November, 2013

Poesie bedeutet auch immer Bindung

Posted on: November 29th, 2013 by Ralf Diesel No Comments

 

Alexander Nitzberg zu seiner Übersetzungsarbeit an „Meister und Margarita“. In einem Interview mit Ralf Diesel.

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R. D.: Ist eine Übersetzung nicht grundsätzlich zum Scheitern verurteilt? Und wenn, was würden Sie am ehesten sagen, woran Sie gescheitert sind? Und was haben Sie an der vorherigen Übersetzung verbessert?

A. N.: Na ja, mit derselben Berechtigung könnte man behaupten, unser ganzes Leben sei zum Scheitern verurteilt ... Das wäre wahrlich kein motivierendes Ziel, um fünf Jahre lang an einer Übersetzung zu arbeiten. Natürlich will ich nicht scheitern, sondern im Gegenteil etwas erschaffen. In einer neuen Sprache. Etwas Bleibendes. Die Tragik ist dabei allerdings, daß Übersetzungen gewöhnlich eine kürzere Lebenszeit haben als die Originale. Aber gilt das auch wirklich immer? Wie schaut es zum Beispiel aus, wenn die Übersetzung selbst inspiriert und nicht einfach nur eine reine Routine ist? Ich jedenfalls lese Homer viel lieber in der zweihundert Jahre alten Übersetzung von Johann Heinrich Voß als in einer zeitgenössischen. Sie erscheint mir einfach viel kunstvoller. Und das Alter ihrer Sprache paßt zu Homer weit besser als die Sprache von heute. Doch zurück zu Ihrer Frage: Die Übersetzung ist langsam, prozeßmäßig gewachsen. Nach meiner Entscheidung, Bulgakows Roman aus der Sprache der russischen Moderne in die Sprache der deutschen Moderne zu übersetzen, habe ich erst einmal viel experimentiert. Um zu erkennen, wie weit ich überhaupt gehen kann. Und je weiter ich kam, um so mutiger wurde ich und mußte anschließend die ganze erste Hälfte überarbeiten, um sie an den inzwischen erprobten Stil anzupassen. Vielleicht hätte der Text noch eine oder zwei solcher Schichten benötigt? Wer weiß? Vielleicht würden dann die besonders dramatischen Stellen noch kühner klingen? Vielleicht auch nicht. Nach zwei oder drei weiteren Jahren. Doch so läßt sich ein Werk auch zu Tode übersetzen. Dann ist es doch gut, anzuhalten und sich zu sagen: Ich habe alles gegeben, was zu geben ich in der Lage war. Im übrigen verbessere ich nur sehr selten alte Übersetzungen. Wenn ich mit ihnen unzufrieden bin und neue Möglichkeiten sehe, die mir damals verborgen blieben, dann übersetze ich die Werke lieber neu. Doch manche empfinde ich als vollendet, zum Beispiel meine Übersetzungen der Sonette von Edmund Spenser. Da möchte ich nicht eine Silbe daran verändern. Auch in zwanzig Jahren nicht.

Haben Sie vielleicht wegen einiger Stellen dem Autor gegenüber ein schlechtes Gewissen? Welche eventuell unumgänglichen Lücken im Übersetzen sehen sie als tragisch an?

Warum fragen wir nicht einmal umgekehrt den Autor: Ob er nicht wegen einiger Stellen ein schlechtes Gewissen dem Übersetzer gegenüber hat? Denn M&M ist kein wirklich abgeschlossenes Werk, es hat sehr viele Unebenheiten und, wie ich meine, nicht nur bewußte ... Der Übersetzer, der tief in den Text eindringt, bemerkt sie viel eher als der Leser und muß mit ihnen verzweifelt ringen. Das Tragische sind nicht so sehr die unumgänglichen Lücken als vielmehr das manchmal unumgängliche Füllen dieser Lücken ...

Was achten Sie am meisten – an Bulgakow sowie an M&M?

Seine nicht nachlassende Energie. Er ist immer sprungbereit, niemals lauwarm. Seine Sprache ist nie gefällig. Das fordert heraus, das verlangt geradezu nach einer Konfrontation, einem Kräftemessen. Ich hasse das von den Feuilletonisten mit Anhauch ausgesprochene Wort »einfühlsam übersetzt«. Angesichts der Bulgakowschen Sprache klingt das beinahe wie blanker Hohn. Denn hier darf richtig zugepackt werden. Es ist ein Kampf mit harten Bandagen. Keine philologischen Streicheleinheiten. Und aus dieser widerborstigen Sprache gelingt es Bulgakow mit diesem Roman, eine eigene Welt entstehen zu lassen. Einen Kosmos. Etwas, wo man bis heute ausländische Touristen hindurchführt und ihnen erklärt: Hier hat Margarita gewohnt, dort ist Berlioz überfahren worden. Gut schreiben können viele, aber einen lebenden Mythos erschaffen ...

Ihr „vorläufig abgeschlossenes Lektorat“, wie stark arbeitet das noch in Ihnen?

Ich habe, wie bereits gesagt, irgendwann einen Punkt gesetzt. Ich halte nichts von Werken, die nie zu einem Ende kommen. Das ist ungesund. Erst wenn etwas fertig ist, wird es überhaupt als Ganzes erkennbar, bekommt es überhaupt eine Form. Ich betrachte die Übersetzung also als abgeschlossen und kann seitdem wieder ruhig schlafen. Es sei denn ich arbeite an etwas Neuem.

Wenn das im Umkehrschluss die Frage zulässt: Trieb die Arbeit an der Übersetzung Sie eher aus dem Schlaf oder transportierte sie Sie eher aus der Realität? Oder anders: Wie viel Mühe kostete es Sie, die Fäden in der Hand zu halten?

Ein Schriftsteller und auch ein Übersetzer müssen nicht selbst in Trance geraten, um Trance literarisch darzustellen. Sie müssen jedoch die Kunstgriffe beherrschen, um den Leser in Trance versetzen zu können. Ich war also beim Arbeiten durchaus hellwach. Manchmal fast schon zu wach.

Die Diskussion um Übersetzungen ist eine unter Spezialisten – sehen Sie das auch so?

Die Leser sollten sich mehr zutrauen. Sie, nicht die Kritiker, sollten die Bücher beurteilen. Dazu müssen sie auch nicht unbedingt die Ausgangssprache kennen. Mit etwas Fingerspitzengefühl sind sie in der Lage, sehr viel mehr zu bemerken, als sie ahnen. Oscar Wilde sagte einmal: »Ich kann alles beweisen!« Auch ein Spezialist kann das. Für jede noch so abwegige übersetzerische Entscheidung lassen sich auf der Ebene der Theorie die passenden Argumente finden.

Wenn es den Konjunktiv nicht gibt im Russischen, kann er im Deutschen nicht eine Entsprechung eines Duktus‘ sein?

Natürlich verwende ich in meiner Übersetzung auch den Konjunktiv. Zum Beispiel, wenn Woland spricht, der sich ja meistens vornehm auszudrücken pflegt. Nur in der indirekten Rede wirkt er aus meiner Sicht problematisch. Weil die entsprechenden Sätze auf Russisch eben überhaupt nicht indirekt klingen. Der Konjunktiv würde dort eine wesentlich größere Distanz schaffen, als es vom Autor intendiert ist. Bei der Übersetzung eines Romans aus dem 19. Jahrhundert würde ich an solchen Stellen aus Gründen der Korrektheit vermutlich den Konjunktiv benutzen. Aber die Moderne arbeitet gern mit viel größerer Unmittelbarkeit und besitzt zahlreiche Techniken, um sie zu erzeugen, mithin zu erzwingen.

Wo haben Sie sich mehr poetische Freiheit herausgenommen, bei M&M, Daniil Charms, den Futuristen oder vielleicht bei, wie es in der neuen Übersetzung heißt, „Das hündische Herz“?

Ich glaube nicht an die poetische Freiheit in diesem Sinne. Poesie bedeutet auch immer Bindung. Was dem flüchtig Lesenden als Freiheit erscheint, ist oft das Resultat eines harten Kampfes. Eines Ringens um den treffenden Ausdruck. Nichts wäre einfacher, als den Text einfach Wort für Wort zu übersetzen. Doch genau das wäre vermutlich die größte Entstellung des Originals. Der Sinn fließt hinter und zwischen den Wörtern. Ihn herauszufinden und wiederzugeben, ist die Mühe des Übersetzers. Dieses Ringen verlief in meiner Arbeit oft auf ganz unterschiedliche Weise, unter jeweils neuen Prämissen. Manches wirkt freier, anderes strenger. Aber meistens trügt der Schein. Hinter jeder Lösung steckt ja doch ein Kalkül.

Die literaturhistorische Relevanz ist unbestritten. In welchen Punkten sehen Sie M&M heute als relevant?

Wir haben uns angewöhnt, alle Diktaturen und Ideologien stets wertend zu betrachten. Und merken oft nicht, daß diese Wertung selbst ideologisch-diktatorisch ist. Im Roman verhält es sich sehr viel komplexer. Die Kategorien von Gut und Böse laufen ineinander, wechseln die Seiten, sind auf seltsame Weise diffus. Das Buch wird zu voreilig als Satire bezeichnet, was uns die tröstende Möglichkeit gibt, uns selber als die Guten darin zu sehen, welche über die Bösen lachen. Doch vielleicht ist es ja genau umgekehrt? Vielleicht sind wir es, die verlacht werden?

 

 

 

Meister und Margarita

Michail Bulgakow

Galiani Verlag, Berlin 2012

ca. 600 Seiten

29,99 €

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Alexander Nitzberg, Jahrgang 1969, lebt in Wien, übersetzte zuletzt beim Galiani Verlag „Das hündische Herz“ von Bulgakow. Für die Übersetzung von „Meister und Margarita“ war er auf der Leipziger Buchmesse 2013 nominiert. Zahlreich ausgezeichnet, bringt er Werke der russischen Moderne ins Deutsche, u.a. Daniil Charms, trägt vor und verfasst Gedichte, so „Farbenklavier“, erschienen 2012 im Suhrkamp Verlag.

 

 

Farbenklavier

Alexander Nitzberg

Gedichte

Suhrkamp, 2012

76 Seiten

€ 17,95

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Noch bis 18. Dezember zeigt das Theater am Neumarkt in Zürich eine Bühnenfassung, betitelt „Hundeherz“, so wie es in der früheren Übersetzung hieß, doch geht das Stück von Nitzbergs Übersetzung aus.

 

Bulgakow_Hundeherz

 

 

Das hündische Herz

Michail Bulgakow

Verlag Galiani Berlin, 2013

ca. 160 Seiten

€ 16,99

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Extra erwähnt und wärmstens ans Herz gelegt sei die Werkausgabe des russischen Dichters Daniil Charms, von Nitzberg gemeinsam mit Vladimir Glozer herausgegeben. Nitzberg übersetzte die Gedichte und Theaterstücke (Band 2 und 3), Beate Rausch die Prosastücke und Autobiografisches (Band 1 und 4). Es gibt diverse Grafiken, die Ausgabe ist gebunden, kommt mit Lesebändchen und in Fadenheftung. Ergänzt wird sie durch einen Band mit Erinnerungen von Charms' zweiter Ehefrau, Marina Durnowo. Vladimir Glozer zeichnete Gespräche auf, die er 1996 mit ihr führte. Übersetzt von Andreas Tretner.

 

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Trinken Sie Essig, meine Herren

Daniil Charms

Werke, Band 1 - Prosa

Übersetzung von Beate Rausch

Verlag Galiani Berlin, 2011

272 Seiten

€ 24,95

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Charms_Werke_2

Sieben Zehntel eines Kopfes

Daniil Charms

Werke, Band 2 - Gedichte

Übersetzung von Alexander Nitzberg

Verlag Galiani Berlin, 2011

320 Seiten

€ 24,95

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Charms_Werke_3

Wir hauen die Natur entzwei

Daniil Charms

Werke, Band 3 - Theaterstücke

Übersetzung von Alexander Nitzberg

Verlag Galiani Berlin, 2011

352 Seiten

€ 24,95

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Charms_Werke_4

Du siehst mich im Fenster

Daniil Charms

Werke, Band 4 - Autobiographisches

Übersetzung von Beate Rausch

Verlag Galiani Berlin, 2011

256 Seiten

€ 24,95

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Mein Leben mit Daniil Charms

Marina Durnowo

Verlag Galiani Berlin, 2010

176 Seiten

€ 16,95

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(Dieser wunderschöne Bildband ist uns seit seinem Erscheinen eine echte Herzensangelegenheit. Wir freuen uns also selbst unbändig, dass wir jetzt, von langer Hand vorbereitet, ein Exemplar verschenken können!)

"Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich doch heute ein Apfelbäumchen pflanzen." Luther

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Dieses Lutherwort hat der Pomologe Korbinian Aigner nicht nur zitiert, sondern vor allem gelebt, als er im KZ Dachau zwischen zwei Baracken Apfelbäume pflanzte und ihm dort sogar die Zucht völlig neuer Sorten gelang. Doch der Reihe nach:

 

Korbinian Aigner (1885 - 1966), genannt der Apfelpfarrer, beschäftigte sich sein ganzes Leben lang leidenschaftlich mit dem Anbau von Obst. Schon während seines Priesterseminars gründete er einen Obstbauverein und war auch später im Kirchendienst während jeder freien Minute unterwegs, um Vorträge über den Obstbau zu halten.

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Nachdem er sich in seinen Predigten eindeutig von der erstarkenden Nazi-Politik distanzierte, wurde Aigner 1937 nach Hohenbercha strafversetzt. Einen Tag nach dem missglückten Attentat auf Hitler 1939 sprach er im Religionsunterricht über das fünfte Gebot, wobei der Satz fiel: „Ich weiß nicht, ob das Sünde ist, was der Attentäter im Sinn hatte. Dann wäre halt vielleicht eine Million Menschen gerettet worden.“

Von einer linientreuen Aushilfslehrerin denunziert, wurde Aigner am 22. November 1939 verhaftet. Im Priesterblock Dachau interniert, verrichtete er seine Zwangsarbeit hauptsächlich in der Landwirtschaft. Zwischen zwei Baracken gelang ihm mit eingeschmuggelten Samen die Zucht der neuen Apfelsorten KZ-1, KZ-2, KZ-3 und KZ-4. Die Schößlinge konnten wieder erfolgreich aus dem Lager hinausgeschmuggelt werden und es ist sehr wahrscheinlich, dass allein die Aussicht darauf, seine Apfelbäume einmal in Freiheit zu sehen, Aigner die Kraft für die schrecklichen Jahre der Internierung gegeben hat.

In der Nacht vom 26. auf den 27. April 1945 musste Aigner zusammen mit ungefähr 10.000 Häftlingen einen Marsch nach Südtirol antreten. Dabei konnte er am 28. April in Aufkirchen am Starnberger See fliehen und sich im dortigen Kloster verstecken.

Nach dem Ende des Krieges kehrte Aigner als Pfarrer nach Hohenbercha zurück. Dort widmete er sich auch wieder seiner großen Leidenschaft, den Äpfeln. Er beschaffte sich Äpfel von allen ihm zugänglichen Sorten und malte meist jeweils zwei Äpfel in Postkartengröße nebeneinander.

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In knapp achthundert Aquarellen zeichnete Korbinian Aigner Apfelsorten aus aller Welt. Seine Bildtafeln zeigen in Originalgröße kleine, große, gestreifte, gefleckte, gepunktete, runde, spitze, plattgedrückte, grüne, gelbe, rote, glänzende, blasse, schiefe, glatte oder schrumpelige Äpfel. Wegen ihrer Exaktheit und Systematik dienen Aigners Abbildungen noch heute als Grundlage für pomologische Lexika.

Aigner starb 1966 in Hohenbercha.

Die von ihm gezüchtete Apfelsorte KZ-3 wurde 1985, anlässlich Aigners 100. Geburtstag in Korbiniansapfel umbenannt.

Der künstlerische Wert Aigners Zeichnungen wurde durch ihre Ausstellung auf der Documenta 2012 erstmals einem breiten Publikum bekannt. Die systematische Erfassung eines Einzelbereichs der Welt, der Natur, ist immer auch der Versuch, Ordnung und Struktur zu schaffen. In ihrer fast unüberschaubaren Fülle bieten die Äpfel- und Birnenbilder eine prächtige Einladung zum Schauen, zur Beschäftigung mit der uns umgebenden alltäglichen Natur. Kein Apfel gleicht dem anderen, jeder besitzt einen eigenen Charakter, eine eigene Schönheit.

 

Bei dem wunderbaren Berliner Verlag Matthes & Seitz liegen Aigners Bilder nun innerhalb der von Judith Schalansky (u.a. "Der Hals der Giraffe" und "Atlas der abgelegenen Inseln") herausgegebenen Naturkunden vor:

 

Äpfel und Birnen

Das Gesamtwerk

apfelcover.big Folioformat, durchgängig vierfarbig
512 Seiten, fadengehefteter Halbleineneinband mit farbigem Kopfschnitt

910 Abbildungen
Mit einem Vorwort von Julia Voss

ISBN: 978-3-88221-051-4
Preis: 98,00 €

von Korbinian Aigner

herausgegeben von Judith Schalansky

 

 

Diesen pomologischen Prachtband gibt es ab Samstag, den 30.11. auf unserer ocelot,-Facebookseite zu gewinnen, jeweils zur Hälfte gesponsert von ocelot, und Matthes & Seitz.

 

Dazu können Sie bis zum Freitag, den 6.12.2013, 22.00 Uhr den entsprechenden Post auf unserer Wall kommentieren. (Ein Foto vom Buch, das Samstagvormittag von uns gepostet wird.) Schreiben Sie uns dort Ihr leckerstes Apfelrezept, einen Hinweis auf ein weiteres, schönes Apfelbuch, die sauerste Apfelsorte, den besten Aufzuchtstipp, das ultimative Bratapfelgeheimnis, ein Gedicht oder was auch immer Ihnen einfällt, egal - Hauptsache es geht um den Apfel.

Der Kommentar mit den meisten Likes gewinnt das Buch. Bei gleichen Like-Zahlen losen wir aus.

(Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.)

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Hier gibt es übrigens ein leidenschaftlich pomologisches Gespräch zwischen Denis Scheck und Judith Schalansky, das empfehlen wir wärmstens.

Und das Buch gibt es natürlich generell und überhaupt hier!

Von Herzen viel Glück beim Gewinnen!

(Es wird auf jeden Fall zwei Trostpreise für Platz 2 und 3 geben!)

 

 

Mareike vom Bücherwurmloch stellt sich vor

Posted on: November 26th, 2013 by Sophie Schmidt No Comments

 

Mariki buecherwurmlochHallo, wer bist Du und wie heißt Dein Blog?

Ich heiße Mareike und sorge für internationales Flair bei We read Indie, denn ich bin aus Österreich. Mein Blog ist das Bücherwurmloch, und ich arbeite als freie Lektorin und Werbetexterin. Ich bin also praktisch ununterbrochen von Buchstaben, Worten und Sätzen umgeben.

 

Warum machst Du bei We read Indie mit?

Weil ich mich geehrt fühle, dass die Klappentexterin mich gefragt hat – und weil die Idee großartig ist. Als Bloggerinnen sind wir stets auf der Suche nach dem Besonderen, nach einzigartigen Büchern, die uns begeistern, überwältigen und fordern. Natürlich sind solche literarischen Perlen auch in den großen Verlagen zu finden, es macht aber fast noch mehr Spaß, sie in Indie-Verlagen zu entdecken: Das ist so ein „David gegen Goliath“-Gefühl. Als kleine Revoluzzer versuchen wir, abseits von Mainstream und Profirezensenten ein eigenes, intelligentes, vielseitiges Netzwerk aufzubauen, das möglichst vielen Menschen unbekannte, beeindruckende Romane näherbringt.

 

Was machst Du, wenn Du nicht gerade für We read Indie oder Deinen Blog schreibst?

Für gewöhnlich auch lesen und schreiben, denn ich habe meine Leidenschaft für das geschriebene Wort zum Beruf gemacht. Im Moment hindern mich daran allerdings meine zwei Minirabauken im Alter von drei Jahren bzw. vier Monaten, mit denen ich mich rund um die Uhr beschäftige – weshalb meine We-read-Indie-Mitstreiterinnen derzeit leider ohne mich auskommen und die ganze Arbeit allein erledigen müssen. Aber nach der Babypause bin ich wieder mit Herzblut und brennenden Fingerkuppen dabei.

 

Was macht Deinen Blog besonders?

Nun ja – es ist ein Blog über Bücher, wie es viele gibt. Besonders daran ist das schöne virtuelle Netzwerk, zu dem mein Blog gehört und in dem ich mich sehr aufgehoben fühle. Ich habe mich ausschließlich auf Rezensionen festgelegt und lese das, was man „gehobene Belletristik“ nennt, auch auf Englisch und (inzwischen aber seltener) auf Italienisch. Die Buchauswahl erfolgt sehr willkürlich nach rein subjektivem Interesse, wobei ich mir freilich stets einen Roman wünsche, der mich richtig umhaut, mich schmerzt und aufwühlt, nicht mehr schlafen lässt – was allerdings mit zwei kleinen Kindern derzeit ohnehin nicht schwierig ist.

 

Was ist Dein Lieblingsleseort?

Ich habe keinen. Ich lese immer und überall – im Stehen, auf der Couch, im Bett, auf dem Boden, im Auto bei Stau (dafür hab ich ein Notfallbuch im Handschuhfach), früher auch im Gehen (jetzt habe ich wegen des Kinderwagens keine Hand mehr frei), beim Kochen, beim Zähneputzen. Ich muss jede wertvolle gestohlene Minute sofort zum Lesen nutzen, egal, wo ich gerade bin.

 

Was ist Deine Empfehlung für den Literaturherbst 2013?

Entgegen meiner vorigen Beschreibung ist meine Empfehlung ein ganz schmerzfreier, nicht sehr aufwühlender, dafür unglaublich fieser, sarkastischer und lustiger Roman: Where’d you go, Bernadette? von Maria Semple. Die New York Times hat ihn angepriesen, und ich habe 2013 bei keinem anderen Buch so gelacht, es ist auf eine böse Art witzig, und das liebe ich. Bester Satz, der auch als Lebensmotto dienen könnte: Step aside, because I’m about to kick the shit out of life!

John Kennedy Toole: Die Verschwörung der Idioten

Posted on: November 22nd, 2013 by Fabian Thomas No Comments

 

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Der Romantitel, den Toole einer Schrift von Jonathan Swift entnahm (Quelle: Google Books)

Mit John Kennedy Toole ist es noch ein wenig ärger als mit Malcolm Lowry (siehe dazu die letzte Ausgabe von ocelot Classics): War Lowry zu Lebzeiten zumindest leidlich bekannt, hat Toole die Veröffentlichung seines Romans A Confederacy of Dunces, deutsch als Die Verschwörung der Idioten erschienen, selbst gar nicht erst erlebt.

Dieser Roman macht uns mit Ignatius C. Reilly bekannt, einer unvergesslichen Figur: Ganz Muttersöhnchen, stets mit Sherlock-Holmes-Ohrenklappenmütze und bequemen Tweedhosen angetan, widmet er sich voll und ganz der Erforschung der mittelalterlichen Philosophie und den Folgen der Aufklärung; die Abende verbringt entweder mit dem Spiel der Laute oder im Kino, wo er riesige Portionen Popcorn verschlingt. Entsprechend eigen und alltagsuntauglich ist seine Weltsicht, die er gerne zu allen (un-)möglichen Gelegenheiten verkündet: „Optimism nauseates me. It is perverse. Since man's fall, his proper position in the universe has been one of misery.“

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Unterschiedliche Ausgaben des Romans aus den vergangenen Jahren (Quelle: Tumblr)

Die Versuche der Mutter, Ignatius in ein geregeltes Arbeitsleben einzugliedern, scheitern kläglich, bis er in der heruntergekommenen Hosenfabrik Levy's Pants eine Stelle findet, die ihm angemessen erscheint: Der Chef lässt sich nur selten blicken, und seine beiden Kollegen sind schon nahe der Vergreisung oder ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Außerdem betätigt sich Ignatius zeitweise als Hot-Dog-Verkäufer und pflegt eine gelegentliche Brieffreundschaft mit der Künstlerin Myrna Minkoff, die ein Beatnik-Leben in New York führt. Als seine Mutter eine Beziehung mit einem neuen Mann beginnt, der Ignatius auf den Tod nicht ausstehen kann, gerät sein gemütliches Leben ins Wanken: Denn auch sie ist bald davon überzeugt, dass ihr Sohn doch besser in einer Irrenanstalt aufgehoben wäre...

Zwischen Auszügen aus Ignatius C. Reillys großer philosophischer Abhandlung, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen präsentiert John Kennedy Toole in Die Verschwörung der Idioten ein farbenprächtiges Bild des New Orleans der sechziger Jahre und eine herrlich verschrobene Hauptfigur, die einem vor Lachen die Tränen in die Augen treibt.

Die Veröffentlichungsgeschichte des Romans ist dagegen weniger lustig: John Kennedy Toole hatte sein Manuskript 1964 fertiggestellt, konnte aber keinen Verlag finden, der es verlegen wollte. Das machte ihm so zu schaffen, dass er 1969, alkoholkrank und depressiv, Selbstmord beging. Erst 1980 konnte auf Vermittlung seiner Mutter und des Südstaaten-Autors Walker Percy das Buch erscheinen, das heute zum Kanon der amerikanischen Gegenwartsliteratur zählt.

Die Verschwörung der Idioten

John Kennedy Toole

Deutscher Taschenbuch Verlag, 2013

9,95 €

kaufen

Fabian Thomas ist Herausgeber von The Daily Frown, dem Magazin für Musik, Literatur, Alltag. Er liebt alte Schallplatten, schöne Bücher und geht gerne zu Fuß, weil man so mehr mitkriegt. In der Reihe ocelot Classics stellt er einmal im Monat Lieblingsbücher und Wiederentdeckungen vor.

Kryptomanie. Raymond Roussels Locus Solus

Posted on: November 18th, 2013 by Ralf Diesel No Comments

 

Roussel, Locus Solus_Anne de Brunhoff

© Anne de Brunhoff

Im letzen Jahr kam in der Anderen Bibliothek eine Neuübersetzung des erstmals 1914 erschienenen Werkes Locus Solus von Raymond Roussel (1877-1933) heraus. Ergänzt ist der Band mit Auszügen aus seinem für eine posthume Veröffentlichung geschriebenen Text „Wie ich einige meiner Bücher schrieb“, mit Fotografien, biografischen Angaben und einer Erklärung zur Übersetzung. Als Besonderheit sind bisher unveröffentlichte Passagen der Urfassung angehängt, die hier zum ersten Mal publiziert werden. Erstmalig nicht nur als Übersetzung – es gibt auch im französischen Original keine Veröffentlichung dieser Teile.

Was Roussel fürs Theater schrieb, führte zu ebenso großen Skandalen wie Alfred Jarrys Stücke. Wie dieser wurde er von den Surrealisten, die er von sich wies, vereinnahmt. Sein Einfluss auf Kunst und Literatur reicht jedoch weitaus weiter. Die wohl berühmteste Abhandlung über den nur kleinen Kreisen bekannten Autor schrieb Michel Foucault („Raymond Roussel“, 1963).

Eine kleine Gruppe Interessierter wird von Martial Canterel, dem Besitzer eines riesigen Anwesens, durch dessen Garten geleitet und bestaunt die verschiedensten ausgestellten Objekte, ein jedes mit merkwürdigem, unglaublichen Hintergrund. Hinter der Tonstatue eines kleinen Kindes verbirgt sich eine Legende des afrikanischen Staates Timbuktu, in dem sie die zentrale Rolle spielte. Umgeben ist sie von einem Relief, das auf eine verschüttete bretonische Stadt verweist, in der einst die Thronfolge auf eine denkbar raffinierte Weise gesichert wurde. Im weiteren Verlauf trifft die Gruppe auf einen riesigen Apparat, Demoiselles genannt. Der erstellt nach einem exakt ausgeklügelten Mechanismus ein Mosaik aus menschlichen Zähnen, die wiederum mit einem speziellen Verfahren schmerzfrei gezogen wurden. Die Darstellung auf dem Mosaik geht aus der Geschichte einer Entführung hervor, welche sich im 17. Jahrhundert abspielte. Später gibt es ein Figurenkabinett, in 8 Glashäusern gibt es Leichname, die durch eine Art Elektrolyse-Verfahren zu künstlichem Leben angeregt werden, wobei das Gehirn die Erinnerung an das für sie jeweils wichtigste Ereignis in ihrem Leben wachruft – das sie nun nachspielen. Damit sind längst nicht alle Exponate dargestellt.

So wie die letztgenannten Figuren Leben aus der Mechanik gewinnen, so gewinnen die einzelnen Episoden ihr Leben ebenso aus einer Mechanik. Roussels Handlungsgewebe beruhen auf Kausalität. Die Gewebe sind derart dicht, dass man weniger von Kausalketten als vielmehr von Verkettungen sprechen muss: an jedem Kettenglied hängt eine weitere Kette. An deren Glieder hängen wieder Ketten. Aber alle Ketten sind notwendig, um von einem Ereignis, das die Initiation bildet, zu einem Ergebnis zu kommen – sprich: von Anfang zu Ende. Nichts ist unnötig, alles bedingt sich. Alles gewinnt aus der vollendeten Verkettung erst Leben. Dies führt zu geschichteten Erzählungen. Es gibt eine Muttergeschichte, an ihr hängen, einem Rhizom ähnlich, verzweigt die Tochter-, Sohn- und Enkelgeschichten. Eine verwandte Erzählstruktur erreichte Jan Graf Potocki (1761-1815) in „Das Manuskript von Saragossa“ (1797-1815), allerdings mehr auf der Handlungs-, wenn nicht Abenteuerebene. In der Fernsehserie Lost (2004 – 2010) findet sich wieder eine andere Schichtung von Verstecken und Offenbarung, wobei von jeder Aufklärung neue Geheimnisse abzweigen – zirkulär angeordnet wie dort auch die Zeit. Roussels Ineinanderweben von Kausalketten zielt auf ein Verfahren, das er nicht nur in seinem Schreiben, sondern auch auf sein Leben und seine Person anwandte: Gleichzeitiges Ver- und Entschlüsseln, Ab- und Aufdecken von Geheimnissen.

Jens Malte Fischer nennt es „Verrätselungsstrategie“ (Merkur, Heft Nr. 640, 2002). Roussels spezielle Einstellung zum Geheimnis arbeitet dagegen Foucault in seiner Studie heraus. Im Prinzip untersucht Foucault das System Roussel, nicht allein seine Art zu schreiben. Das in dieser Form zu untersuchen ist allerdings nicht zwangsläufig, bedingt sich, ergibt sich oder ist unumgänglich: es ist von Roussel selber so angelegt. Selbst der Tod ist Teil eines fortwährenden Geheimnisses, ist nicht das Ende Allens. In Roussels Fall auch Teil einer Inszenierung. Die Haltung, die er einnahm als er Selbstmord beging, gab Anlass zu diversen Fragen, z. Bsp. ob er Zeichen geben wollte, und wenn, in welcher Richtung sie zu interpretieren wären. Ein Zeichen kann schon sein, dass er einen Schlüssel in der Hand hielt. Dann folgt die Frage, ob er damit die Verbindungstür seines eigenen Hotelzimmers zum benachbarten, die stets offen stand und nun zugeschlossen war, verschlossen hatte oder (wieder?) aufschließen wollte. Oder war seine Haltung nur Zeichen dafür, dass es ein Geheimnis gibt, an und für sich oder im Speziellen? Zuguterletzt sei den Fragen nicht ausgewichen, weshalb er solch einen Aufwand betrieb und ob es überhaupt eine Inszenierung war.

Solcherlei Fragen lassen sich auch an seinen Text „Wie ich einige meiner Bücher schrieb“ stellen. Sein Tod spielt von daher eine maßgebliche Rolle für den Text, als dieser nur posthum freigegeben werden durfte. Roussel stellte also einen Schlüssel zu seinen Texten parat, einen, der gezielt seinen Gebrauch von Sprache in ihrer Vieldeutigkeit darstellt. Der Text soll nun statt seiner sprechen, indem Roussel vorgibt, der Text zu sein, indem der Text vorgibt, Roussel zu sein. In ihm, dem Text, der zu entschlüsseln vorgibt, wendet er jedoch dasselbe Verfahren der Verschlüsselung an, das er in seinen Büchern anwandte. Am Ende steht nicht Roussel, der gelebt hatte und nun tot ist, dessen Werke nun erklärt wären. Am Ende ersteht das Gesamtkunstwerk Roussel. Oder auch das System Roussel.

Mit seiner in sich kreisenden Abgeschlossenheit, die gerade durch das Kreisen niemals abgeschlossen sein kann, vollzieht sich eines quasi mechanisch immer weiter: Raymond Roussel schreibt – wie einer der Wiederbelebten seiner Geschichte. Die Doppelung von Ver- und Entschlüsselung hebt sich nie auf, beide co-laborieren.

Es ist nicht eine erklärende Funktion, die der Text „Wie ich…“  in Beziehung zu seinen anderen Texten hätte, sondern es ist die Bedeutung, die dieser Text hat, nämlich dass es ein Geheimnis gibt. In einem solchen liegt Roussel, schließlich und endlich, begraben – Julio Cortázar, einer seiner Bewunderer, ist genauso unfähig, sein Grab auf dem Père Lachaise zu öffnen, wie jeder Andere.

Ein Geheimnis ist ja nur dann, bzw. nur solange scharf konturiert, solange es ein solches bleibt. Roussel bleibt nur solange Roussel, wie er nicht entschlüsselt wird. Anders als bei Magiern, wenn sie ihre Verfahren publik machen, abschließen und entzaubern, ist Roussels finaler Text gleichzeitig sein Eröffnungstext: eine Beschwörungsformel. Diese beinhaltet die Magie von Sprache wie auch die Magie von Geheimnis.

In seinen Geschichten in Locus Solus zelebriert Roussel das Geheimnis. Allerdings widersprüchlich, erklärt er doch fast jeden Schritt minutiös und enträtselt es. Innerhalb dieser Detailwucherung gibt es einen Spannungsbogen, nämlich vom Aufschließen zum Abschließen eines Erklärungsverfahrens. Die wenigen unerklärten Momente werde lapidar als unerheblich dargestellt, in ihnen allerdings offeriert sich das Wesen von Geheimnis: die Unmöglichkeit, zu erklären, das Scheitern an den Grenzen der Möglichkeiten dessen, jeglichen Hintergrund und Zusammenhang zu ermitteln. Roussel huldigt dem Geheimnis, indem er es offenlegt. Damit zollt er der Magie in den Dingen, in den Vorgängen und Erscheinungen Tribut. Er setzt ihnen ein Denkmal. Eines, das genauso positivistisch wie phänomenologisch ist, in dem beides nicht getrennt, sondern vereint ist. Das hat eine ganz eigene, eine solitäre Magie.

Die Erfindungen, die in Locus Solus beschrieben werden, sind durchweg phantastischer Art. Hier ein Klebstoff besonderer Natur, extra für einen einzigen Zweck entworfen, dort Wasser, das derart präpariert ist, dass man in ihm atmen kann – jedes Detail ausgeklügelt in seiner Funktion und Bauart. Die Anordnung der Vorgänge ist präzise und strikt, die Demoiselle arbeitet so exakt wie die wiedererweckten Toten. Die Fantasie dagegen ist frei. Beide treffen sich in ihrer Vollkommenheit.

Losgelöst von der Realität webt Roussel eine Welt in der Art der Realität. Die Beschwörung der Magie weist dabei nicht in die Region der Alchemie. Roussel verhandelt auch nicht physikalische Erfindungen. Er verhandelt das Entdecken, er verhandelt das Erfinden. An sich. Er erfindet Erfindungen.

Solche Freiheit der Fantasie findet man noch bei Paul Scheerbart (1863-1915), der z. Bsp. Planeten als Organismen beschreibt, die in ihrem Sterben eine Neuform des Planeten gebären. Bei Jeunet et Caro findet man, etwas profaner, freie Erfindungen einhergehend mit strikten mechanischen Abläufen im Film „La cité des enfants perdus“ von 1995.

In der Geschichte um die Herrschaftsfolge in der bretonischen Stadt ist das Initiationsmoment Sorge: Sorge um die richtige Nachfolge der mächtigsten Person im Lande, Sorge um das Gute. Die Frage, die sich stellt, ist die, wie das Gute gesichert werden kann. Zentrale Rolle spielt eine Goldkrone, die nach dem Volksglauben einzig die Macht dem verleiht, der sie trägt. Also muss diese Krone zuallererst gesichert werden, geschützt vor dem Zugriff derer, die die Macht missbrauchen. An dieser Stelle tun sich zwei widerstrebende Notwendigkeiten auf: sie darf nicht gefunden werden – vom Falschen, und sie muss gefunden werden – vom Richtigen. Für Ersteren bedarf es eines sicheren Verschlüsselungsverfahrens, für Letzteren eines Entschlüsselungsverfahrens. Dieses Verfahren wiederum muss hinterlegt werden – und darf natürlich wieder nur vom Richtigen übergeben werden, welcher wiederum einen Schlüssel haben muss, ein Zeichensystem, um die richtige Person zu erkennen. Im Ergebnis steht ein Verschlüsselungsverfahren einem Entschlüsselungsverfahren gegenüber, umgeben von einem weiteren Ver- und Entschlüsselungsverfahren. Mit der Frage, wo nun die Krone versteckt werden solle, beginnt die Kausalitätsverkettung: Es gibt einen Berg, in dessen Inneren gibt es Goldeinschlüsse. Die Krone wird nun geschmolzen und in eine der Höhlen in das Gestein eingelassen, da so ihr Glänzen nicht unterscheidbar und sie somit nicht identifizierbar ist. Schon hier gibt es Anlass genug, Ketten aufzuhängen: Wer soll die Krone einschmelzen, welches Verfahren wird dazu angewandt, wer hat dieses Verfahren erfunden, unter welchen Umständen, wer transportiert das Gold in den Berg, welche Hintergründe haben diese Menschen, welche ist die beste Stelle im Berg, welche die beste Zeit, wer weiß davon, wie ist die Persönlichkeitsbeschaffung dieser Menschen, d. h. wie sicher sind sie? – um nur einige wenige Ansatzmöglichkeiten zur Kettenbildung zu nennen. An jeder Antwort hängen weitere Ketten, bzw. Geschichten und Geheimnisse.

Bis hierhin ist es ein Vorausplanen zur Verbringung der Krone, der Leser ist dann der Krone am nächsten. Nun setzt ein entgegengesetzter Prozess ein: Der Weg zur Krone muss von ihrer Unterbringung ausgehend verschlüsselt werden, d. h. man bewegt sich weg von ihr. Und wieder hin zum Entschlüsselungsverfahren: Zuguterletzt wird der auserwählten Person über einen Toten, der sich als Stern am Firmament zeigt, die Information gegeben, wie sie sich zu verhalten hat und wen sie kontaktieren muss, um zur Krone zu gelangen.

(Um das festzuhalten für später: Hin zum Verschlüsselten – weg vom Verschlüsselten! Auf der sprachlichen Ebene heißt das: Das Wort/Zeichen hin zum Bezeichneten, das gleichzeitig weg davon führt. Das Bezeichnende entschlüsselt und verschlüsselt zugleich das Bezeichnete.)

Natürlich gelingt es. Alles gelingt in den Geschichten, seien sie auch noch so tragisch. Das ist mehr als logisch, werden doch nur Objekte im Garten Canterels ausgestellt, die schon funktionieren. All die gescheiterten Versuche sind hier unerheblich. Ein Geheimnis kann nur ein solches sein, insofern sein inneres Gefüge funktioniert und es somit in sich geschlossen ist. Man darf nicht vergessen, dass die Exponate ausgereifte Kunstobjekte, also fertig sind. Sie sind schlussendlich Selbstzweck.

Raymond Roussel kam, so scheint es, nie über diesen Selbstzweck hinaus. Das macht das Tragische, aber eben genau das Große an ihm aus. Der letzte Ausweg des Dandys ohne Erfolg war, als er sich vom Schreiben lossagte, Schach. Sein Selbstmord griff (oder greift) wieder in sein Werk zurück und verzweigt sich darin.

Locus Solus

Raymond Roussel

Die Andere Bibliothek, 2012, Band 329

487 Seiten, limitierte Ausgabe

36,00 €

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Ralf Diesel studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften. Er übersetzt aus dem Spanischen und Englischen und recherchiert zum Thema Phantastik in den Künsten, vorrangig in Literatur und Musik, darüber hinaus auch in bildenden Künsten und Film. Die Ergebnisse dieser Arbeit präsentiert er in Form von Rezensionen, Vorträgen und Interviews. Er lebt und arbeitet in Berlin.