September, 2012

 

Die fiktionalen Grenzen öffnen ...“

Dylan Horrocks im Interview über seine Kindheit, seine Rückkehr nach Hicksville und die Gemeinsamkeit von Comics und Neuseeland

Hi Dylan. Danke, dass du mit uns über deine Arbeit und die deutsche Ausgabe von Hicksville sprichst. Kannst du uns zuerst etwas über dich erzählen? Wie bist zu Comics gekommen, und was fasziniert dich an diesem Medium am meisten?

 

Ich bin mit Comics aufgewachsen, weil mein Dad immer tolle Comics mit nach Hause brachte. Als Teenager in den 1950ern träumte er davon, Comiczeichner zu werden, und er hatte einen großartigen Geschmack, deshalb las ich von klein auf Carl Barks, Robert Crumb, Schulzs Peanuts, Hergés Tintin und sogar Herrimans Krazy Kat (neben vielen anderen). Dad hat mir eine ausgezeichnete Bildung mitgegeben!

Ich weiß immer noch nicht, was mich so sehr zu Comics hingezogen hat, aber ich war definitiv von Anfang an verrückt danach. Vielleicht, weil ich gerne schreibe und zeichne und in Comics beides den gleichen Stellenwert hat. Oder vielleicht, weil Comics mir Traumwelten eröffneten, die viel lebendiger waren als alles, was ich sonst kannte. Was immer es war, Comics fühlen sich für mich heute an wie meine Muttersprache.

Hicksville ist 1998 erschienen, nachdem Teile davon eine Zeit lang als Serie in deinem eigenen Comicmagazin Pickle veröffentlicht wurden. Kannst du uns etwas darüber erzählen, wie das Buch entstanden ist, und über die Geschichte seiner Veröffentlichung bis heute?

 

Zwischen 1992 und 1997 zeichnete ich den Comic Pickle für einen kleinen kanadischen Verlag namens Black Eye. Zuerst war Hicksville nur eine von vielen Geschichten in Pickle, aber sie wuchs, bis sie allmählich das ganze Magazin einnahm und die anderen Geschichten in ihre Welt integrierte. Das ist ein Grund, weshalb Hicksville so viele „Comics im Comic“ enthält – es waren tatsächlich alles einmal separate Geschichten, obwohl ich schon immer den Gedanken hatte, dass sie irgendwie miteinander verbunden sind. Pickle gab sich als ein von Mrs. Hicks (die in Hicksville den örtlichen Buchladen und die Leihbücherei führt) herausgegebener Comic aus, ich hatte ihn als eine Art Ein-Mann-Anthologie entworfen, die scheinbar Comics von Zeichnern enthielt, die in anderen Geschichten vorkamen, und so weiter.

Irgendwann wuchs Hicksville zu einer einzigen, allumfassenden Geschichte zusammen, mit einem Plot, einer Struktur und – besonders wichtig – einem Ende. Als das Ende schließlich kam, brachte Black Eye das Ganze als Graphic Novel heraus (obwohl ich zuerst einiges änderte – ich fügte Szenen hinzu, zeichnete Passagen neu, usw.). Das war 1998, und die Graphic-Novel-Ausgabe lief viel besser, als ich gedacht hätte. Aber der Verleger Michel Vrana stieg bald darauf aus dem Comicgeschäft aus, um sich dem Graphikdesign zuzuwenden. So fand Hicksville ein neues Zuhause bei Drawn & Quarterly, wo das Buch seither verlegt wird.

Wir haben 2011 eine ganz neue Ausgabe mit einer neuen Einleitung von mir (in Comicform) herausgebracht. Ich habe zwar der Versuchung widerstanden, das ganze Buch neu zu zeichnen, aber ich habe es neu gestaltet.

Es ist schon auf Französisch, Spanisch, Italienisch und jetzt auch auf Deutsch erschienen. Und 2011 habe ich zum ersten Mal endlich eine neuseeländische Ausgabe (bei Victoria University Press) bekommen, was ein sehr schönes Gefühl war – wie nach Hause zu kommen.

 

Hicksville wird oft als eine der besten Graphic Novels des letzten Jahrzehnts bezeichnet. Wie fühlst du dich, wenn du nach fast 15 Jahren darauf zurückblickst?

 

Hicksville bedeutet mir unheimlich viel, obwohl es schon so lange her ist, dass ich anfing, daran zu zeichnen. So lange, dass es mich schüttelt, wenn ich mir manche der Zeichnungen heute ansehe. Aber es ist ein sehr persönliches Buch; ich habe so viel von mir selbst einfließen lassen, dass es mich sehr glücklich macht, wenn es bei den Leuten etwas auslöst. Im Lauf der Jahre habe ich alle möglichen Reaktionen gehört, zum Beispiel haben mir Leute gesagt, dass Hicksville sie dazu gebracht hat, selbst mit dem Comiczeichnen anzufangen, oder dass es ihre Meinung über Kunst verändert hat. Einmal sagte mir jemand, Hicksville habe ihm das Leben gerettet.

Bei all seinen Mängeln ist es doch ein sehr ehrliches, tief empfundenes Buch, und darauf bin ich stolz.

 

In der Einleitung der neuen Ausgabe von Hicksville zeigst du, wie deine Arbeit für die amerikanische Mainstream-Comicindustrie nach dem Erfolg von Hicksville deine Liebe zu Comics und zum Geschichtenerzählen vergiftet hat. Hat die Arbeit an der neuen Ausgabe dir dabei geholfen, deine Begeisterung für Comics wiederzufinden?

 

Ja, auf jeden Fall. Für die kommerzielle Comicindustrie zu arbeiten war eine faszinierende Erfahrung, aber sie hat mich als Comiczeichner beinahe vernichtet. Ich habe einige Jahre gebraucht, um wieder zu einer gesünderen Beziehung zu Comics zurückzufinden, und diese Einleitung für die neue Ausgabe zu zeichnen war ein wichtiger Teil meines Wegs. Ich habe lange gezögert, bevor ich sie schrieb; ich hatte beinahe Angst davor, nach Hicksville zurückzukehren wegen all der Zwiespältigkeit. Aber dann beschloss ich, die Gelegenheit zu nutzen, ganz zurückzugehen und meine eigene Geschichte zu erforschen, angefangen bei meinen frühesten Erinnerungen an Comics. Wenn man die Einleitung liest, merkt man, dass ich eigentlich nach Verbindungen suche und danach, welche Bedeutung Comics für mich haben. Letztendlich geht es nicht nur um Comics – genau wie es auch in Hicksville nie nur um Comics ging. Es geht um Geschichten und Kunst und darum, eine Möglichkeit zu finden, das Leben zu lieben.

 

Das Bild, das du von der Comicindustrie zeichnest, ist ziemlich negativ. „Die offizielle Geschichte des Comics ist eine Geschichte von Frustration. Von unausgeschöpftem Potenzial“, um es mit den Worten deiner Figur Kupe zu sagen. Was siehst du den momentanen Zustand der Comicindustrie?

 

Die kommerzielle Comicindustrie mit den großen Unternehmen hat sich in den letzten paar Jahrzehnten ein wenig gebessert, aber skrupellose Ausbeutung - durch ein Geschäftsmodell, das auf Zeitarbeit beruht, und die Instrumentalisierung von firmeneigenen Franchisen - ist noch immer an der Tagesordnung.

Die große Veränderung der letzten zwanzig Jahre war das Aufkommen einer parallelen Comicindustrie, die sehr wenig mit dem alten, von Superhelden dominierten Mainstream-Comicgeschäft gemeinsam hat. Diese neue Comicindustrie konzentriert sich auf Autorencomics und Graphic Novels, und was mit winzigen Nischenverlagen wie Fantagraphics und Drawn & Quarterly begann, ist inzwischen zu einem festen Bestandteil der Buchbranche herangewachsen.

Die engstirnige, ausbeuterische Industrie, die ich in Hicksville beschreibe, existiert also noch, und wenn man einen Batman- oder X-Men-Comic kauft (oder in die Filme geht), unterstützt man damit diese Industrie. Aber es gibt eine ganze Welt von Comics außerhalb der engen Grenzen jenes Industriegettos, und dort findet wie wahre Action statt. Und im Prinzip geht es in Hicksville genau darum …

 

Im Zentrum deines Buchs steht die Geschichte des jungen, ambitionierten Künstlers Dick Burger, der ein Werk veröffentlicht, das nicht sein eigenes ist, und ein mächtiger, beinahe Citizen-Kane-artiger Comicmagnat wird. Wie (und warum) hast du diese Figur entwickelt?

 

Dick Burger war zuerst eine Nebenfigur in ein paar kurzen Comics, die ich in meinen Skizzenbüchern schrieb, aber nie veröffentlichte. Ich lebte damals in London, hatte sehr wenig Geld und keine Hoffnung, außer in meinen eigenen Minicomics veröffentlicht zu werden. Ich glaube, Dick Burger erlaubte mir, sehnsüchtig in Fantasien von Ruhm und Reichtum zu schwelgen, aber auch, mich über mich selbst und meine Träume lustig zu machen. Dick Burger war immer als Kontrastfigur zu Sam Zabel gedacht, dem glücklosen, ewig mittellosen und erfolglosen Regionalpresse-Comiczeichner. Zuerst ging es immer darum, wie Dick Sam verhöhnt: „Das alles hättest du haben können, wenn du nur deine Seele verkauft hättest.“ Aber mit der Zeit wurde Dick eine viel komplexere und tragischere Figur und eine meiner Lieblingsfiguren. Seine Beziehung zu Sam ist der Yin-und-Yang-Kreis im moralischen Herzen des Buches.

 

Im Gegensatz zu Dick Burger glaubt der Comicjournalist Leonard Batts noch immer an die Bedeutung und kreative Kraft von Comics. Seine Suche nach der Wahrheit hinter dem Geheimnis von Hicksville ist in vielfacher Weise eine Suche nach ihm selbst, wobei Ausschnitte einer mythischen Comicgeschichte Neuseelands die Landkarte für seine Reise darstellen. Ist da ein Teil von dir in Leonard, der durch deine Erzählung gereist ist, während du mehrere Jahre daran gearbeitet hast?

 

Alle Figuren in Hicksville enthalten einen Teil von mir. Ich habe mich immer Sam am nächsten gefühlt, aber Leonard berührt den Geek tief in meinen Inneren, während ich nach der mysteriösen Liebe im Herzen des nerdigen Fanboys suche. Leonard war zuerst eine Art anonyme Comicfan-Figur, die ich zusammen mit dem Leser nach Hicksville in meine eigene persönliche Fantasiewelt einlud. Fankult (von allem: Comics, Filme, Musik, Literatur oder Kunst) kann sehr engstirnig und durchdrungen von Selbstherrlichkeit sein. Manchmal ist Liebe eine Art Besitztum; wir tragen sie wie eine Rüstung, sie ist wie eine Schutzmauer um einen sicheren Ort. Leonards Reise zeigt ihm eine bescheidenere Art von Liebe, eine Liebe, die ihn für neue Welten und neue Möglichkeiten öffnet.

Viele der Figuren in Hicksville versuchen zu verstehen, wie Liebe funktioniert.

In Hicksville ist Neuseeland ein Ort des magischen Realismus, an dem Landkarten nicht gelten und Leuchttürme wie Seelenmagneten wirken, die Comicautoren aus der ganzen Welt anziehen. Ist Hicksville ebenso sehr ein Buch über dein Land, wie es ein Buch über Comics ist?

 

Definitiv. Manchmal glaube ich, ich bin in zwei Ländern aufgewachsen: Neuseeland und Comics. Hicksville war eine Art, meine Beziehung zu beiden zu erforschen. Genau wie die Geschichte des Comics voller Ausbeutung und moralischer Verbrechen ist, basiert auch die Geschichte Neuseelands auf Kolonisation. Mit Hicksville wollte ich meine eigene, ganz persönliche Landkarte von Neuseeland erschaffen – eine, die es mir ermöglichte, neue Denkweisen über den Ort und unsere Geschichte und Zukunft anzuregen. Ich habe Hone Heke hineingebracht, weil er den ersten Krieg gegen die britische Zwangsenteignung maorischen Herrschaftsgebiets in Aotearoa/Neuseeland anführte. Und Captain James Cook, weil er mit jener Zwangsenteignung begann, als er die erste Karte der Inseln erstellte, indem er ihre Position und Bedeutung in der restlichen Welt neu benannte und neu definierte.

Vieles davon fand natürlich nicht nur in Neuseeland statt. Wie Avi Shlaim schrieb: „Alle Nationen sind Täuschungen.“ Länder bestehen aus physischer Geografie, Menschen, Geschichten, Mythen und Fantasien. Es interessiert mich, diese fiktionalen Grenzen zu öffnen und zu sehen, was herausströmt – und hinein.

 

Neuseeland ist dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse, und viele Deutsche werden die neuseeländische Literatur und Kultur zu ersten Mal erleben. Was kannst du uns über die neuseeländische Comicszene sagen, inwiefern ist sie ein Teil der offiziellen Kultur?

 

Comics haben in Neuseeland eine lange Tradition, und in den letzten Jahren wurden sie in der breiteren Kulturszene stärker wahrgenommen. Die erste neuseeländische Graphic Novel erschien bereits 1982 und war so beliebt, dass daraus eine sehr erfolgreiche Fernsehserie für Kinder gemacht wurde. In den vergangenen 30 Jahren wurde die lokale Comicszene hauptsächlich von kleinen Magazinen, Minicomics und Webcomics beherrscht. Doch in den letzten paar Jahren wurden mehrere neue Graphic Novels veröffentlicht, von denen es einige auf die Bestsellerlisten schafften und große Buchpreise gewannen (Chris Slane, Ant Sang, Chris Grosz). Es gibt auch mehrere neuseeländische Comiczeichner, die nach Übersee gegangen sind und dort sehr erfolgreich waren (wie Roger Langridge und Colin Wilson) und andere, die in Übersee veröffentlicht werden, obwohl sie noch immer in Neuseeland leben (Ben Stenbeck, Greg Broadmore, Karl Wills). Das Internet eröffnet Comiczeichnern neue Möglichkeiten: Li Chen ist eine junge Künstlerin aus Auckland, die Kickstarter erfolgreich nutzte, um ein Buch mit gesammelten Comicstrips aus ihrem Webcomic Exocomics.com zu finanzieren, und Sarah Laing ist eine Romanautorin, die online ein Tagebuch in Comicform begann, das eine Reihe neuseeländischer Zeitschriften aufgriffen (ihr nächster Roman enthält auch Comicpassagen). Richard Fairgray hat das Internet genutzt, um ein internationales Publikum für seine selbst veröffentlichten Comics zu gewinnen. Es passiert so viel!

Trotzdem sind einige meiner neuseeländischen Lieblingscomiczeichner noch immer unveröffentlicht (Künstler wie Barry Linton, Timothy Kidd, Mat Tait), und ich hoffe, ich kann ihrem Werk in Frankfurt ebenfalls etwas Aufmerksamkeit verschaffen. Es ist eine aufregende Zeit.

Zum Schluss noch eine Spekulation: Der Ort Hicksville scheint eine Art Utopia zu sein, nicht nur für Comics, sondern auch für alle anderen Belange des sozialen Zusammenlebens. Wäre die Welt ein besserer Ort, wenn jeder Comics läse?

 

Es wäre schön zu glauben, dass Kunst – jeglicher Art – die Welt zu einem besseren Ort machen kann. Und oft tut sie das auch. Aber meine Arbeit für die kommerzielle Comicindustrie

hat mir die Illusion genommen, dass Kunst immer ein Mittel ist, Gutes in die Welt zu bringen. Kunst ist nur ein Teil der menschlichen Kultur, und wir wissen, dass Menschen ebenso zu furchtbaren, zerstörerischen Ideen fähig sind, wie zu guten. Jede grausame Ideologie in der Vergangenheit wurde zum Teil durch Kunst verbreitet – und sogar davon beeinflusst. Und Comics sind dagegen nicht immun.

Utopia entsteht nicht durch Kunst, sondern durch Liebe und Freundlichkeit. Wie der Comiczeichner Milton Caniff einmal sagte: „Gut ist besser als böse, weil es schöner ist.“

Sabine Bergk: Gilsbrod am 04. Oktober 2012 um 20:30 bei ocelot

Posted on: September 29th, 2012 by Frithjof Klepp No Comments

 

Die Aufregung um Frau Gilsbrod, der lautesten Operndiva einer verschuldeten Kleinstadt, wird aus der stillen Perspektive einer
kündigungsbedrohten Souffleuse umschrieben. Atemlos, mit dem Furor eines einzigen Satzes, umkreist die Novelle Abgründe, Größenwahn und
Klischees einer bereits untergegangenen Theaterwelt, in dem verzweifelten Versuch, eine Koloratur auf A zu Ende zu singen.






»… und ich kann nichts mehr hören und
ich sehe, dass die Gilsbrod ihren Mund
aufgesperrt hat, diesen großen leeren
Gilsbrodmund, doch ich höre nichts
mehr, es ist still geworden innen auf der
Bühne, alles schweigt und ich sehe, wie
sie alle zittern und frage, was zittert ihr
so, ist doch endlich still geworden innen
und ich sehe, dass sie zittern vor der
Stille innen und dass sie den Gesang
der Gilsbrod nur ertragen, weil sie Angst vor
der Stille haben...«

 

 

 

 

 

 

unter Putz

Posted on: September 16th, 2012 by Dana Buchzik No Comments

 

Im Türrahmen kreuz ich die Arme und geh mit dir
von Leidenschaft aus, unter Putz pochen alte Geschichten,
strampelt ein Wort von gestern auf Kork, liegen Bilanzen sich wund
zwischen Fliesenfugen. Dein Mund schmeckt nach Butzenfenstern,
Zähneknallen gegen Glasfleisch und Splittern, an deinem
Kinn stoppelt und strauchelt dieser Moment, aber deine Hand schifft sich
ein und ich halte, was zu fassen ist; der Abend würfelt mit uns,
die Karten sind gezinkt, berührt uns noch kurz ein Anfall
von Lachen im Spiel; zu verlieren behalten wir uns
vor.

Shop until you drop!

Posted on: September 12th, 2012 by Fabian Thomas No Comments

 

Kawumm! Zum Start des Onlineshops auf ocelot.de zeigt euch das Team von ocelot, not just another weblog, wo es lang geht und was ihr auf der Stelle lesen solltet. Die Tipps für den nächsten Lesetrip zwischen Philosophie und Psycho-Thriller, Pathos und Politik, Pop und Poesie. Bestellung über das Buchcover. Lieferung versandkostenfrei an eure Haustür. Und wenn euch das nicht schnell genug ist, dann zückt eure E-Reader und zieht den Lesestoff direkt aufs Gerät!
 

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Über „Hikikomori“, den Debütroman von Kevin Kuhn

Posted on: September 7th, 2012 by Frithjof Klepp No Comments

 

Hikikomori: Japanisch für „sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“

 

Der japanische Begriff ist zu trauriger Berühmtheit gelangt – als soziales und psychologisches Phänomen spiegelt er die Schattenseite unserer modernen Gesellschaft. In seinem gleichnamigen Debüt zeigt Kevin Kuhn zum einen, wie der zunehmende gesellschaftliche Druck bei jungen, heranwachsenden Menschen zum radikalsten aller Schritte führt - nämlich der kompletten sozialen Isolation -, zum anderen führt er auf glaubwürdige Weise vor Augen, welches Protestpotenzial in einer solchen Verweigerungshaltung liegt.

„Möbel sind überbewertet“, beschließt Till eines Tages und verbannt – unter den Blicken seiner gepflegt gelangweilten Mutter Karola - sämtliches Mobiliar aus seinem Zimmer. Nur die mit Kreide aufgezeichneten Konturen erinnern noch an das Jugendzimmer, das Till von nun an immer seltener verlässt. Seitdem er erfahren hat, dass er nicht zum Abitur zugelassen ist, betreibt er Kontemplation. Er übt sich in Verzicht und treibt die Reduktion mit absoluter Perfektion voran. Er geht nicht mehr ans Telefon, macht mit seiner Freundin Kim Schluss und ignoriert sowohl seine Schwester als auch die Anrufe seines besten Freundes Jan.

Schon bald werden die Familienmahlzeiten durch ein ausgeklügeltes Zettel-Bestell-System in Komplizenschaft mit der Mutter organisiert, die ihren Sohn zunächst bei diesem „neuen Projekt“ in freigeistiger Grundhaltung unterstützt. Der Vater, ein anthroposophisch motivierter Schönheitschirurg, attestiert seinem Sohn Asperger, lässt ihn aber weiter in seiner Absonderung gewähren. Doch anstatt sich zu besinnen, igelt Till sich immer weiter ein, hängt als Ego-Shooter-Spieler permanent vor dem Computer und beschließt eine eigene Welt 0. im virtuellen Raum zu kreieren. Ein Leguan, das einzige Lebewesen in seiner unmittelbaren Umgebung, leistet ihm dabei Gesellschaft.

Allerdings bleiben die Vorgänge bei Familie Tegetmeyer auch von der Außenwelt nicht unbemerkt: Till, inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangt, wird von der Nachbarwohnung aus observiert und das Geschehen in seinem Zimmer von einer Follower-Community im Internet kommentiert.

Nach über einem halben Jahr ist die Geduld der Eltern am Ende, sie stellen Till die Heizung und schließlich sogar den Strom ab. Als das nichts bringt, beschließen Jan und Kim, ihren alten Freund aus seiner selbstgewählten Isolation zu „befreien“ …

 

 

 

 

Hikikomori schildert ein in seiner Konsequenz radikales Selbstexperiment: den Versuch, der Erwartungshaltung von Familie und Gesellschaft zu entkommen, der sich dabei der virtuellen Welt als Vehikel bedient. Ein Phänomen, das auch in unseren Breitengraden schon lange kein Einzelfall mehr ist.

 

 

 

 

 

 

Der Autor:

Der 1981 in Göttingen geborene Autor lebt in Berlin. Nach dem Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaften in Tübingen studierte Kevin Kuhn Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, wo er seit 2010 am dortigen Institut als Lehrbeauftragter tätig ist. Neben Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, schreibt er literarische Essays für Ausstellungskataloge, Galerien, Künstler: www.kevinkuhn.com

Immer wieder hat Kevin Kuhn auch im Ausland gelebt, darunter längere Zeit in Alaska und drei Jahre in Mexico City. Er war Stipendiat des textwerk-Romanautorenseminars des Literaturhauses München und 2012 Gewinner des Gargonza Arts Awards. Hikikomori ist sein erster Roman.

 

 

Bei radioeins am 6. September Favorit Buch!



 

Die Book Release Party bei uns am 14. September 2012 um 20.30 Uhr. Moderiert von der Berliner Literaturkritikerin Wiebke Porombka (FAZ/ Tagesspiegel/ taz) und musikalisch eingerahmt von DJ Lucas Humann.



Hier die Facebook-Veranstaltung dazu.