„Du suchst nach der Wahrheit? Und suchst sie ausgerechnet in der Vergangenheit?“ (S. 70)
Deutschland in den 1970ern: Ira lernt früh, still zu sein und sich unsichtbar zu machen. Ihre Mutter ist kalt und neigt zu Zornausbrüchen, ihr Vater bemüht sich, ihr Liebe zu schenken, hält aber gleichzeitig Abstand zu ihr. Lew und sein Bruder kommen nach der Republikflucht ihrer Eltern in eine neue, parteitreue Familie. Er träumt vom Turmspringen, aber noch mehr davon, seine Mutter wiedersehen zu können. Fido begibt sich mit seinem Großvater Tadija auf die Reise von Jugoslawien nach Deutschland. Es beginnt eine Reise, die nicht zu ihrem Ziel, aber auch nicht wieder nach Hause führen wird.
Deutschland im Jahr 2005: Iras Vater liebt im Sterben, sie teilt sich zwischen der Pflege, ihrer Arbeit in der Bäckerei und der Erziehung ihres Sohnes auf. Lew erhält eine Nachricht über seine Eltern und macht sich auf den Weg nach Indien. Fido ist rastlos, bleibt nie lange an einem Ort und macht die ganze Welt zu seinem Zuhause.
"Woher kommst du?“, haben sie ihn vorhin gefragt, und er hat keine Antwort geben können, die der Wahrheit nahegekommen wäre. (S. 65)
Pia Ziefle erzählt in Länger als sonst ist nicht für immer von drei unterschiedlichen Menschen, die doch eins gemeinsam haben: Sie können keine Wurzeln schlagen, weil diese in ihrer Kindheit nie die Möglichkeit hatten zu wachen. Sie sind Heimatlose, Verlassene, Menschen, die auf eine Reihe geplatzter Träume und Hoffnungen zurückschauen können. Sie können – wie es im Klappentext heißt – „nicht bleiben, weil sie den Ort nicht kennen, der ihre Heimat ist“; sie können für sich keine Zukunft ausmalen, weil ihre Vergangenheit im Dunkel liegt. Länger als sonst ist nicht für immer thematisiert das Stolpern durch das eigene Leben, die Suche nach Halt und einer Familie (wie auch immer diese aussehen mag) und die Einsicht, dass man sich seiner Vergangenheit stellen muss, um im Jetzt ankommen zu können.
Da sind sie wieder, die alten Geschichten. Die Dinge rücken näher mit jedem Tag, den Cornelius braucht für seinen letzten Weg. (S. 78)
Diese großen, emotionalen, traurigen Themen bringt Pia Ziefle dabei in einem ganz wunderbaren Erzählstil an den Leser: Melancholisch, fast nebulös erzählt sie von Damals und Heute, von Iras, Lews und Fidos Schicksalsschlägen, von dem, was sie zu dem machte, was sie heute sind. Ruhig und bedacht sind ihre Sätze, die sich zu kleinen leicht lesbaren Absätzen ansammeln, sodass man das Buch leicht und flüssig lesen kann. Allein am Ende reihen sich viele Traumsequenzen von Iras Vater Cornelius aneinander, in denen sich der zauberhafte Erzählton meiner Meinung nach etwas verliert: Hier erzählt die Autorin für meinen Geschmack zu surrealistisch und bedeutungsschwanger.
In ihren Kapiteln springt Pia Ziefle gerne zwischen den Zeiten und zwischen den Perspektiven. Das ist vor allem am Anfang gewöhnungsbedürftig, sodass man zu Beginn etwas Konzentration von Nöten ist. Grob gesprochen, wechseln sich Kapitel aus Iras und Lews Sicht ab, was der Geschichte einerseits (vor allem zum Ende) Dynamik und Spannung verleiht, andererseits den Leser immer wieder aus dem Leben des einen rausreißt, sodass ich nicht die Beziehung zu den Figuren aufbauen konnte, wie ich es gerne getan hätte. Immer wenn ich glaubte, Ira verstanden zu haben, musste ich mich wieder mit Lews Geschichten auseinandersetzen – und umgekehrt.
Obwohl mich Thematik und Sprache des Buches wirklich begeistert haben, hat der letzte Funke für mich doch gefehlt. Nach Zuklappen des Buches hatte ich das Gefühl, dass sich nicht alles ganz zusammengefügt, auch wenn das Ende – dem ich etwas hilflos gegenüberstand – dies suggeriert. Mir persönlich sind zu viele Fragen offen geblieben, zu viele Dinge wurden nur angerissen, die Rolle der Figur von Fido habe ich beispielsweise bis zum Schluss nicht ganz durchdrungen.
Nichtsdestotrotz gibt es aufgrund dieses – im wahrsten Sinne des Wortes – traumhaften Erzählstils eine Leseempfehlung, mit dem Ratschlag, sich für das Buch Zeit zu nehmen und bereit zu sein, sich auf diese doch manchmal sperrige Geschichte einzulassen.