“Gegenspiel” ist die Geschichte von Träumen, Hoffnungen und Enttäuschungen, von Selbsttäuschung, Selbsthass, Zweifeln und Liebe. Es ist die Geschichte einer Frau, die aufbrechen möchte, von einem anderen Leben träumt – jedoch ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben. So strebt Maria in ihrer Heimat Portugal Ziele an, die eigentlich gar nicht ihre sind, sie lebt in der Berliner Hausbesetzerszene, ohne sich dort wohl zu fühlen, sie wird Mutter und Ehefrau, ohne dass es sie erfüllt, und lebt im beschaulichen Bonn, ohne dort sein zu wollen. Doch auch ein später, erneuter Aufbruch nach Berlin bringt nicht die erhoffte Zufriedenheit. Dieses “ohne” macht einen Großteil der Geschichte aus. “Ich bin hier, weil ich es will”, sagt sie sich immer wieder. Doch Maria ist niemals wirklich glücklich und zufrieden, ganz gleich, was sie tut.
Das Buch beginnt mit einem Streit zwischen Maria und ihrem Mann. Angesichts dieses massiven Gefühlsausbruchs fühlt man als Leser zunächst ziemlich orientierungslos. Auch die folgenden rasch aufeinanderfolgenden Zeit- und Ortswechsel tragen ihr Übriges dazu bei. Die Geschichte von Maria fügt sich wie ein Puzzle Stück für Stück zusammen. Das Lesen ist bisweilen anstrengend, da Stephan Thome genaue Beobachtungen anstellt und die Dialoge ausgefeilt hat, bis in jedem Wort Bedeutung steckt. Hat man sich daran gewöhnt, ist die Lektüre aber durchaus anregend – auch wenn man Maria, so wie ich, nicht unbedingt mag.
Maria wirkt arrogant und ehrgeizig, gleichzeitig ist sie aber sehr naiv und romantisch. Sie ist direkt, unfreundlich, ehrgeizig und provoziert gerne. Sie bleibt für mich unnahbar. Dadurch hat Thome allerdings erreicht, dass ich mich noch intensiver mit Maria, ihren Beweggründen und Motiven, auseinandergesetzt habe. Eine spannende Erfahrung: Ich bin tief in die jeweiligen Szenen eingetaucht und blieb gleichzeitig ein Außenseiter, ein Fremder – und fühlte mich letztendlich ebenso wie Maria. Die Empfindung, im eigenen Leben nicht den richtigen Platz gefunden zu haben, verstärkt sich zunehmend. “Warum versuchst du ein Leben zu führen, für das du nicht gemacht bist?” fragen Freunde. “Du gehörst zu den Menschen, die umso unberechenbarer handeln, je weniger Möglichkeiten sie haben. […] In Wirklichkeit ist es der Freiheitsdrang der Orientierungslosen”, sagen sie. Gelegentlich verleiht auch sie selbst ihren Zweifeln Worte: “Manchmal staunt sie, wie viel Zeit im Leben sie mit Tagträumen vertan hat, mit Täuschungsmanövern, deren erstes Opfer sie selbst war. […] Kompromisse, Umwege, Sackgassen – sie hat sich gesagt, das gehöre zum Leben dazu, aber vielleicht gehörte es zu ihrem Leben, weil ihr für einen konsequenten Weg die Entschlossenheit fehlte.”
“Gegenspiel” ist die Geschichte einer Frau, die nach vielen Jahren der Selbsttäuschung zu sich selbst findet. Es ist die Geschichte einer Ehe zwischen zwei sehr verschiedenen Menschen. Und es ist eine Geschichte über die Erkenntnis, dass jedes Menschenleben mehr als ein Mal beginnt. Es ist kein Buch, das unbedingt Lesevergnügen bereitet. Dazu ist es zu verstörend, verwirrend und anstrengend. Aber es ist eines, das man eigentlich zwei Mal lesen muss, um jede präzise Beobachtung von Thome wertschätzen zu können.