Oktober, 2013

Malcolm Lowry: Unter dem Vulkan

Posted on: Oktober 29th, 2013 by Fabian Thomas No Comments

 

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Zeitgenössische Illustration zum Día de los Muertos von José Guadalupe Posada (1854-1913)

Joseph Roth, Jörg Fauser, William Faulkner: Vielleicht sollte es mir zu denken geben, dass viele meiner Lieblingsautoren handfeste Alkoholiker waren.

Gehören Schreiben und Trinken vielleicht einfach untrennbar zusammen? Oder ist das nur ein altes Vorurteil, mit dem die eigentliche Arbeit, die hinter einem Roman steckt, kaschiert wird? Bei Malcolm Lowry fließt der Alkohol jedenfalls auch auf den Seiten in Strömen; wenn man die lange Entstehungszeit und den Nachruhm von Unter dem Vulkan betrachtet, muss aber mehr dahinter stecken als nur einer der größten Säuferromane aller Zeiten.

Unter dem Vulkan spielt an nur einem einzigen Tag im Mexiko der dreißiger Jahre. Selten wäre eine Handlungswiedergabe aber so zwecklos wie hier: Die endlosen inneren Monologe des betrunkenen Konsuls Geoffrey Firmin springen wahllos in den Zeitebenen und machen es unmöglich, von einer geschlossenen Erzählung zu sprechen. Den Rahmen bildet dabei stets die Liebe zu einer Frau – Yvonne, die ihn eigentlich verlassen wollte, aber zu Beginn der Handlung noch einmal zu ihm zurückkehrt, bevor die Beziehung endgültig zerbricht. Ausgehend davon schmückt Lowry seine Erzählung mit zahlreichen literarischen Anspielungen aus, die sie in die Nähe von Dantes Göttlicher Komödie, Christopher Marlowes Doktor Faustus und Charles Baudelaires Blumen des Bösen rücken.

Aber das Wichtigste vielleicht: Unter dem Vulkan ist Literatur pur: Jeder Schatten an der Wand, jeder Grasbüschel, jeder Vogel, der am Himmel vorbeifliegt, wird in einer poetischen Sprache eingefangen, die selbst in der deutschen Übersetzung aus den fünfziger Jahren noch verblüfft. Umso tragischer, dass Malcolm Lowry die Nachwirkung seines Werks nicht mehr erleben sollte: Als er 1957 starb, war Unter dem Vulkan schon nicht mehr lieferbar.

Unter dem Vulkan

Malcolm Lowry

Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1994

9,95 €

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Fabian Thomas ist Herausgeber von The Daily Frown, dem Magazin für Musik, Literatur, Alltag. Er liebt alte Schallplatten, schöne Bücher und geht gerne zu Fuß, weil man so mehr mitkriegt. In der Reihe ocelot Classics stellt er einmal im Monat Lieblingsbücher und Wiederentdeckungen vor.

 

Ein Gastbeitrag von René Kohl

»Wenn man klein ist, kann jederzeit jemand Größeres kommen und einem alles wegnehmen. Wir müssen für Chancengleichheit hinsichtlich der Kaufkraft mit den etablierten Buchhändlern sorgen.« Jeff Bezos 1996

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Brad Stone, Wirtschaftsjournalist der New York Times und Bloomberg Businessweek, hat mit Der Allesverkäufer ein außergewöhnlich gut recherchiertes Buch abgeliefert, das dem gewöhnlich äußerst zugeknöpften Amazon-Imperium und seinem kommunikationsgeschulten CEO reichlich oft hinter die Fassade schaut.

Ich habe das Buch vor allem mit Blick auf die jüngere Geschichte, Gegenwart und mögliche Zukunft der Buchbranche gelesen und will mich hier auf diesen Bereich fokussieren.

Bezos erkannte Mitte der 90er Jahre, dass sich das Internet dank der Erfindung des Browsers eines explosiven Nutzerwachstums erfreute, und dachte früh über einen everything store nach. Warum (zunächst) Bücher? Nun, man konnte unmöglich mit allen Artikeln zugleich beginnen, und Bücher waren perfekt für den Start: »Der Käufer wußte […] genau, was er bekommen würde.« Es gab mit Ingram und Baker & Taylor zwei maßgebliche Barsortimente, also Zwischenhändler, man mußte daher nicht alle Verlage einzeln abklappern, und das weltweite Titelangebot war größer, als jeder stationäre Laden es hätte abbilden können – wer dies online konnte, hatte also in punkto Titelfülle schon mal die Nase vorne. Und praktischerweise hatte man auf diesen Titelkatalog direkten Zugriff und bekam ihn von R.R. Bowker, der Firma, die für die ISBN-Nummern in den USA zuständig ist, zur Verfügung gestellt (in Deutschland fand man ähnliche Bedingungen vor – Barsortimente, die gerne die Ware lieferten, und das VLB, das äußerst günstig die Katalogdaten für 1 Mio Titel lieferte – ein ziemlich gemachtes Nest).

Am 16.7.1995 ging die Webseite Amazon.com offiziell online; und schon in der ersten Woche gingen Bestellungen über 12.000 Dollars ein – ein kleines Indiz dafür, wie sehnsüchtig in dem großen Land ein Versandservice wie der von Amazon erwartet wurde. Bereitet war der Boden (auch hier gibt es Analogien zu Deutschland) auch durch eine vorangegangene Expansion der großen Buchkaufhaus-Ketten Barnes & Noble und Borders (seit 2011 insolvent) – die u.a den Marktanteil der unabhängigen Buchhandlungen von 1991 bis 1997 von 33 auf 17 Prozent fallen ließen.

Die ersten Jahre bei Amazon wurden schon häufiger erzählt: Legendäre Weihnachtsgeschäfte, bei denen die ganze Belegschaft vom Lagerarbeiter bis zum Chef anpacken mußte, wohlmeinende Presse- und TV-Berichte, die das Unternehmen häufig über die Kapazitätsgrenzen brachten – und bei allem ein brutales Tempo, das Bezos auf seinem Erorberungsfeldzum im eCommerce vorlegte. Er hatte eine ziemlich klare Vorstellung des Darwinismus, der den Umgang unterschiedlich starker Unternehmen miteinander bestimmte (in Deutschland diskutierte nicht nur die Buchbranche die Verdrängungsmechanismen, mit denen etwa Thalia sich Platz für die Expansion verschaffte) - eine Erkenntnis, die ihm als kleinem Unternehmer genauso klar war wie später als Großkonzernchef, der von eben diesen Größenvorteilen Gebrauch machen sollte

 

Es zeigte sich allerdings, dass die Großen, wie etwa die Riggio-Brüder, die Chefs von Barnes & Noble, nur halbherzig in das Online-Geschehen eingriffen: »Die Riggios verloren nur ungern Geld mit einem letztlich relativ kleinen Teil ihres Geschäfts und hatten nicht die Absicht, ihre tüchtigsten Mitarbeiter auf ein Unterfangen anzusetzen, das am Ende nur Umsatz von ihren lukrativen Ladengeschäften abzog.«

Genau dieses Innovators Dilemma beschrieb Clayton Christensen in einem von Bezoz’ Lieblingsbüchern 1997. Bezoz selbst zog in Kenntnis dessen, als das Thema eBook auf die Agenda kam, für sein Unternehmen einen anderen Schluss und beauftragte einen seiner besten Männer folgendermaßen: »Ich möchte, dass Sie vorgehen, als wollten Sie den ganzen traditionellen Buchhandel arbeitslos machen«, womit er nicht nur das stationäre Sortiment, sondern durchaus auch die Abteilungen von Amazon, die mit dem Vertrieb physischer Bücher beschäftigt waren, einbezog.

Nach einem kühnen Start geriet Amazon, wie viele andere dotcoms um die Jahrtausendwende auch, ins Straucheln. Die auf Langfrist angelegte Strategie von Bezos kollidierte mit der nun eintretenden Kurzfrist-Analyse, der sich die ganzen Start-Ups in der Ernüchterung nach 9/11 ausgesetzt sahen, und Bezos’ offenbar unerschöpflicher Optimimismus geriet fast an an eine Grenze, für deren Beschreibung sich Brad Stone im Buch viel Zeit läßt: Ein Lehmann Brothers Analyst namens Ravi Suria veröffentlichte eine Reihe von sehr kritischen Bewertungen der Wirtschaftlichkeit Amazon und schaffte es offenbar fast im Alleingang, die Aktie von Amazon in den Keller zu schicken – ein interessantes Detail, das die Verwundbarkeit des Unternehmens auf Grund kritischer öffentlicher Meinung darlegte (mich erinnerte die Passage an das Frühjahr dieses Jahres in Deutschland, als ein TV-Bericht des HR Amazon mindestens einen Monat lang einen ordentlichen Prozentsatz des Umsatzes gekostet haben wird).

 

Aber Amazon überlebte diese Zeit, und Bezos konnte sich fast sicher sein, dass, wenn sein Unternehmen durchkam, es gestärkt aus der Krise hervorgehen würde. In diesen Monaten erarbeitete man bei Amazon dann das »Konzept des Schwungrades«, mit dem man die Zukunft angehen wollte: »Niedrige Preise bringen mehr Kundenbesuche. Mehr Kunden erhöhen das Umsatzvolumen und ziehen mehr (Provision zahlende) Fremdanbieter an. Das gestattet es Amazon, mehr aus seine Fixkosten – wie etwa den Logistikzentren und den zum Betrieb der Website nötigen Servern – herauszuholen, Diese verbesserte Effizienz gestattet eine weitere Senkung der Preise.« Hat man diese Mechanik erst einmal erkannt, so kann man künftige potentielle Schritte darauf hin prüfen, ob sie Teil dieses Schwungrades sein können, um sie dann einzubauen und andernfalls zu verwerfen.

 

Tiefpreise sind also ein zentrales Element in der Amazon-Geschäftsstrategie. Falls noch irgendjemand in Deutschland Zweifel hegt, wieso die Buchpreisbindung dem stationären Sortiment dient, findet er in der brutalen Anwendung der Preisdumping-Strategie – wenn es sein muss, Verkaufspreise unter Einkaufspreisen – viele Beispiele in diesem Buch.

 

Tiefpreise kann derjenige am besten gewähren, der sein komplettes Geschäft der Kostenanalyse unterwirft. Und hier scheint Bezos ein Meister zu sein: Das Buch zeigt eine große Palette an Elementen in der ganzen Prozesskette auf, deren Effizienz von Bezos und seinen Leuten hinterfragt wird; und oft kommen sie bei Amazon zu dem Ergebnis, dass es nicht reicht, Produkte von der Stange einzusetzen, sondern dass man sich seine Lösungen selbst auf den Leib schneidern muss. So bauen sie am Ende die komplette Software für ihr Fulfillment selbst – und bekommen so dafür den perfekten Schlüssel geliefert, um für jede Produktpalettenerweiterung und den sehr elastischen Marketplace gewappnet zu sein.

 

Wenn man groß genug ist, kann man auch an den Lieferanten-Preisen drehen, und Bezos weiß genau, wann er groß genug ist. Zahlreiche Beispiele im Buch zeigen, wie er die Verlage, die ihn offensichtlich in mehrerlei Hinsicht unterschätzt haben, mit Konditionenforderungen quält, sobald er am Drücker ist. Stone beschreibt im Buch das Gazellen-Projekt: »Im Rahmen des Gazellen-Projektes teile Blakes Gruppe [Lyn Blake war für die Verlagskontakte zuständig] Verleger in Kategorien nach ihrer Abhängigkeit von Amazon ein und fing bei den Verhandlungen mit den verwundbarsten Verlagen an [...] wie ein Gepard eine kranke Gazelle verfolgt.«

Randy Miller, Nachfolger von Blake, »gab selbst zu, dass er ein geradezu sadistisches Vergnügen dabei empfand, Verlegern günstigere Konditionen abzupressen.« Er setzte bei den europäischem Verlegern mit massivem Druck bessere Konditionen durch. Das Prinzip der Stärke scheint sich, wenn ich richtig unterrichtet bin, bis heute nicht geändert zu haben – viele deutsche Verlagskollegen erzählen unter der Hand von dem massivem Druck, dem sie Jahr für Jahr ausgesetzt sind.

Während die Verlage also im Vertrieb mit physischen Büchern durchaus hätten gewarnt sein können, was die Preispolitik und Ausnutzung von Marktmacht anging, wiederholte Amazon seine Verhandlungen mit erneut erstaunlich kurzsichtigen Verlagen zur Einrichtung des Kindle-Shops.

 

Amazon spielte seine Marktmacht wiederum aus, um an möglichst viele eBooks zu kommen, ließ die Verlage über relevante Aspekte des Geschäfts, vor allem seine (Niedrig-)Preisvorstellungen im Unklaren und sorgte mit dem Startschuss des eBook-Geschäftes bereits für ein extrem ungleich verteiltes Kräfteverhältnis, das sich das Unternehmen dann auch noch in dem mehrjährigen juristischen Streit um das Agency Modell juristisch absicherte, indem es allen Formen einer vermeintlichen oder tatsächlichen Absprache unter den Verlegern im Verbund mit Amazons Mitbewerber, Apple, den Riegel vorschieben ließ.

Einer der Executives eines großen Verlagshauses wird von Stone so zitiert: »Es war ein weiterer Nagel in den Sarg, der sich über uns schloss, ohne dass es jemand merkte, obwohl kein Tag verging, an dem wir uns nicht darüber unterhalten hätten.«

 

Während die Buchbranche seit ein paar Jahren an den Konsequenzen der Digitalisierung und der starken Vorherrschaft Amazons im Bereich des eBook-Vertriebs zu knabbern hat, setzt Amazon bereits auf das nächste Geschäftsfeld: Mit Amazon AWS steigt Amazon in großem Stile in das Cloud Computing ein – und nutzt auch hier den Umstand, zunächst zum Eigenbedarf Technologie entwickelt zu haben, die man nun auch für Dritte anbieten kann (eine umfangreiche Analyse zum AWS-Projekt gibt es vom FAZ-Wirtschaftsjournalisten Carsten Knop: Amazon kennt Dich schon).

 

Brad Stone beendet sein Buch mit einigen fragenden Prognosen – die er für Amazon sämtlich mit »Ja« beantwortet:
Kommt Same-Day-Delivery? In eigenen Fahrzeugen? Die Lebensmittellieferung? Amazons Mobiltelefon?Weltweit?
Jeweils ein klares »Ja« von Stone – aber auch zur Frage, ob sich die Kartellbehörden mit Amazons Marktmacht befassen werden.

 

Dringender denn je, so scheint es, muß eine Chinese Wall zwischen die unterschiedlichen Geschäftsfelder von Amazon gezogen werden. Zu sichtbar wird die negative Ausnutzung der Marktmacht und -kenntnis auf zunächst unterschiedlichen Geschäftsfeldern von Amazon, und die präzise geschilderten Beispiele dieses Machtmißbrauchs durch Stone könnten das Thema schneller auf die Agenda der Kartellbehörden bringen.

Bezos selbst scheint in seinem Optimismus weiterhin unerschütterlich. Nur eines noch, so scheint es, könnte die Entwicklung von Amazon wirklich beeinflussen: Eine veränderte öffentliche Meinung.

Stone nennt in seinem Buch ein wohl relativ junges Bezos-Memo mit dem Titel »amazon.love«. Bezos fragt sich und seine Mitarbeiter darin, warum manche Unternehmen gemocht werden, als cool gelten, und andere nicht. Offenbar sieht er im Coolnessfaktor einen relevanten Erfolgsschlüssel, und offenbar ist er sich nicht ganz sicher, ob es Amazon mittelfristig gelingt, zu den coolen Unternehmen zu gehören.

Wal-Mart zum Beispiel, so sieht er es, »habe es mit einer Fülle sympathischer Konkurrenten in Form kleiner Läden im Ort zu tun, die im Wettbewerb zum Unternehmen stehen« und gilt eher als uncooler Riese.

»Wir haben nicht viele große Vorteile«, wird Jeff Bezos im Gespräch mit dem Verleger Tim O’Reilly zitiert. »Also müssen wir einen Strick aus vielen kleinen Vorteilen drehen.«

 

Jeff Bezos wird in dem Buch nicht mit Samthandschuhen angefaßt. Seinen Umgang mit den Kollegen und mit seinen Geschäftspartnern empfehle ich nicht zur Nachahmung. Von seinem unermüdlichen Optimierungsdrang, von seiner Neugierde und seinem Optimismus jedoch können wir sicherlich vieles lernen – daher empfehle ich dieses Buch jeder Kollegin und jedem Kollegen sehr zur Lektüre und zur Ermunterung, selbst einen Strick aus den vielen kleinen Vorteilen des stationären Handels zu drehen.

We read Indie stellt sich vor

Posted on: Oktober 22nd, 2013 by Sophie Schmidt No Comments

 

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Hallo, toll Euch an Bord zu haben! Verratet uns doch einmal, wer genau hinter We read Indie steckt.

We read Indie, das sind acht Literaturbloggerinnen, die sich im April dieses Jahres zusammengetan haben, um auf Bücher aus unabhängigen Verlagen aufmerksam zu machen. Wir sind allesamt selbst in der Branche tätig (u.a. im Buchhandel und im Verlagswesen), kennengelernt haben wir uns jedoch virtuell über das Bloggen. Jede von uns betreibt seit mehreren Jahren einen eigenen Literaturblog: Ada Mitsou liest…, Bibliophilin, Bücherwurmloch, buzzaldrins Bücher, Klappentexterin, Literaturen, SchöneSeiten und Syn-ästhetisch.

In der Masse an Bücherblogs, die es mittlerweile gibt, haben wir zueinander gefunden, weil sich unsere literarischen Geschmäcker in etwa decken und wir alle stets auf der Suche nach dem besonderen Buch sind. Unser Augenmerk gilt dabei ganz klar der Gegenwartsliteratur, einige von uns machen hin und wieder auch Ausflüge in andere Genres, zum Beispiel ins Kinder- und Jugendbuch sowie in die Spannungsliteratur. Diese inhaltliche Ausrichtung setzt sich auch auf We read Indie fort.


Wie kam es zur Gründung von We read Indie?

Nach dem großen Erfolg vom „Indiebookday“, der vom Hamburger mairisch Verlag initiiert wurde und am 23. März 2013 stattfand, fragte sich die Bloggerin Simone Finkenwirth a.k.a Klappentexterin: Warum nur einmal im Jahr die Kleinverlagskultur stärken? Warum nicht einen Ort schaffen, auf dem regelmäßig über die Indie-Szene berichtet wird? Gesagt, getan: Sie holte sieben Kolleginnen ins Boot, und am 2. Juni 2013 erblickte die neue Plattform We read Indie das Licht der Netzwelt.


Welches Ziel verfolgt Ihr mit Eurer Arbeit?

Der Buchmarkt ist unübersichtlich und wird nach wie vor von den großen Publikumsverlagen beherrscht. Dabei sind gerade die Kleinverlage wichtig, um eine literarische Vielfalt zu gewährleisten und auch unkonventionellen Stimmen jenseits der Marktstrends eine Chance zu geben. Allerdings verfügen sie naturgemäß über deutlich weniger Ressourcen (personeller und vor allem finanzieller Art), um aus eigener Kraft auf sich aufmerksam zu machen.

Unser Ziel ist es daher, die Kleinverlagskultur sowie den unabhängigen Buchhandel zu stärken, indem wir literaturbegeisterte Menschen über Bücher und Verlagsprogramme abseits des Mainstreams informieren. Dabei ist es uns wichtig, mit Kulturschaffenden und Institutionen verschiedenster Art zusammenzuarbeiten und auch andere Literaturbegeisterte als Gastschreiber mit ins Boot zu holen.


Was hat Euch dazu bewogen, jetzt mit ocelot, zusammenzuarbeiten?

ocelot, verkörpert das, was wir unterstützen: Unabhängigkeit, Kreativität und Qualität. Ocelot ist offen für neue Impulse, immer in Bewegung, das Gegenteil von festgefahren. Es zeigt, dass der Buchhandel und die Literaturbranche noch nicht am Ende sind und dass es noch viel zu entdecken gibt. Dass das Feld nicht den großen Playern überlassen werden darf und dass die Kleinen eine wichtige Stimme haben, heute mehr denn je.

Und diese Kleinen sind es ja, die uns am Herzen liegen. Das sind die kleinen Verlage, die den Markt mit großartigen Büchern bereichern, und das sind die kleinen Buchläden, die nicht nur unsere Städte lebendig machen, sondern ebenso für das besondere Buch brennen wie wir. Beiden wollen wir helfen, aus dem Schatten der Großen herauszutreten, indem wir unsere Rezensionen für den Online-Auftritt von ocelot, zur Verfügung stellen.

 

Hand aufs Herz, sind alle Eure Lieblingsbücher von unabhängigen Verlagen?

Natürlich nicht. Wir – und die Leser unserer Blogs – sind auf der Suche nach literarischen Perlen und besonderen Lektüreerlebnissen, da kommt es nicht darauf an, welcher Verlagsname auf dem Deckel steht. Und es steht ja außer Frage, dass auch Konzernverlage mitunter sehr schöne und qualitativ hochwertige Bücher machen. Sie alle verdienen es, dass man auf sie aufmerksam macht und sie heraushebt aus der Flut an Neuerscheinungen, die den Markt jedes Jahr überschwemmt.

 

We read Indie schreibt ab sofort Rezensionen für den ocelot, Onlineshop unter www.ocelot.de. Entdecken Sie alle We read Indie Bücher unter

Klappentexterin stellt sich vor

Posted on: Oktober 22nd, 2013 by Sophie Schmidt No Comments

 

(c) Caterina von SchöneSeiten

(c) Caterina von SchöneSeiten

Hallo, wer bist Du und wie heißt Dein Blog?

Ich bin die Klappentexterin und betreibe den gleichnamigen Blog.

 

Warum machst Du bei We read Indie mit?

 Der vom mairisch Verlag initiierte Indiebookday 2013 hat mich dazu inspiriert, eine Plattform für Literatur aus unabhängigen Verlagen zu schaffen. Ich stellte mir die Frage: Warum nur einmal im Jahr auf Indiebooks aufmerksam machen? Der Buchmarkt ist unübersichtlich und wird von den großen Publikumsverlagen beherrscht. Doch die kleinen Verlage gehören ebenfalls dazu, sie sind ein wichtiger Bestandteil der Literaturwelt. Sie unterstützen die literarische Vielfalt und begeistern mich immer wieder, ob es sich nun um die liebevolle Gestaltung der Bücher handelt oder die Menschen selbst, die dahinter stehen. Diese Arbeit verdient eine besondere Aufmerksamkeit, deshalb mache ich bei We read Indie mit. Außerdem macht dieses Gemeinschaftsprojekt mit meinen Bloggerkolleginnen unglaublich viel Spaß. Die Türen, die sich uns öffnen und die zahlreichen Begegnungen in der Kleinverlagskultur, zaubern mir ganz oft ein Lächeln ins Gesicht.

 

Was machst Du, wenn Du nicht gerade für We read Indie oder Deinen Blog schreibst?

In erster Linie arbeite ich als Führungskraft im Buchhandel. Wenn dann noch Zeit ist, besuche ich Lesungen, besonders gern bei ocelot. Im Sommer fahre ich mit dem Rad durch Berlin, im Winter ziehe ich nach Arbeitsschluss meine Runden im Schwimmbad. Ich schaue mir auch mit großer Begeisterung Serien wie The Sopranos, The Wire, Mad Men oder Homicide an.

 

Was macht Deinen Blog besonders?

Im Grunde ist natürlich jeder Blog für sich besonders, aber ich höre oft, dass meine Leser von meiner ganz eigenen Sprache fasziniert sind. Ich mag die Sinnlichkeit von poetischen Worten, bin tief in ihnen verwurzelt. Meine Gedanken über Bücher in weiche Wortbilder zu packen, bereitet mir große Freude, weil ich so schreiben kann wie ich denke. Für mich persönlich ist mein Blog mein großes Notizbuch, in dem meine Kreativität und meine Sprache ein Zuhause gefunden haben.

 

Was ist Dein Lieblingsleseort?

Mein Bett. Und die Couch.

 

Was ist Deine Empfehlung für den Literaturherbst 2013?

„Stark wie der Tod“ von Guy de Maupassant. Der erstmals im Jahre 1889 erschienene Roman wurde kürzlich in der Edition Büchergilde mit Illustrationen von Jim Avignon veröffentlicht. Letzten Sonntag dachte ich noch: „Stark wie der Tod“ ist das richtige Buch für den Herbst, weil die melancholische Stimmung darin genauso gut in die Jahreszeit passt wie die thematisierte Vergänglichkeit. Dieser Klassiker lädt dazu ein, sich zu Hause einzuigeln und bei Tee und Kerzenschein in die berührende, nachdenkliche Geschichte vollkommen einzutauchen. Die meist farbigen, plakativen Illustrationen von Jim Avignon leuchten auf einigen Seiten erhellend auf und erinnern mich an bunte Herbstblätter. Dieses Buch ist einfach wunderschön und zählt deshalb zu meinen Lieblingen in diesem Literaturherbst.

 

Allein auf einer Sandbank

Posted on: Oktober 4th, 2013 by Fabian Thomas No Comments

 

Ein Gastbeitrag von Joachim Hake

engstler-wasser„Ich stehe hier auf einer Plat und muss ertrinken…“ Tjark Evers hat gelebt und ist gestorben. Ein Taschenbuch, ein Halstuch, ein Bleistift und eine Kiste erinnern an ihn in einem Museum auf Baltrum. Am Tag vor Weihnachten 1866 irrtümlich auf einer Sandbank abgesetzt und nicht auf der Insel. Tjark Evers weiß, dass er sterben wird. Und er fängt an zu schreiben, letzte Grüße an seine lieben Eltern, Gebrüder und Schwestern: „Gott erbarme sich / über mich und tröste / Euch ich stecke / dieses Buch in / eine Sigarren / Kiste. Gott gebe daß ihr die Zeilen / von meiner Hand / erhaltet. Ich grüße / Euch zum letzten Mal“. Der tote Körper von Tjark Evers wurde nie gefunden.

Die Novelle Auflaufend Wasser (Göttingen 2013) von Astrid Dehe und Achim Engster nimmt das Schicksal von Tjark Evers auf und birgt sein Leben und Sterben im beklemmend-schönen Lauf ihrer Sätze, die dem Rhythmus der todbringenden Wellen folgen im lakonisch-tröstenden Zählton der Inventuren. Auf einer Plat in der See bleibt nichts als Zählen und Beten, das an die Eltern Denken und das Schreiben. Standgewinnen auf bodenlosem Halt, auf feuchtem Sand, der von Wasser durchspült wird, Stehen und doch nicht stehen können, Gegenhalten, der Druck des Fleisches auf den Bleistift als einzige Gewissheit und schreiben, wenn alles sich auflöst. Im Kopf Erinnerungs- und Hoffnungsfetzen, die im Nebel auftauchen, für einen Moment Kontur gewinnen und verschwinden. Sätze aus dem Lehrbuch der Navigation gehen Tjark Evers durch den Kopf wie die Verse aus dem reformierten Gesangbuch. „Was ihm heute passiert, ist Regel, nicht Ausnahme. (…) Wer ins Watt geht, kommt darin um, früher oder später! So ist das.“

Astrid Dehe und Achim Engstler haben eine dichte Novelle geschrieben. Für Tjark Evers steht auf dem Vorsatzblatt. Ein Buch über den Gott der See und den Gott des Himmels. An den Gott des Himmels und des Advents glaubt Tjark Evers wie seine Eltern und Großeltern und von ihm erwartet er Trost und Gnade. Retten aber kann er ihn nicht. Vor dem Gott der See und des Zornes aber, dämonischen Mächten und Gewalten von Wasser und Nebel, versucht er, Stand zu gewinnen und zu widerstehen.

Auflaufend Wasser ist ein Buch von Widerstand und Ergebung, Todeserwartung und Hingabe. In den Rhythmus der Wellen mischen sich leise Stimmen von Anaximander und Shakespeare, von Luther und Günter Eich, von Gnosis und Mystik. Vor allem aber ist es ein Buch von der rettenden Kraft des Erzählens, „Das bleibt doch von jedem Menschen: was man von ihm erzählt. Das trennt sich ab: der tote Körper, irgendwo, auf einem Friedhof, auf dem Grund der See, und die Geschichte, die am Leben bleibt, über Generationen erzählt und wiedererzählt.“

Zuerst erschienen in: Christ in der Gegenwart, September 2013