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  • Andrei Kurkow beschreibt seit seinem Erstling “Picknick auf dem Eis” die postsowjetische Gesellschaft. Damals stellte Kurkow seinem Anti-Helden einen Pinguin zur Seite, als Analogie für die kollektiven Sowjetmenschen “in einem neuen Land”. Andrei Kurkow selbst ist genau das Gegenteil: ein ewiger Reisender zwischen den Welten.

    von Jürg Vollmer / maiak.info

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    Textauszug aus diesem Dokument

    Andrei Kurkow beschreibt seit seinem Erstling Picknick auf dem Eis die postsowjetische Gesellschaft. Damals stellte Kurkow seinem AntiHelden einen Pinguin zur Seite, als Analogie für die kollektiven Sowjetmenschen in einem neuen Land. Andrei Kurkow selbst ist genau das Gegenteil: ein ewiger Reisender zwischen den Welten. [...]
    Andrei Kurkow sitzt vor der nächsten Lesung in einem Kaffeehaus und gibt sich für einmal diplomatisch. Nein, zum ständigen Bäumchenwechsledich der Politiker in seinem Heimatland Ukraine möchte er sich nicht mehr äussern: Es ist schon zu viel geredet worden und es wird zu wenig getan.
    Tatsächlich wollte Andrei Kurkow als Diplomat die Welt kennen lernen. Deshalb studierte er am Kiewer Fremdspracheninstitut Englisch und Französisch. Obwohl er noch fünf weitere Sprachen lernte, darunter Japanisch, wurde Kurkow mangels Beziehungen nicht in den diplomatischen Dienst der Sowjetunion aufgenommen. Stattdessen musste er Militärdienst leisten ausgerechnet als Gefängniswärter in der Strafkolonie Nr. 51 in Odessa. [...]
    Es soll keiner behaupten, Militärdienst sei unproduktiv, schmunzelt Andrei Kurkow, immerhin habe ich während meiner zweijährigen Dienstzeit fünf Kinderbücher geschrieben. Produktiv war er danach auch als Journalist, bis ihn sein Chefredakteur wegen eines Plagiats entliess. Postsowjetische Logik, dass nicht etwa der Chefredakteur ein Plagiat von Kurkow aufgedeckt hatte, sondern umgekehrt.
    Postsowjetisch, weil nach Kurkows 30. Geburtstag die UdSSR auseinander brach. Ich lernte rasch, dass sich meine aus den Fugen geratene Welt ohne Phantasie weder aushalten, noch beschreiben lässt. Deshalb wollte der künftige Schriftsteller Andrei Kurkow seinen Lesern einen Spiegel vor das Gesicht halten, in dem er die postsowjetische Gesellschaft mit Zynismus und schwarzem Humor zeigte. Wenn ich kein Zyniker wäre, müsste ich Quartalssäufer werden oder Selbstmord begehen. [...]
    Als Schriftsteller waren die Jahre nach 1991 ein gefundenes Fressen für mich mit dem Nachteil, dass ich dabei glatt verhungert wäre. So stemmte Andrei Kurkow drei Jobs nebeneinander: Er schrieb seinen ersten Roman, verdiente sein Brot als Journalist und absolvierte gleichzeitig eine Ausbildung als Kameramann und Drehbuchautor in den renommierten DowschenkoFilmstudios in Kiew.
    Die Ausbildung zum Drehbuchautor prägte den Romanautor: Andrei Kurkow schrieb einen spannenden Krimi mit knappen Dialogen, er wechselte mit schnellen Schnitten Zeit und Ort, und er hatte keine Angst vor einer guten ActionSzene. [...]
    1996 veröffentlichte Andrei Kurkow seinen Erstling Picknick auf dem Eis, der in Russland und in der Ukraine auf Anhieb ein Bestseller wurde. Noch im Erscheinungsjahr wurde der Roman nach einem Drehbuch verfilmt, das er logischerweise gleich selbst schrieb.
    Picknick auf dem Eis beschreibt die ukrainische Gesellschaft in der Ära unter Präsident Leonid Kutschma aus der Sicht eines erfolglosen Journalisten. Viktor lebt in Kiew und schreibt im Auftrag einer Zeitung Nekrologe auf berühmte Persönlichkeiten für die Schublade. Als diese Prominenten plötzlich serienmässig sterben, gerät Viktor in Verdacht und muss fliehen. [...]
    Seinem AntiHelden stellte Andrei Kurkow einen Pinguin zur Seite, als Analogie zum postsowjetischen Menschen. Pinguine unternehmen als KollektivTiere alles gemeinsam. Deshalb ist ein Pinguin, wenn er alleine in ein neues Land kommt, völlig desorientiert. Dasselbe geschah nach 1991 mit den Sowjetmenschen.
    Diese standen über Nacht in einem neuen Land, in dem sie aus eigener Initiative eine Zivilgesellschaft, eine Marktwirtschaft und eine neue Politik schaffen sollten. Das konnte unmöglich auf Anhieb gelingen mit Sowjetmenschen, die gelernt hatten, so wenig individuelle Verantwortung wie möglich zu übernehmen und wie Pinguine im Zoo auf die Fütterung zu warten. [...]
    Andrei Kurkow erkannte und beschrieb dies schon in seinem ersten hoch politischen Roman. Er liess sich aber weder von den prowestlichen Orangen noch von prorussischen Blauen vor deren PropagandaKarren spannen. Dafür musste er später auch nicht zurück buchstabieren, wie einige seiner ukrainischen SchriftstellerKollegen, die sich von Politikern täuschen liessen.
    Auch heute ergreift Kurkow nicht Partei. Dafür kritisiert er pointiert, dass alle ukrainischen Politiker unabhängig vom Volk in einem ParallelUniversum regieren. Die Ukraine funktionierte nach 1991 immer dann am besten, wenn wir keine Regierung hatten. Das wird sich nicht ändern, bis wir eine völlig neue Generation von Politikern finden.
    Dann lehnt sich Andrei Kurkow zurück, denkt nach, und plaziert einen Stich mitten ins Herz: Die postsowjetischen Länder sind aus irgendwelchen höheren Gründen eine experimentelle Zone, an deren Schicksal andere Nationen sehen können, was alles passiert, wenn man der Idiotie freien Lauf lässt. [...]
    Andrei Kurkow lässt sich von Niemandem vereinnahmen. Die Frage nach dem Warum führt uns in das Dorf...
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