Hundertmal “Chabos wissen wer der Babo ist” ironisch im Club mitbrüllen, aber wenn sich Haftbefehl -vermeintlich- im Drogen- und Suffrausch ins Bein schießt, schnell noch einmal auf Twitter zeigen, wo die echten Grenzen verlaufen. Damit das ja auch niemand vergisst!
Auf Twitter konnte man heute sehr gut beobachten, wer wie über den Vorfall um Haftbefehls Schussverletzung kommentiert.
Auf der einen Seite, viele Menschen, die sich durch seine Musik ernst genommen fühlen, weil er ihre Sprache spricht, die gemeinsamen Codes teilt, weil sie manche Geschichten kennen und klar, weil er auch für viele Menschen ein Vorbild ist.
Auf der anderen Seite Menschen, die so schnell dabei sind aus den vorhandenen Schlagwörtern eine schnelle Punchline zu bauen, um sich noch schneller weitestmöglich abzugrenzen, um sich dabei selbst abzuheben von einem Milieu, das ihnen fremd ist, dem sie aber immer auch unterstellen doch nur eine Karikatur zu sein, was ihnen dann aber doch zu gefährlich ist, um sich damit einmal auseinander zu setzen.
Menschen, die seine Musik nicht ernst nehmen können, weil sie seine Sprache nicht verstehen, keine Codes miteinander teilen, keine dieser Geschichten kennen und nicht verstehen, wie so einer für viele Menschen ein Vorbild sein kann.
Und dabei weiß niemand –Stand jetzt– was überhaupt passiert ist. Aber die Schlagwörter reichen ja. “Haftbefehl” (allein der Name schon!), “Gangsta-Rapper” (Yo, Yo, Yo, mach Gangzeichen am brennenden Ölfass!), “Drogen”, “Suff”, “Knarren” …
Dass das ultrawoke Twitter vielleicht ein paar Dinge dabei übersieht, passiert natürlich bestimmt nicht, weil Haftbefehl nicht in ihr soziokulturelles Umfeld passt. Bestimmt nicht.
#haftbefehl, dessen Lieder häufig von Trauer, Depression und Angst handeln, verletzt sich unter Drogeneinfluss selbst. Statt Sorge um ihn, lacht Twitter über den dummen Rapper, der sich selbst verletzt hat, denn schließlich haben es diese Prollrapper nicht besser verdient…
— Jules El-Khatib (@ju_khatib) July 17, 2020
Natürlich gibt es an Knarren – auch an freiverkäuflichen Gasknarren (die aus kurzer Distanz Verletzungen herbeiführen) – nichts entschuldigendes zu sagen. Natürlich ist das ganze übertriebene Waffengelaber, die zur Schau gestellte Drogenkultur, der geradezu pervertierte Konsum von Statussymbolen, all das Ausdruck einer Welt, mit der man am liebsten nichts zu tun haben möchte. Sie ist aber auch Forschungsgegenstand. Oft besprochenes und diskutiertes Phänomen, mit eigenem Wertekorsett, eigenen Kulturtechniken, vor allem aber voll aufgeladen mit Ursachen und Wirkungen. Und vieles daran ist gefährlicher Müll und auch ideologischer Schwachsinn.
Aber spätestens wenn dann die Chabos aus den Boxen ballern, kann man sich trotzdem auch als deutscher Mittelstandsmensch mal schnell die Kugel Coolness, Gefährlichkeit und Radikalität reinpfeiffen, die der eigene Alltag nicht hergibt. Nur für Haftbefehl ist das kein Kurztrip in eine eigene Welt, der lebt da. Der lebt da immer noch. Und man kann sich natürlich fragen, warum er das tut. Mit all den Millionen, auf die ein oder andere Weise verdient. Warum der in Bahnhofsvierteln seine Runden zieht, statt im Grünen zu chillen. Warum der scheinbar immer noch in einem Milieu rumhängt, dass er durch sein Geld schon längst hätte verlassen können.
Aber da ist er zuhause. Was für uns gefährlich scheint, gibt doch Sicherheit. Und Freiheit. Was wir nicht verstehen, ist dort gelernt. Da muss er sich nicht verstellen. Aber in der Welt der ihn feiernden weißen Mittelstandskinder, in der wird er ein Fremdkörper bleiben.
Seinen Song mitbrüllen – gern, hier mitleben – nein, Danke!
Toleranz beginnt immer da, wo es beginnt einem selbst weh zu tun. Vieles was man an Haftbefehl oder überhaupt der gesamten deutschen HipHop-Szene beobachten kann, tut weh. Vieles davon ist lächerlich. Aber vieles von allem ist lächerlich. Nur, um hinter diesen grotesken Wahnsinn zu blicken und dann tatsächlich Rap und die dahinter stehende HipHop-Kultur als etwas zu betrachten, was für viele ein Aufstiegsversprechen ist, das bedarf mehr Mühe als ignorante 280 Zeichen. Rap ist für viele kein Aufstiegsversprechen wegen dem möglichen Reichtum, es ist ein Aufstieg zum gehört und gesehen werden. Gehört werden in einer deutschen Mehrheitsgesellschaft, die diese Milieus immer noch als Randnotizen behandelt, obwohl diese massiv Jugendkultur, Sprache, soziale Werte etc. beeinflusst. Rap dominiert seit Jahren die deutschen Charts. Und man nimmt ihn immer noch nicht ernst. Man nimmt Haftbefehl nicht ernst, maximal als Pausenclown in der Dorfdisko. Und jetzt alle, zwei – drei: Chabos wissen …
Die stärkste deutsche Waffe heißt Ausgrenzung. Wenn du mit dem Namen Aykut Anhan keinen Termin bei der Wohnungsbesichtigung bekommst, wenn du mit deinen schwarzen Haaren zum x-ten Mal “verdachtsunabhängig” auf dem Bahnsteig nach deinem Ausweis gefragt wirst, wenn du mit deinem dicken deutschen Benz durch die Straße rollst und Karin und Stefan denken: “Bestimmt Drogendealer”. Bist halt gefickt.
Mich hat es heute einfach so hart genervt. Weil mir HipHop was bedeutet. Weil ich selbst HipHop eine Menge zu verdanken habe. Weil ich selbst dachte, nachdem ich von dem Vorfall gehört habe: “Oh man, jetzt komme ich als Fan wieder in Erklärungsnot.” Aber Pustekuchen. Karin und Stefan hatten schon längst ihre Erklärungen gefunden. Es kann ja nur so sein, was in das Mindset der beiden gerade so reinpasst.
Gebt euch die sechs oben verlinkten Videos aus der ‘1999’-Series von Haftbefehl. Und wenn ihr wirklich mal kurz hinter die Kulissen blicken wollt, dann guckt ihr noch die folgende Doku über ihn. Und dann bleibt immer noch genug Zeit für eure Punchlines, Chabos.