aufmerksamen Ohr sozusagen aus dem Mund gezogen würden. Genau dieses Bild eines Ohres habe er vor Augen, sobald er sich an wunderbare Gelegenheiten erinnere, als er im Erzählen Geschichten entdeckte, die ihm ohne diese Art des Sprechens niemals eingefallen wären. Leider würde ihm inmitten der Nacht längst niemand mehr zuhören, Menschen, die er persönlich kenne, eilten nicht mehr ans Telefon, wenn er sich bei ihnen meldete. Er habe deshalb andere, wildfremde Menschen angerufen, die sich bei ihm beschwerten, weil schon tiefe Nacht geworden war, und überhaupt zu wissen wünschten, um wen es sich bei ihm handele. Das war der Grund gewesen, weswegen er vor wenigen Wochen damit begonnen habe, Rufnummern in Übersee zu kontaktieren. Es meldeten sich Menschen, die ihn in englischer, französischer, chinesischer oder spanischer Sprache begrüßten. Sobald nun die Stimme eines Menschen zu hören war, begann Haruki zu erzählen. Er formulierte in einer so hohen Geschwindigkeit, dass er sich selbst kaum noch verstand. Und weil Telefongespräche nach Übersee kostspielig waren, hatte er auf seinem Tisch eine Armbanduhr abgelegt, um die Zeit zu messen. 15 Minuten, länger durfte ein Gespräch mit Shanghai nicht dauern. Manchmal vernahm er Stimmen von der anderen Seite her, helle Stimmen, zitternde, wispernde Töne, weshalb er das Telefongerät ein wenig von seinem Ohr entfernte, ohne indessen zu verstummen. Nach 15 Minuten verabschiedete er sich. Er sagte: Gute Nacht! — stop
- von Andreas Louis Seyerlein
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