Über „Hikikomori“, den Debütroman von Kevin Kuhn

Posted on: September 7th, 2012 by Frithjof Klepp No Comments

Hikikomori: Japanisch für „sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“

 

Der japanische Begriff ist zu trauriger Berühmtheit gelangt – als soziales und psychologisches Phänomen spiegelt er die Schattenseite unserer modernen Gesellschaft. In seinem gleichnamigen Debüt zeigt Kevin Kuhn zum einen, wie der zunehmende gesellschaftliche Druck bei jungen, heranwachsenden Menschen zum radikalsten aller Schritte führt - nämlich der kompletten sozialen Isolation -, zum anderen führt er auf glaubwürdige Weise vor Augen, welches Protestpotenzial in einer solchen Verweigerungshaltung liegt.

„Möbel sind überbewertet“, beschließt Till eines Tages und verbannt – unter den Blicken seiner gepflegt gelangweilten Mutter Karola - sämtliches Mobiliar aus seinem Zimmer. Nur die mit Kreide aufgezeichneten Konturen erinnern noch an das Jugendzimmer, das Till von nun an immer seltener verlässt. Seitdem er erfahren hat, dass er nicht zum Abitur zugelassen ist, betreibt er Kontemplation. Er übt sich in Verzicht und treibt die Reduktion mit absoluter Perfektion voran. Er geht nicht mehr ans Telefon, macht mit seiner Freundin Kim Schluss und ignoriert sowohl seine Schwester als auch die Anrufe seines besten Freundes Jan.

Schon bald werden die Familienmahlzeiten durch ein ausgeklügeltes Zettel-Bestell-System in Komplizenschaft mit der Mutter organisiert, die ihren Sohn zunächst bei diesem „neuen Projekt“ in freigeistiger Grundhaltung unterstützt. Der Vater, ein anthroposophisch motivierter Schönheitschirurg, attestiert seinem Sohn Asperger, lässt ihn aber weiter in seiner Absonderung gewähren. Doch anstatt sich zu besinnen, igelt Till sich immer weiter ein, hängt als Ego-Shooter-Spieler permanent vor dem Computer und beschließt eine eigene Welt 0. im virtuellen Raum zu kreieren. Ein Leguan, das einzige Lebewesen in seiner unmittelbaren Umgebung, leistet ihm dabei Gesellschaft.

Allerdings bleiben die Vorgänge bei Familie Tegetmeyer auch von der Außenwelt nicht unbemerkt: Till, inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangt, wird von der Nachbarwohnung aus observiert und das Geschehen in seinem Zimmer von einer Follower-Community im Internet kommentiert.

Nach über einem halben Jahr ist die Geduld der Eltern am Ende, sie stellen Till die Heizung und schließlich sogar den Strom ab. Als das nichts bringt, beschließen Jan und Kim, ihren alten Freund aus seiner selbstgewählten Isolation zu „befreien“ …

 

 

 

 

Hikikomori schildert ein in seiner Konsequenz radikales Selbstexperiment: den Versuch, der Erwartungshaltung von Familie und Gesellschaft zu entkommen, der sich dabei der virtuellen Welt als Vehikel bedient. Ein Phänomen, das auch in unseren Breitengraden schon lange kein Einzelfall mehr ist.

 

 

 

 

 

 

Der Autor:

Der 1981 in Göttingen geborene Autor lebt in Berlin. Nach dem Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaften in Tübingen studierte Kevin Kuhn Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, wo er seit 2010 am dortigen Institut als Lehrbeauftragter tätig ist. Neben Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, schreibt er literarische Essays für Ausstellungskataloge, Galerien, Künstler: www.kevinkuhn.com

Immer wieder hat Kevin Kuhn auch im Ausland gelebt, darunter längere Zeit in Alaska und drei Jahre in Mexico City. Er war Stipendiat des textwerk-Romanautorenseminars des Literaturhauses München und 2012 Gewinner des Gargonza Arts Awards. Hikikomori ist sein erster Roman.

 

 

Bei radioeins am 6. September Favorit Buch!



 

Die Book Release Party bei uns am 14. September 2012 um 20.30 Uhr. Moderiert von der Berliner Literaturkritikerin Wiebke Porombka (FAZ/ Tagesspiegel/ taz) und musikalisch eingerahmt von DJ Lucas Humann.



Hier die Facebook-Veranstaltung dazu.

 

 

 

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