
In der frommen Hoffnung, dass Sie alle das Glück haben, Ihre Berufung zum Beruf gemacht zu haben (völlig egal, ob Sie Zirkusartistin, Immobilienmakler, Lehrer oder Krankenschwester sind), gehe ich jetzt einfach davon aus, dass Sie ziemlich genau wissen, wovon ich rede, wenn ich sage: Irgendwann zieht eben trotz aller Leidenschaft der Alltag ein.
So flitterwochengleich und honigkuchensüß die ersten Monate im Traumberuf auch sind, es kommt der Moment, wo man sich bei der Arbeit beobachtet und sich eingestehen muss: Das hast du aber auch schon mal mit mehr Herzblut gemacht.
Buchhändler sind ja keine Kreativen im eigentlichen Sinne. Wenn uns die Muse küsst, wird es eben ein besonders tolles literarisches Beratungsgespräch, sonst wird es eben nur ein gutes, da ist viel Handwerk dabei. Wir haben auch nicht die Verantwortung oder den Anspruch, beruflich Menschenleben zu retten, auch wenn man die therapeutische Wirkung eines guten Buches nie unterschätzen darf.
Für uns hält dieser oben genannte Alltag sehr schnell dann Einzug, wenn wir über all die kaufmännischen Herausforderungen (das können Sie jetzt auch wahlweise durch Organisieren, Putzen, Auspacken, Umräumen, Bürokram, Sortieren, Sich-Über-Das-Warenwirtschaftssystem-Aufregen ersetzen) zu vergessen drohen, dass wir es eben nicht einfach mit Ware, sondern mit der schönsten Sache auf der ganzen weiten Welt zu tun haben: dem geschriebenen Wort.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meine Arbeit. Es gab bisher keinen Morgen (und es läppern sich da mittlerweile schon einige zusammen), an dem ich nicht freudestrahlend ins ocelot, geradelt bin, froh, genau dort Teil der Berliner Buchszene sein zu dürfen. Aber offen gestanden gab es auch Tage, an denen ich so mit dem Einbuchen von 150 Kilo „Neuware“ beschäftigt war, dass es auch durchaus Waschmittelpackungen hätten sein können.
Und dann, und das ist das besondere an unserem Beruf, geschieht ein Wunder:
die „Ware“ sprich zu dir.
Mich wundert das im Grunde nicht, deswegen habe ich ja diesen Beruf gewählt, aber der Moment, in dem es passiert, ist meist so überraschend, dass ich wie ein seliges Kind vor dem vollbehängten Weihnachtsbaum stehe, während vergangene Feste aus verblassender Erinnerung durchscheinen – aufregend, aber eben auch ein altbekanntes Gefühl, deswegen nicht weniger Ehrfurcht einflössend.
Während meiner zweiten „Kinderpause“ passierte mir das sehr eindrücklich und zum ersten mal schrieb ich an eine Autorin. Ich dankte Daniela Krien für ihr literarisches Debüt. Dazu hatte ich mich zuvor noch nie genötigt gesehen.
In diesem Jahr sprach unter anderem die „Manon Lescaut von Turdej“ aus dem Weidle Verlag zu mir. Der Indiebookday im März war meine offizielle Ausrede um mich leidenschaftlich über dieses wundervolle Büchlein auszulassen.
Das sind jetzt nur zwei Beispiele von unzähligen, aber das absoluteste aller Wunder passierte mir just jetzt am Pfingstwochenende:
Aktuell ackern wir bei ocelot, die Herbstvorschauen der Verlage durch. Natürlich ist auch das schon ein nicht zu unterschätzendes Privileg und oft spricht daraus schon mehr als ein Titel zu uns, aber in vielen Fällen ist es eben auch einfach Handwerk.
Jetzt nahm ich mir übers lange Wochenende ein Leseexemplar von Hanser mit nach Hause, der Titel erscheint im August, und erwartete zumindest solide Kost eines nicht unbekannten österreichischen Autors.
Wie naiv kann eine Buchhändlerin eigentlich sein?
Dieses Buch hat mir spätestens ab Seite vierzig den literarischen Kick verpasst, der meine Berufsehe bis weit über die Rente hinaus im schönsten Honigmond schweben lässt. Da war es, das Wunder, das immer genau dann kommt, wenn du es nicht einforderst. Ein Buch, dessen kompromisslose Geschichte mir die buchhändlerischen Schuhe ausgezogen hat, in dessen rätselhafte Abgründe ich immer tiefer eintauchen wollte, dessen sprachliche Höhen mich Seite um Seite mitgerissen haben und das mich veranlasst hat, ab Seite achtzig nur noch im Schneckentempo zu lesen, damit ich es bloß lange, lange genießen kann.
Dass es wirklich grandiose zeitgenössische deutschsprachige Literatur gibt, habe ich in jeder Saison aufs Neue entdecken dürfen, sonst wäre ich irgendwann Antiquarin geworden. Doch dieses fast verschwörerische Gefühl, es lange vor dem eigentlichen Erscheinen des Buches bereits zu wissen, das ist neu.
Jetzt, wo ich so herzvoll davon bin, lasse ich hoffentlich einen Teil davon hier.
Denn Monogamie ist im Buchhandelsgeschäft unangebracht. Ich muss noch viel, viel mehr lesen und einschätzen. Es wird Menschen geben, für die dieses Buch nicht das richtige ist. Also muss ich tapfer weiter reiten – äh, lesen, auf dass ich jeden seinem Wunder-Buch zuführen kann. (Das lässt schon wieder völlig unangebrachte Jane-Austen-Assoziationen zu.)
Der Nachfolgetitel für mich wird es schwer haben, wie soll denn jetzt noch ein Buch ... obwohl: Da guckt mich doch was an, da ganz oben auf meinem LEX-Stapel …