Kryptomanie. Raymond Roussels Locus Solus

Posted on: November 18th, 2013 by Ralf Diesel No Comments

Roussel, Locus Solus_Anne de Brunhoff

© Anne de Brunhoff

Im letzen Jahr kam in der Anderen Bibliothek eine Neuübersetzung des erstmals 1914 erschienenen Werkes Locus Solus von Raymond Roussel (1877-1933) heraus. Ergänzt ist der Band mit Auszügen aus seinem für eine posthume Veröffentlichung geschriebenen Text „Wie ich einige meiner Bücher schrieb“, mit Fotografien, biografischen Angaben und einer Erklärung zur Übersetzung. Als Besonderheit sind bisher unveröffentlichte Passagen der Urfassung angehängt, die hier zum ersten Mal publiziert werden. Erstmalig nicht nur als Übersetzung – es gibt auch im französischen Original keine Veröffentlichung dieser Teile.

Was Roussel fürs Theater schrieb, führte zu ebenso großen Skandalen wie Alfred Jarrys Stücke. Wie dieser wurde er von den Surrealisten, die er von sich wies, vereinnahmt. Sein Einfluss auf Kunst und Literatur reicht jedoch weitaus weiter. Die wohl berühmteste Abhandlung über den nur kleinen Kreisen bekannten Autor schrieb Michel Foucault („Raymond Roussel“, 1963).

Eine kleine Gruppe Interessierter wird von Martial Canterel, dem Besitzer eines riesigen Anwesens, durch dessen Garten geleitet und bestaunt die verschiedensten ausgestellten Objekte, ein jedes mit merkwürdigem, unglaublichen Hintergrund. Hinter der Tonstatue eines kleinen Kindes verbirgt sich eine Legende des afrikanischen Staates Timbuktu, in dem sie die zentrale Rolle spielte. Umgeben ist sie von einem Relief, das auf eine verschüttete bretonische Stadt verweist, in der einst die Thronfolge auf eine denkbar raffinierte Weise gesichert wurde. Im weiteren Verlauf trifft die Gruppe auf einen riesigen Apparat, Demoiselles genannt. Der erstellt nach einem exakt ausgeklügelten Mechanismus ein Mosaik aus menschlichen Zähnen, die wiederum mit einem speziellen Verfahren schmerzfrei gezogen wurden. Die Darstellung auf dem Mosaik geht aus der Geschichte einer Entführung hervor, welche sich im 17. Jahrhundert abspielte. Später gibt es ein Figurenkabinett, in 8 Glashäusern gibt es Leichname, die durch eine Art Elektrolyse-Verfahren zu künstlichem Leben angeregt werden, wobei das Gehirn die Erinnerung an das für sie jeweils wichtigste Ereignis in ihrem Leben wachruft – das sie nun nachspielen. Damit sind längst nicht alle Exponate dargestellt.

So wie die letztgenannten Figuren Leben aus der Mechanik gewinnen, so gewinnen die einzelnen Episoden ihr Leben ebenso aus einer Mechanik. Roussels Handlungsgewebe beruhen auf Kausalität. Die Gewebe sind derart dicht, dass man weniger von Kausalketten als vielmehr von Verkettungen sprechen muss: an jedem Kettenglied hängt eine weitere Kette. An deren Glieder hängen wieder Ketten. Aber alle Ketten sind notwendig, um von einem Ereignis, das die Initiation bildet, zu einem Ergebnis zu kommen – sprich: von Anfang zu Ende. Nichts ist unnötig, alles bedingt sich. Alles gewinnt aus der vollendeten Verkettung erst Leben. Dies führt zu geschichteten Erzählungen. Es gibt eine Muttergeschichte, an ihr hängen, einem Rhizom ähnlich, verzweigt die Tochter-, Sohn- und Enkelgeschichten. Eine verwandte Erzählstruktur erreichte Jan Graf Potocki (1761-1815) in „Das Manuskript von Saragossa“ (1797-1815), allerdings mehr auf der Handlungs-, wenn nicht Abenteuerebene. In der Fernsehserie Lost (2004 – 2010) findet sich wieder eine andere Schichtung von Verstecken und Offenbarung, wobei von jeder Aufklärung neue Geheimnisse abzweigen – zirkulär angeordnet wie dort auch die Zeit. Roussels Ineinanderweben von Kausalketten zielt auf ein Verfahren, das er nicht nur in seinem Schreiben, sondern auch auf sein Leben und seine Person anwandte: Gleichzeitiges Ver- und Entschlüsseln, Ab- und Aufdecken von Geheimnissen.

Jens Malte Fischer nennt es „Verrätselungsstrategie“ (Merkur, Heft Nr. 640, 2002). Roussels spezielle Einstellung zum Geheimnis arbeitet dagegen Foucault in seiner Studie heraus. Im Prinzip untersucht Foucault das System Roussel, nicht allein seine Art zu schreiben. Das in dieser Form zu untersuchen ist allerdings nicht zwangsläufig, bedingt sich, ergibt sich oder ist unumgänglich: es ist von Roussel selber so angelegt. Selbst der Tod ist Teil eines fortwährenden Geheimnisses, ist nicht das Ende Allens. In Roussels Fall auch Teil einer Inszenierung. Die Haltung, die er einnahm als er Selbstmord beging, gab Anlass zu diversen Fragen, z. Bsp. ob er Zeichen geben wollte, und wenn, in welcher Richtung sie zu interpretieren wären. Ein Zeichen kann schon sein, dass er einen Schlüssel in der Hand hielt. Dann folgt die Frage, ob er damit die Verbindungstür seines eigenen Hotelzimmers zum benachbarten, die stets offen stand und nun zugeschlossen war, verschlossen hatte oder (wieder?) aufschließen wollte. Oder war seine Haltung nur Zeichen dafür, dass es ein Geheimnis gibt, an und für sich oder im Speziellen? Zuguterletzt sei den Fragen nicht ausgewichen, weshalb er solch einen Aufwand betrieb und ob es überhaupt eine Inszenierung war.

Solcherlei Fragen lassen sich auch an seinen Text „Wie ich einige meiner Bücher schrieb“ stellen. Sein Tod spielt von daher eine maßgebliche Rolle für den Text, als dieser nur posthum freigegeben werden durfte. Roussel stellte also einen Schlüssel zu seinen Texten parat, einen, der gezielt seinen Gebrauch von Sprache in ihrer Vieldeutigkeit darstellt. Der Text soll nun statt seiner sprechen, indem Roussel vorgibt, der Text zu sein, indem der Text vorgibt, Roussel zu sein. In ihm, dem Text, der zu entschlüsseln vorgibt, wendet er jedoch dasselbe Verfahren der Verschlüsselung an, das er in seinen Büchern anwandte. Am Ende steht nicht Roussel, der gelebt hatte und nun tot ist, dessen Werke nun erklärt wären. Am Ende ersteht das Gesamtkunstwerk Roussel. Oder auch das System Roussel.

Mit seiner in sich kreisenden Abgeschlossenheit, die gerade durch das Kreisen niemals abgeschlossen sein kann, vollzieht sich eines quasi mechanisch immer weiter: Raymond Roussel schreibt – wie einer der Wiederbelebten seiner Geschichte. Die Doppelung von Ver- und Entschlüsselung hebt sich nie auf, beide co-laborieren.

Es ist nicht eine erklärende Funktion, die der Text „Wie ich…“  in Beziehung zu seinen anderen Texten hätte, sondern es ist die Bedeutung, die dieser Text hat, nämlich dass es ein Geheimnis gibt. In einem solchen liegt Roussel, schließlich und endlich, begraben – Julio Cortázar, einer seiner Bewunderer, ist genauso unfähig, sein Grab auf dem Père Lachaise zu öffnen, wie jeder Andere.

Ein Geheimnis ist ja nur dann, bzw. nur solange scharf konturiert, solange es ein solches bleibt. Roussel bleibt nur solange Roussel, wie er nicht entschlüsselt wird. Anders als bei Magiern, wenn sie ihre Verfahren publik machen, abschließen und entzaubern, ist Roussels finaler Text gleichzeitig sein Eröffnungstext: eine Beschwörungsformel. Diese beinhaltet die Magie von Sprache wie auch die Magie von Geheimnis.

In seinen Geschichten in Locus Solus zelebriert Roussel das Geheimnis. Allerdings widersprüchlich, erklärt er doch fast jeden Schritt minutiös und enträtselt es. Innerhalb dieser Detailwucherung gibt es einen Spannungsbogen, nämlich vom Aufschließen zum Abschließen eines Erklärungsverfahrens. Die wenigen unerklärten Momente werde lapidar als unerheblich dargestellt, in ihnen allerdings offeriert sich das Wesen von Geheimnis: die Unmöglichkeit, zu erklären, das Scheitern an den Grenzen der Möglichkeiten dessen, jeglichen Hintergrund und Zusammenhang zu ermitteln. Roussel huldigt dem Geheimnis, indem er es offenlegt. Damit zollt er der Magie in den Dingen, in den Vorgängen und Erscheinungen Tribut. Er setzt ihnen ein Denkmal. Eines, das genauso positivistisch wie phänomenologisch ist, in dem beides nicht getrennt, sondern vereint ist. Das hat eine ganz eigene, eine solitäre Magie.

Die Erfindungen, die in Locus Solus beschrieben werden, sind durchweg phantastischer Art. Hier ein Klebstoff besonderer Natur, extra für einen einzigen Zweck entworfen, dort Wasser, das derart präpariert ist, dass man in ihm atmen kann – jedes Detail ausgeklügelt in seiner Funktion und Bauart. Die Anordnung der Vorgänge ist präzise und strikt, die Demoiselle arbeitet so exakt wie die wiedererweckten Toten. Die Fantasie dagegen ist frei. Beide treffen sich in ihrer Vollkommenheit.

Losgelöst von der Realität webt Roussel eine Welt in der Art der Realität. Die Beschwörung der Magie weist dabei nicht in die Region der Alchemie. Roussel verhandelt auch nicht physikalische Erfindungen. Er verhandelt das Entdecken, er verhandelt das Erfinden. An sich. Er erfindet Erfindungen.

Solche Freiheit der Fantasie findet man noch bei Paul Scheerbart (1863-1915), der z. Bsp. Planeten als Organismen beschreibt, die in ihrem Sterben eine Neuform des Planeten gebären. Bei Jeunet et Caro findet man, etwas profaner, freie Erfindungen einhergehend mit strikten mechanischen Abläufen im Film „La cité des enfants perdus“ von 1995.

In der Geschichte um die Herrschaftsfolge in der bretonischen Stadt ist das Initiationsmoment Sorge: Sorge um die richtige Nachfolge der mächtigsten Person im Lande, Sorge um das Gute. Die Frage, die sich stellt, ist die, wie das Gute gesichert werden kann. Zentrale Rolle spielt eine Goldkrone, die nach dem Volksglauben einzig die Macht dem verleiht, der sie trägt. Also muss diese Krone zuallererst gesichert werden, geschützt vor dem Zugriff derer, die die Macht missbrauchen. An dieser Stelle tun sich zwei widerstrebende Notwendigkeiten auf: sie darf nicht gefunden werden – vom Falschen, und sie muss gefunden werden – vom Richtigen. Für Ersteren bedarf es eines sicheren Verschlüsselungsverfahrens, für Letzteren eines Entschlüsselungsverfahrens. Dieses Verfahren wiederum muss hinterlegt werden – und darf natürlich wieder nur vom Richtigen übergeben werden, welcher wiederum einen Schlüssel haben muss, ein Zeichensystem, um die richtige Person zu erkennen. Im Ergebnis steht ein Verschlüsselungsverfahren einem Entschlüsselungsverfahren gegenüber, umgeben von einem weiteren Ver- und Entschlüsselungsverfahren. Mit der Frage, wo nun die Krone versteckt werden solle, beginnt die Kausalitätsverkettung: Es gibt einen Berg, in dessen Inneren gibt es Goldeinschlüsse. Die Krone wird nun geschmolzen und in eine der Höhlen in das Gestein eingelassen, da so ihr Glänzen nicht unterscheidbar und sie somit nicht identifizierbar ist. Schon hier gibt es Anlass genug, Ketten aufzuhängen: Wer soll die Krone einschmelzen, welches Verfahren wird dazu angewandt, wer hat dieses Verfahren erfunden, unter welchen Umständen, wer transportiert das Gold in den Berg, welche Hintergründe haben diese Menschen, welche ist die beste Stelle im Berg, welche die beste Zeit, wer weiß davon, wie ist die Persönlichkeitsbeschaffung dieser Menschen, d. h. wie sicher sind sie? – um nur einige wenige Ansatzmöglichkeiten zur Kettenbildung zu nennen. An jeder Antwort hängen weitere Ketten, bzw. Geschichten und Geheimnisse.

Bis hierhin ist es ein Vorausplanen zur Verbringung der Krone, der Leser ist dann der Krone am nächsten. Nun setzt ein entgegengesetzter Prozess ein: Der Weg zur Krone muss von ihrer Unterbringung ausgehend verschlüsselt werden, d. h. man bewegt sich weg von ihr. Und wieder hin zum Entschlüsselungsverfahren: Zuguterletzt wird der auserwählten Person über einen Toten, der sich als Stern am Firmament zeigt, die Information gegeben, wie sie sich zu verhalten hat und wen sie kontaktieren muss, um zur Krone zu gelangen.

(Um das festzuhalten für später: Hin zum Verschlüsselten – weg vom Verschlüsselten! Auf der sprachlichen Ebene heißt das: Das Wort/Zeichen hin zum Bezeichneten, das gleichzeitig weg davon führt. Das Bezeichnende entschlüsselt und verschlüsselt zugleich das Bezeichnete.)

Natürlich gelingt es. Alles gelingt in den Geschichten, seien sie auch noch so tragisch. Das ist mehr als logisch, werden doch nur Objekte im Garten Canterels ausgestellt, die schon funktionieren. All die gescheiterten Versuche sind hier unerheblich. Ein Geheimnis kann nur ein solches sein, insofern sein inneres Gefüge funktioniert und es somit in sich geschlossen ist. Man darf nicht vergessen, dass die Exponate ausgereifte Kunstobjekte, also fertig sind. Sie sind schlussendlich Selbstzweck.

Raymond Roussel kam, so scheint es, nie über diesen Selbstzweck hinaus. Das macht das Tragische, aber eben genau das Große an ihm aus. Der letzte Ausweg des Dandys ohne Erfolg war, als er sich vom Schreiben lossagte, Schach. Sein Selbstmord griff (oder greift) wieder in sein Werk zurück und verzweigt sich darin.

Locus Solus

Raymond Roussel

Die Andere Bibliothek, 2012, Band 329

487 Seiten, limitierte Ausgabe

36,00 €

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Ralf Diesel studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften. Er übersetzt aus dem Spanischen und Englischen und recherchiert zum Thema Phantastik in den Künsten, vorrangig in Literatur und Musik, darüber hinaus auch in bildenden Künsten und Film. Die Ergebnisse dieser Arbeit präsentiert er in Form von Rezensionen, Vorträgen und Interviews. Er lebt und arbeitet in Berlin.

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