„In mir ist der Jugendliche noch lebendig“

10.8.2012, 00:00 Uhr
Anthony McCarten stellt seinen neuen Roman in Erlangen vor.

Anthony McCarten stellt seinen neuen Roman in Erlangen vor. © dapd

Mr. McCarten, das Jugendliche scheint Sie zu reizen. Ihr Bestseller „Superhero“ handelt von einem 14- Jährigen, und Ihren neuen Roman haben Sie aus der Perspektive seines 18-jährigen Bruders geschrieben.

McCarten:
Das liegt wohl daran, dass der 18-Jährige immer noch lebendig in mir ist. Und nicht nur das: Er ist sogar in der Lage, das Steuerrad meines Lebens zu übernehmen, wenn ich ihn lasse. Nach meinem Gefühl ist der 8-, 18-, 28-, 38- und 48-Jährige in uns allen noch am Leben. Wenn ich Entscheidungen fälle, sind diese verschiedenen Phasen in mir präsent. Die Herausforderung besteht darin, die beste Version meines Ichs zu bewahren und sie dann das Steuer übernehmen und entscheiden zu lassen. Wobei die beste Version nicht unbedingt die älteste ist.

Ihr Schreibstil ist teilweise jugendlich: Sie mischen schnelle Dialoge mit traditionellen Erzählfragmenten und O-Tönen aus Online-Spielen. Warum haben Sie sich für diese ungewöhnliche Form entschieden?

McCarten:
Das Leben vergeht so schnell, als ob jemand mit dem Finger auf den Fast-Forward-Knopf drücken würde. In der modernen Welt gibt es unzählige neue Entwicklungen, die man annehmen und verarbeiten muss — auch als Autor. Der moderne Gesellschaftsroman ist verpflichtet, diese lebendige, vielfältige und schnelle Umwelt aufzunehmen und zu reflektieren. Gleichzeitig muss Kunst natürlich auch versuchen, sich zu beschränken, um nicht nur irgendwie den taub machenden Lärm zu ergänzen.

Haben Sie schon einmal verleugnet, Neuseeländer zu sein?

McCarten:
Nein, nie. Aber man hat mich beschuldigt, Neuseeland den Rücken gekehrt zu haben, da ich meistens in London lebe und nur ab und zu nach Wellington zurückkomme.

Ihre Landsleute werden Sie eben vermissen.

McCarten:
Vielleicht. Aber ein so kleines Land wie Neuseeland sollte ein entspanntes Verhältnis zu seinen Landesgrenzen haben. Seine Bürger sollten nicht automatisch dazu gezwungen sein, dauernd dort zu leben — ein Viertel aller Neuseeländer ist sowieso im Ausland. Dazu kommt, dass das Land von seltsamen Leuten kolonialisiert wurde: Die dachten, es sei eine gute Idee, ans Ende der Welt zu reisen, direkt in die unbekannte Wildnis. Und dann wollten sie auch noch in diesen dichten, feuchten Wäldern eine neue Gesellschaft aufbauen. Da ich von solchen Leuten abstamme, glaube ich, dass nicht diejenigen am besten die echten Neuseeländer repräsentieren, die dortblieben, sondern diejenigen, die weggehen und immer noch neue Grenzen suchen. Denn das Streben nach Neuem, nach einem Utopia, ist die wahre Seele dieses Landes.

Merken Sie in Ihrer Wahlheimat England, dass Sie anders sind?

McCarten:
Ja, dauernd. Das fing schon an, als ich Ende der 90er Jahre nach London kam: Ich wollte mir ein Theaterstück im Westend anschauen und bekam einen Stehplatz hoch oben über dem Balkon. Unter mir sah ich in der Nähe der Bühne einen freien Platz. Den perfekten Platz. Also beschloss ich, ihn mir in der Pause unter den Nagel zu reißen. Ich bildete mir ein, dass ich als Theaterautor einen Vorteil hätte, da ich ja besser als alle anderen wüsste, wann die Pause beginnen würde. Ich würde also schon kurz vorher hinunterlaufen und den Platz besetzen.

Und – haben Sie es geschafft?

McCarten:
Als die Lichter auf der Bühne noch nicht einmal ausgegangen waren, flog ich die Treppen hinunter. Doch dabei hörte ich einen Lärm, den ich nie vergessen werde: Es war ein Massenansturm von den Stehplätzen, die alle das gleiche Ziel hatten wie ich. In diesem Moment dachte ich mir: Willkommen in London! Willkommen in der großen Stadt!

Für „Superhero“ haben Sie sowohl den Roman als auch das Drehbuch geschrieben. Hätten Sie auch gerne Regie geführt?

McCarten
: Ich habe fünf Jahre lang alles versucht, um der Regisseur meines eigenen Filmes zu werden. Aber obwohl ich enormen Zuspruch von deutschen Investoren und regionalen Filmfonds bekommen habe, war es ausgerechnet die neuseeländische Filmkommission, die in letzter Minute entschied, mich nicht zu unterstützen. Als die irische Filmbehörde einstieg, um die Finanzierung des Films zu retten, bestanden sie auf einem irischen Regisseur.

Sind Sie immer noch sauer?

McCarten:
Nein. Inzwischen sehe ich es gelassen und bedauere das alles nicht. Der Film hat eine emotionale Ehrlichkeit. Es ist ein sehr ungewöhnlicher Streifen. Ein unterhaltsamer Film, der keine Furcht hat, die Grenzen zu überschreiten, die normalerweise für eine Tragikomödie gelten. Ich mag, wie er einige Regeln bricht. Und er bewahrt die Idee meines Romans, dass ein Leben, das auf Angst basiert, überhaupt kein Leben ist.

Sollte jemand, der „Superhero“ nicht kennt, erst das Buch lesen oder gleich ins Kino gehen?

McCarten:
Am besten beides, denn man wird zwei unterschiedliche Erfahrungen machen. Die Grabinschrift meiner Hauptfigur Donald Delpe lautet: „Ich möchte mein Geld zurück, ich habe gar nichts kapiert.“ Ich bin ziemlich sicher, dass es niemandem so gehen wird, wenn er das Buch gelesen oder den Film gesehen hat.

Beschäftigt Sie die Figur des krebskranken Jungen immer noch?

McCarten:
Nein, Donald ruht in Frieden. Seine Arbeit ist getan. Nun ja, nicht ganz: Ich schreibe gerade an einer neuen Fassung des „Superhero“-Musicals.



Anthony McCarten: Ganz normale Helden. Roman, aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Diogenes Verlag, Zürich. 464 Seiten, 22,90 Euro.
 

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