Brasilien mit seiner jungen Bevölkerung, seinem Rohstoffreichtum und seinem riesigen Territorium wird nicht zum ersten Mal eine rosige Zukunft prophezeit. Allerdings fällt es dem Land auch heute noch schwer, sich von der kolonialen Erbschaft, von Autoritarismus, Ungleichheit und Gewalt, zu lösen.
Aus der Ferne betrachtet, muss die brasilianische Seele als tief gespalten erscheinen. Seit kurzem hat das Land seinen ewigen Ruf, ein randständiger Problemstaat Lateinamerikas zu sein, zugunsten des Status einer «aufstrebenden Wirtschaftsmacht» verloren. Unversehens hat diese immense Nation weltweit Interesse geweckt: Man zeigt sich beeindruckt vom Konsumpotenzial der Bevölkerung, von der Dynamik der Gesellschaft, vom breiten Fächer der geschäftlichen Möglichkeiten — das Land wird zur Blutbank, von der sich der schlingernde Kapitalismus des 21. Jahrhunderts frischen Sauerstoff verspricht. Nun sind aber seit dem Juni dieses Jahres plötzlich Millionen von Brasilianern in den verschiedensten Regionen des Landes auf die Strasse gegangen. Die einen breiten Unmut kanalisierenden Ereignisse hinterliessen Verblüffung und Unverständnis. Was, fragten sich alle, wollen diese Leute nur? Das Land befindet sich in einem steten Wachstumsprozess und besitzt bereits die siebtgrösste Volkswirtschaft der Welt — worüber beklagen wir Brasilianer uns eigentlich?