Februar, 2014

Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke

Posted on: Februar 27th, 2014 by Fabian Thomas No Comments

 

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Leo Perutz ist einer der Autoren, die alle paar Jahre einmal wiederentdeckt werden und dann wieder in der Versenkung verschwinden.

Ende der achtziger Jahre legte Rowohlt im Taschenbuch seine Romane noch einmal auf, dann, etwa ab 2002, machte sich der Deutsche Taschenbuchverlag noch einmal um eine Wiederauflage verdient. Wenn man Glück hat, findet man in größeren Buchhandlungen eines der gelben Bändchen mit so seltsamen Titeln wie Wohin rollst du, Äpfelchen... oder St. Petri-Schnee. Bekannt ist er auch zumindest mittelbar über den nach ihm benannten Leo-Perutz-Preis, eine Auszeichnung für Kriminalromane mit Wien-Bezug.

Vergleichbar vielleicht mit B. Traven, war Leo Perutz, bevor er in Vergessenheit geriet, in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren ein überaus erfolgreicher Schriftsteller. Seine Romane waren meist kurz, schnell geschrieben und bedienten sich beliebter historischer Stoffe wie der Eroberung Südamerikas durch die spanischen Conquistadores. Aber Perutz, 1882 in Prag geboren, von Beruf Versicherungsmathematiker und daher manchmal in einem Atemzug mit Franz Kafka genannt, konstruierte seine Romane so raffiniert und voller literarischer Kniffs, dass neben einer spannenden Handlung die Lektüre dieser Bücher auch immer ein intellektueller Hochgenuss ist.

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Blick auf das jüdische Prag um 1900

Nachts unter der steinernen Brücke, sein vorletzter Roman, der 1953 nach langer Pause, bedingt durch Perutz’ Exil in Palästina, in der Frankfurter Verlagsanstalt erschien, wurde kaum mehr gelesen oder besprochen. Zu stark scheint er mit der jüdisch geprägten, lebendigen Kulturszene der Vorkriegszeit verhaftet zu sein – und dem alten, jüdischen Prag, das schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch die Zerstörung der uralten, verwinkelten und mittlerweile baufällig gewordenen Gassen, dem Untergang geweiht war, setzt dieser Roman tatsächlich ein unvergessliches Denkmal.

Es ist das 16. Jahrhundert, Kaiser Rudolf II. sitzt, von Alchimisten und Wunderheilern umgeben, auf seinem Thron in der Prager Burg, in der Judenstadt lenkt hingegen der reiche Kaufmann Mordechai Meisl die Geschicke. Eine schöne Frau, in die beide verliebt sind, wird zum Auslöser zahlreicher phantastischer Geschichten, die man wie Kurzgeschichten lesen kann, aber im Zusammenspiel eben auch als ein wunderbares Zeitbild, das Leo Perutz in einer Sprache entworfen hat, die unbeschreiblich schön ist, aber auch melancholisch stimmt. Man macht Bekanntschaft mit sprechenden Hunden, fahrenden Künstlern, dem Rabbi Löw und einem ehemaligen Hofnarren. Am Ende, im Epilog, beschreibt der Erzähler dieser Geschichten, man mag ihn mit Perutz identifizieren, wie er das letzte Mal die alte Judenstadt aufsucht, wo sein Hauslehrer ein winziges Kämmerlein bewohnt, und es treibt einem die Tränen in die Augen, wenn man diese letzte Beschreibung des alten Prag liest:

Aneinandergedrängte altersschwache Häuser, Häuser im letzten Stadium des Verfalls, mit Vor- und Zubauten, die die engen Gassen verstellten. Diese krummen und winkeligen Gassen, in deren Gewirr ich mich auf das hoffnungsloseste verlaufen konnte, wenn ich mich nicht vorsah. (…) Ja, ich kannte das alte Judenviertel.

Wenn manche Bücher, wie man das so oft dahersagt, tatsächlich so etwas wie Zeitkapseln für vergangene Zeiten sind – in Nachts unter der steinernen Brücke ist Leo Perutz ein Meisterstück von einer Zeitkapsel gelungen.

Nachts unter der steinernen Brücke

Leo Perutz

Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002

9,90 €

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Fabian Thomas ist Herausgeber von The Daily Frown, dem Magazin für Musik, Literatur, Alltag. Im ocelot Blog stellt er in der Rubrik Classics einmal im Monat Lieblingsbücher und Wiederentdeckungen vor und beobachtet die Literaturszene der Hauptstadt. Außerdem ist er selbst Mitgründer des digitalen Verlags shelff, der im Dezember die ersten beiden E-Books veröffentlichte.

Bildnachweis © Deutsches Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek

Bilderspaziergang durch’s Ocelot – Folge 2

Posted on: Februar 25th, 2014 by Annekathrin Walther No Comments

 

In der zweiten Folge der Bilderspaziergänge sprechen Frithjof Klepp und ich über eine Zeichnung von Katz & Goldt und eine Fotografie von Michael Reisch.

Katz & Goldt

Katz & Goldt


Michael Reisch

Michael Reisch


„Denken heißt Überschreiten“

Posted on: Februar 16th, 2014 by Fabian Thomas No Comments

 

IMG_5096 Ein Gespräch mit der Leiterin der Abteilung Suhrkamp Wissenschaft, Eva Gilmer.

Wie sind Sie zum Suhrkamp Verlag gekommen?

Die kurze Story: Es wurde eine Lektorenstelle im Wissenschaftslektorat frei, der damalige Leiter der Abteilung hat mich gefragt, ob ich das machen möchte, und nach, wie man so schön sagt, reiflicher Überlegung habe ich schließlich Ja gesagt. Es gab natürlich noch ein klassisches Vorstellungsgespräch mit der Verlagsleitung. Im April 2003 habe ich dann angefangen.

© Eva Gilmer

Die lange Story: Ich bin schon Mitte der 1990er Jahre indirekt mit dem Suhrkamp Verlag in Kontakt gekommen, weil ich eine Buchhandelslehre in der legendären „Frankfurter Bücherstube Schumann & Cobet“ absolviert habe, die zum Verlag gehörte. Ein ganz außergewöhnlicher Laden übrigens, der schon damals wie aus der Zeit gefallen wirkte mit seinen antiken Vitrinen und Theken. Das Sortiment war unglaublich breit, das Antiquariat vorzüglich und die Buchhändlerinnen und Buchhändler waren allesamt hochgebildete Leute, von denen ich viel gelernt habe. Siegfried und Ulla Unseld kamen regelmäßig vorbei, auch Lektoren des Verlages, und bei einem von ihnen, nämlich Christian Döring, der heute der Anderen Bibliothek zu neuem Glanz verhilft, habe ich dann Anfang 1996 ein Praktikum im Lektorat für deutschsprachige Literatur gemacht und das Haus in der Frankfurter Lindenstraße zum ersten Mal von innen gesehen. Mein Fazit danach war allerdings: Das ist nix für mich. Ich fand es wahnsinnig schwer, ja geradezu belastend, zu einem Urteil über all die Romane, Erzählungen und Gedichte zu kommen, über die ich Gutachten zu schreiben hatte. Schreibmaschine konnte ich auch nicht so recht, kurzum: Die Uni, das Studium theoretischer Texte und die endlosen und kleinteiligen Diskussionen darüber waren das Paradies. Drei Jahre später ergab sich dann die Gelegenheit, an der Übersetzung eines ziemlich umfangreichen philosophischen Buches mitzuwirken, das bei Suhrkamp im Wissenschaftlichen Hauptprogramm erscheinen sollte und dann auch erschienen ist. Weitere Projekte dieser und ähnlicher Art im Auftrag des Wissenschaftslektorats folgten, ich fand zunehmend Geschmack daran, mich mit Theorie-Texten in der „Publikationsperspektive“ zu beschäftigen, und – siehe die kurze Story.

© Eva Gilmer

Wie sieht ein typischer Arbeitstag aus?

Er ist vor allem ziemlich lang. Und eine Mischung aus lesen, schreiben und reden. Ich komme so gegen 10 Uhr in den Verlag, erledige Korrespondenz (sehr viele E-Mails!), schaue, was die Tagespresse zu vermelden hat, und sehe mir ein paar Absatzzahlen an. Dann telephoniere ich mit der Herstellerin der stw, weil ich eine Deadline nicht einhalten kann, oder mit einer Kollegin aus der Rechteabteilung, weil ein Vertrag verlängert werden muß, oder mit einem Kollegen aus der Werbung, weil noch eine Headline für die Vorschau fehlt, oder mit einer Kollegin aus der Presse, weil ein Autor nicht erreichbar ist, der für ein Interview angefragt werden soll. Um 11 Uhr trifft sich das Wissenschaftslektorat (wir sind zu dritt plus ein/e Hospitant/in). Wir gehen die Post gemeinsam durch, diskutieren vielleicht die eine oder andere Rezension, planen die Produktion oder den nächsten Newsletter und überlegen uns, was als nächstes „Buch des Monats“ auf www.suhrkamp.de/wissenschaft werden soll, welche Facebook-Aktion wir anregen oder zu welchem Thema wir vielleicht mal ein Buch machen sollten. Vor allem aber tauschen wir uns über Lektüreeindrücke aus und entscheiden, ob wir diesen oder jenen Text zur Publikation im Wissenschaftsprogramm vorschlagen oder eben nicht. Bevor ich so gegen 13 Uhr zu Tisch gehe, zumeist mit meinem Kollegen von der edition suhrkamp, rufe ich noch eine Autorin an, die Fragen zum Stylesheet hat, und arbeite mich weiter durch die E-Mails. Der Nachmittag beginnt um 14 Uhr mit einer Sitzung, in der wir Lektoren uns mit den Kolleginnen und Kollegen aus den einschlägigen Abteilungen über Marketingmaßnahmen unterhalten. Danach setze ich mich hin und schaue Fahnen durch oder schreibe Klappentexte. Das mit den E-Mails und Telephonaten geht unablässig weiter. Wenn es etwas ruhiger wird, so gegen 17 Uhr, koche ich mir einen Tee und fange an, an einem Text zu arbeiten, das heißt: Ich nehme einen Stift, fange an zu lesen und streiche alles an, was mir so auffällt. Um 22 Uhr ist dann meistens Schluß. Ich fahre den Rechner runter, räume ein bißchen auf und radle nach Hause. Gelesen (Bücher, Manuskripte) wird fast ausschließlich am Wochenende.

© Eva Gilmer

Die gesamte Buchbranche ist derzeit in einem tiefgreifenden Wandel: Wie wirkt sich das auf ein Wissenschaftsprogramm aus?

Das werden wir sehen, zumal der Wandel ja vielgestaltig ist, diverse Ursachen hat und es noch nicht ausgemacht ist, wohin die Reise geht, sei es für den Handel, sei es für die Verlage. Allein am Thema eBook scheiden sich ja die Geister, wie die hochinteressante Debatte zeigt, die gerade auf unserem Blog (www.logbuch-suhrkamp.de) tobt. Generell glaube ich, daß man sich hüten sollte, angesichts von Transformationsprozessen kulturpessimistischen Reflexen freien Lauf zu lassen, aber ich halte es für unklug, zu diesen Prozessen keine kritische Haltung zu entwickeln, zumal wenn man in der einen oder anderen Form daran beteiligt ist. Lassen Sie es mich, um Ihre Frage vielleicht etwas konkreter zu beantworten, mal so sagen: Ein Teil des Wandels scheint ja darin zu bestehen, daß zwar offenbar nicht weniger Bücher insgesamt gelesen werden, das aber nicht mehr so in die Breite geht. Es gibt eine Konzentration auf (potentielle) Bestseller bei allen Beteiligten: den Verlagen, den Händlern und den Lesern. (Wer nach den Gründen dafür fragt, landet ganz schnell in einer klassischen Henne-Ei-Situation.) Nun ist es ja ziemlich schwer, wenn auch nicht völlig unmöglich, mit anspruchsvoller wissenschaftlicher Literatur, gar mit „Theorie“ in die Bestsellerlisten zu kommen. Wir backen da also von vorneherein etwas kleinere Brötchen – die Betonung liegt auf „etwas“ –, sind dafür aber den entsprechenden Mechanismen und Volatilitäten nicht ganz so stark ausgesetzt. Aus dem „Kampf um Sichtbarkeit“ können wir uns dennoch nicht einfach heraushalten. Wenn es immer weniger Buchhandlungen gibt, die stw-Titel vorrätig halten, wie ocelot, das erfreulicherweise tut, so daß die Kundin sie auch mal findet, ohne danach gesucht zu haben, ist das schon ein Problem, zumal wir uns mit diesen Büchern durchaus auch an ein breiteres Publikum wenden. Das heißt, wir müssen noch andere Wege der Sichtbarmachung finden, und ich hoffe, daß uns das gelingt, und zwar ohne an der prinzipiellen Ausrichtung des Programms zu rütteln. Aber klar ist auch: Eine sehr wichtige Zielgruppe für das Wissenschaftsprogramm sind nach wie vor die Uni-Leute, also die Studierenden und die Lehrenden. Und in diesem Zusammenhang macht mir ein anderer Wandel tatsächlich Sorgen, nämlich der an den Universitäten – ein weites Feld, das ich hier keinesfalls betreten werde!

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Was ist Ihr Lieblingsbuch aus 40 Jahren stw?

Oha – eine private Frage! Ich kann Ihnen das leider nicht in der gewünschten Form – Autor, Titel, stw-Nummer – beantworten, weil es das Lieblingsbuch nicht gibt und aus meiner Sicht auch nicht geben kann. Und selbst wenn es einen absoluten Favoriten gäbe, würde ich ihn Ihnen vermutlich nicht verraten. Ich kann nur sagen, daß ich persönlich eine große Schwäche für Texte habe, die durch den heftigen Willen, etwas wirklich zu verstehen, einer Sache wirklich auf den Grund zu gehen, sowie durch die damit verbundene Anstrengung gewissermaßen existentiell grundiert sind und diese Grundierung auf die eine oder andere Weise preisgeben, ohne sie gleichwohl wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Wenn zu dieser inneren Notwendigkeit (oder wie auch immer man das nennen mag) dann noch so etwas wie kognitive Brillanz und ein Gefühl für Sprache hinzukommen, beeindruckt mich das sehr; gelegentlich, etwa bei einigen Texten von Kant und Wittgenstein, deren Schriften wir ja in der stw anbieten, finde ich es sogar ergreifend.

„Denken heißt Überschreiten“: Was bedeutet dieses Ernst-Bloch-Zitat im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit?

Das ist eine sehr schwierige Frage, deren Beantwortung voraussetzt, daß ich verstanden habe, was Bloch mit diesem Zitat gemeint hat. Er war ja ein Denker von ganz eigener Art, sehr außergewöhnlich und mit einem Händchen für ebenso tiefgründige wie suggestive Formulierungen. Ich muß gestehen, daß ich den Satz enorm kompliziert finde, und die Komplexität wird durch Blochs Nachsatz „Freilich, das Überschreiten fand bisher nicht allzu scharf sein Denken“ nicht gerade reduziert. Aber wir wissen ja, wo diese Sätze stehen, nämlich im Vorwort zu Das Prinzip Hoffnung (stw 554, S. 2 bzw. S. 3), also jenem Werk, in dem Bloch den Versuch unternimmt, eine Philosophie der konkreten Utopie zu entwickeln. Sehe ich unsere Arbeit in irgendeinem direkten Zusammenhang mit konkreten Utopien? – Puh, das käme mir irgendwie zu dick aufgetragen vor, obwohl es natürlich toll klänge zu behaupten, es ginge bei all den Büchern, die wir herausbringen, im Grunde um „Grundrisse einer besseren Welt“. Manche lassen sich vielleicht so beschreiben, andere bemühen sich eher um „Grundrisse der Welt, wie sie derzeit ist“ oder um „Grundrisse der Welt, wie sie einmal war“, was mir beides mindestens so wichtig zu sein scheint, zumal um dem Wörtchen „besser“ einen guten Sinn zu geben.

„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen“ (Theodor W. Adorno, Minima Moralia)

Ich habe es nicht so mit Sentenzen und Wahlsprüchen, aber wenn ich mir einen Satz an meine Bürotür nageln müßte, dann vielleicht diesen von Adorno (aus Minima Moralia): „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen“ – der allerdings geradezu danach schreit, durch Samuel Beckett fallibilistisch abgefedert zu werden: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better“ (aus Worstward Ho/Aufs Schlimmste zu).

Vielen Dank für das Gespräch!

Frank Berzbach über David Pfeifers Schlag weiter, Herz

Posted on: Februar 12th, 2014 by Frithjof Klepp No Comments

 

 

Am  20. Februar liest David Pfeifer bei uns aus seinem neuen Roman Schlag weiter, Herz.

Frank Berzbach teilt mit uns seine Gedanken zum Buch:

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"RING OF FIRE

David Pfeifers neuer Roman über Boxsport und Liebe

Von Frank Berzbach

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Romane können sein wie gute Reportagen: Man bleibt einfach an ihnen kleben, selbst wenn das Thema zuerst einmal fremd schien. Ich habe keine natürliche Nähe zum Boxsport und auch nicht zu einer Buchreihe, die der Heyne Verlag „Hardcore“ getauft hat. Was will er uns damit bloß sagen? Aber schon die gelungene Gestaltung des Covers unterläuft mein Fremdeln und nach dem ersten Satz – „Der Tag trifft ihn wie ein Schlag.“ – wollte ich doch die folgenden 350 Seiten nicht mehr aus dem ring of fire des Protagonisten steigen. Der Held „liebte das Gefühl, durch die Seile zu steigen, wenn alles andere unwichtig wurde.“ – außer Nadja, die liebt der halbtürkische, in Deutschland geborene Mert und sie wird ihm nie unwichtig. Im Vordergrund steht die Liebesgeschichte eines Boxers, eine scheiternde Liebe, die immer ein Kampf bleibt. Von den 14 Jahren mit Nadja sind viele wunderbar, roh und leidenschaftlich. Sie ist mit dem Boxsport nur über ihren kämpfenden Bruder verbunden – Merts härtester Konkurrent –, sonst neigt sie eher zu Büchern und Buchläden; beides bleibt dem restlichen Romanpersonal völlig fremd. Doch Nadja ist fasziniert von der Männlichkeit und dem Kampfgeist, von der einfachen Direktheit und dem zwar hinter Muskeln gepanzerten, aber doch unverbildet vorhandenen Herzgeist. Intellektuelle sind feingeistig, aber eben auch kompliziert und eitel. Boxer sind stolz und stark. Der Protagonist hat viel Herz, liebt aufrichtig und doch führt seine Unfähigkeit im Umgang mit Gefühlen immer wieder dazu, dass er falsch abbiegt: in sporadische Gewaltausbrüche, wenn er argumentativ unterlegen ist; in Affären, wenn sich ihm ein heißer Arsch entgegenstreckt und schließlich in die Klischeewelt, die wir diesen Kerlen unterstellen. Vom Türsteher hin zum Aufpasser bis in die Unterwelt von smarten Drogendealern, die ja gern im Arbeitsalltag einen starken Mann neben sich wissen. Mert findet zwar wieder heraus und als Trainer ins Fitnessstudio, aber zu Nadja wird er im Laufe des Romans immer seltener finden – obwohl sie fraglos die Frau seines Lebens ist. Die Härte seiner Ersatzreligion – Boxen – kollidiert nicht einmal mit der Weichheit der „weiblichen“, leicht depressiven Leserin Nadja; sie berühren sich kaum, laufen oft aneinander vorbei. Ohne die Liebe erscheint Mert, wie Nadja es verbittert am Ende sieht: „Sie wurde zornig, fragte sich, warum sie mit ihm zusammenblieb. Mit diesem egozentrischen Gewaltmenschen. Mit einem Kind, dessen Zerstörungstrieb mit den Muskeln und der Potenz eines Erwachsenen ausgestattet war.“ Der Roman unternimmt den Versuch, diese Frage zu beantworten und er bringt uns bei, dass nur nachts alle Katzen grau sind. Wer seinen Klischeeblick auf Gewaltmenschen behalten will, der sollte anderes lesen.

 

Der Autor weiß, worüber er schreibt; er hat in Berlin den legendären Schach-Box-Club gegründet. Als ich das Buch in die Hand nehme, schaue ich zuerst auf das Autorenfoto. Wilhelm Genazino hat in einem schönen Essay einmal behauptet: Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers. Und hier trifft genau das zu: Ein körperlicher Autor und im Hintergrund ein Box-Sack; fraglos weiß dieser Mann, wie sich harte Schläge gegen den Kopf anfühlen. Die immer wiederkehrenden, genau geschilderten Kämpfe ziehen einen tief hinein – seit Raging Bull von Martin Scorsese musste ich nicht so viel einstecken – aber zugleich wurde mir bei aller Brutalität auch klar, welche Eleganz und Differenziertheit dieser Wettkampf (ein passenderer Begriff als „Sport“) bietet. Merts Geschichte ist auch eine Bildungsgeschichte, nur leider bleibt der Ring sein Klassenzimmer; würde er die Eleganz, Kraft und Dynamik auch außerhalb aufbringen, die Sache mit Nadja hätte gut enden können. Der Roman enthält all die markigen Sprüche, mit denen Boxer sich resistent gegen den Schmerz machen. Es sind Parolen, die einem im Alltag ab und zu gegen Sentimentalitäten helfen könnten – nur fraglich, ob die Kampfmetaphorik noch Raum für Liebe lässt: „Wenn du nicht verlierst, kann der andere nicht gewinnen“ ... das reicht nicht für die Ehe.

 

Am Ende bleibt Mert zurück wie „ein Krieger in einer Welt, die für Krieger keine Verwendung mehr hatte.“ – und ihn ereilt damit literarisch ein Schicksal, das Iwan Turgenjew im 19. Jahrhundert für den Adel beschrieb: Er setzt sich zusammen aus Überflüssigem, und ihre Krise besteht in der Wahrnehmung dieser Tatsache. Warum eigentlich der permanente Kampfzustand? Mert ahnt es, zumindest behauptet das der allwissende Erzähler: „Doch je älter Mert wird, umso deutlicher spürt er, dass er andauernd gegen sich selbst antritt. Und wer gegen sich selbst kämpft, kann am Ende nur verlieren.“ Das trifft für jeden zu, aber der Roman suggeriert glaubhaft, dass man über Waffenwahl und Kampfstil einmal länger nachdenken sollte. Auch der Philosoph Karl Jaspers fand die Existenz gekennzeichnet von einem andauernden Kampf, ebenso kennt der Zen-Buddhismus diese Daseinsmetapher, aber es muss ein „liebender Kampf“ sein, damit er gewonnen werden kann. Mert hingegen betrachtet seine Gegner, also auch sich selbst, nur als „Beute, die sich wehrt“. Wieder ein Baustein in seiner Welt, die zu einfach aufgebaut ist und die an der Komplexität zerbricht. Gegen sie nützt kein soldatischer Kampf und kein Protest.

 

Der Roman ist regional verankert, meist befinden wir uns in Hamburg. Die Reisen des Boxclubs in den Osten halten wunderbare Schilderungen bereit – zum Teil das pure Leserglück. Wer hatte nicht schon mal die Fantasie, an der Tanke von Neonazis bedroht zu werden, aber eben einer zu sein, der mit 15 anderen Boxsportlern zusammen aus einem Bus ausgestiegen war. Die Archaik des Boxens erzeugt in Kombination der verschiedenen Gegner eine eigene Spannung. Man wird parteiisch und fiebert mit. Was Ian McEwan in „Saturday“ mit seinem legendären Squash-Match gelingt, gelingt Pfeifer in vielen Passagen im Ring. Und es ist heimlich doch auch ein Roman, der eine Nähe zum Schach entwickelt, obwohl das Spiel selbst nicht einmal vorkommt. Das ist verständlich, weil nach „Lushins Verteidigung“ von Nabokov kein halbwegs literaturaffiner Schreiber einen Schachroman schreiben will. Lushin verwechselt das Schachbrett mit dem Leben, und Mert verwechselt das Leben mit einem Ring ... und wundert sich, dass die Liebe K.O. geht, sobald der innere Ringrichter die Oberhand über sein real existierendes Leben gewinnt. Gefühle lassen sich nicht so einfach reduzieren wie das Körpergewicht.

 

Neben der zurückliegenden Handlung in Hamburg wechseln die Kapitel und wir folgen Mert durch die Gegenwart in Thailand. Er ist als gealterter Boxer dorthin geflüchtet und lebt von Showkämpfen und der Erinnerung an Nadja. Es zieht sich noch eine weitere Ebene durch den Roman: Der tiefe und differenzierte Einblick in die Familienbiographien verschiedener Boxer, die sich zwar von der Herkunft wenig unterscheiden, aber doch hoch individuell sind. Manche sind frühtalentierte Söhne von Boxtrainern, andere Spätberufene. Manche sind Migranten, andere aus ihrem Viertel seit Generationen niemals herausgekommen. Für alle beginnt der Zugang zum Leben erst, als sie in den Ring steigen. Hier wird es ernst, die Trainer und Gegner werden zu Ersatzvätern und konkurrierenden Freunden, die sich im Schmerz solidarisch verbunden wissen, ohne dazu noch über Gefühle reden zu müssen. Sieg und Niederlage sind eine klare Ordnung dieser männlichen Welt. Es sind Männer, die noch nie im Leben Urlaub gemacht haben, für die aus Hamburger Sicht schon München ein anderer Planet ist, von dem man möglichst schnell und unbeholfen wieder flüchtet. Diese Männer legen sich in der Kabine nach einem verlorenen Kampf ein Handtuch über den Kopf, damit keiner sieht, dass sie heulen. Mit Nadja begegnen wir einer Biografie, die sich aus diesem Milieu heraus entwickelt hat, sie hat studiert und liest Romane – und die Kosten sind eine völlige Fremdheit gegenüber dem brutalen Vater. Als dieser Stirbt ist sie erleichtert.

 

Etwas irritierend ist der Hang des Autors zum Product Placement; warum Nescafé und M&Ms immer wieder so benannt werden, warum es Yahoo sein muss und Nutella, das erschließt sich mir nicht. Es gibt Produkte mit Eigenbotschaft, aber diese hier wirken sie wie ein Werbekanal, während in Bezug auf die Boxklamotten selbst Markennamen fehlen – obwohl sie Kennern sicher etwas mitteilen könnten. Das sollte keinen vom Lesen des hervorragenden Buches abhalten. Es ist ein Roman über Liebesformen: zu Menschen, zu einer der letzten noch archaischen faustkämpferischen Kulturen; zu einer Großstadt, die Heimat ist; und in der Summe auch zum Schreiben und Lesen selbst. Der Roman ist nicht „hardcore“, wie es die Buchreihe verspricht, es geht nicht ums Draufhauen und Draufhalten. David Pfeifer lässt uns eintauchen in eine Welt leidender und kämpfender Männer, die meisten Romanleser werden sich dabei fühlen wie Ethnologen. In den Buchläden trifft man immer noch selten Boxer, es sei denn, sie kaufen Bücher übers Schachspielen. Umwege erhöhen die Ortskenntnis und ich konnte nach dem Beenden sofort mit dem Türsteher einer Kölner Bar sprechen. Es wunderte mich nicht: Klar hat er mal geboxt, er nannte sofort den Verein. Ein Buch über Boxen – klar – würde er auch mal versuchen zu lesen, sonst sei das nicht so seins. Noch etwas anderes schafft der Roman: Ich fühle mich ständig fett, untrainiert und schwach! Bei aller härte: Diese Jungs trainieren und achten auf die Ernährung, und Merts Tag beginnt mit 100 Liegestützen und 100 Situps. Ich möchte lieber nicht preisgeben, wie viele ich schaffe – eine Ehrenrettung wäre nicht drin. Beim nächsten Mal werde ich den Türsteher fragen, wie viele er schafft. Ich habe mehr Bücher, aber er wird stärker sein. Und ich muss dennoch an ihm vorbei.

 

 

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Dr. Frank Berzbach hat einmal Eishockey gespielt und kennt blaue Flecken und brüllende Trainer, aber schon in der Jugend ist er zum Tischtennis gewechselt. Erst das Rennrad hat ihm später wieder beigebracht, was echte Schmerzen sind. Aber auch das steht seit Jahren im Keller. Sein neustes Buch über die Kunst ein kreatives Leben zu führen ist im Hermann Schmidt Verlag erschienen und liegt nach 10 Monaten in der 4. Auflage vor. Er hätte Angst, in einen Boxring zu steigen und beherrscht nicht einmal Lushins Verteidigung. Gut, dass es Romane gibt."

 

 

Mehr Gelesenes von Frank Berzbach gibt es in seinem Heilig/ Profan. Lesetagebuch.

towards a definition

Posted on: Februar 7th, 2014 by Ralf Diesel No Comments

 

Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch

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Der Begriff Phantastik entstammt einer Übersetzungsleistung, die gerne als fehlerhaft bezeichnet wird: Im Jahr 1828 benutzte Jean Jacques Ampère in einem Artikel die Bezeichnung conte fantastique für E.T.A. Hoffmanns Phantasie- und Nachtstücke, statt conte de la fantaisie. Vielleicht war es auch nur Freiheit oder sogar schon Definition.

Unter der Hand gibt man immer, benutzt man Begriffe, eine Definition. Die hier im Blog unter Phantastik vorgestellten Werke unterstehen einer Definition, die das Genre Fantasy ausschließt. Und wenn hier die Ansicht, purer Horror ist ein Gräuel, vertreten wird, so wird davon ausgegangen, dass Phantastik Horror subsumiert. Ebenso Traum, Spekulatives (um nicht zu sagen Science Fiction), Geister, Homunkuli, Untote, Angst, Übersinnliches, die Wahrnehmung, Psychoanalyse, Groteskes, Utopien und Dystopien, usf.

Diese Positionierung fußt weitestgehend auf der Theorie Tzvetan Todorovs in Einführung in die Fantastik. Klar abgegrenzt sind dort Fantasy und Märchen dadurch, dass in ihnen eine (magische) Welt unhinterfragt in sich funktioniert. Das Hinterfragen der Realität ist dagegen Grundelement der Phantastik. Auch das Hinterfragen der diese Realität störenden Faktoren, sprich: ihr nicht mehr Funktionieren, in der SF dann das andersartige Funktionieren.

Die Begegnung von Rationalem mit Irrationalem bleibt unaufgelöst – ein weiterer Kern der Phantastik. Somit haftet die erzählte(!) Erfahrung weniger am Wunderlichen, Unerklärlichen oder Verstörenden, sondern vielmehr an der rationalen, empirischen Realität. Diese ist wesentlich für die Phantastik, rückt als solche in den Fokus, sie wird mit rhetorischen, ästhetischen und mit Mitteln der Motivik regelrecht bearbeitet. „Unsere“ Realität wird in diesem Prozess hochgradig potenziert – unterstellt man ihr ein kontinuierliches Wackeln, zumindest innerhalb der letzten gut 150 Jahre, ist vielleicht das der Grund für das stetige Anwachsen des Phantastischen nicht nur in der Literatur und anderen Künsten oder in den Medien, sondern auch für die tiefergreifende Behandlung in Theorie und Philosophie. Immer an der Frage entlang: Was geht hier, bei uns, eigentlich vor?

Dieser gewachsenen Bedeutung entspringt das interdisziplinäre Handbuch. Es stellt unter der Hand aber auch eine Definition auf. Und in dieser sind Fantasy und Märchen einbezogen. Ein Streitpunkt. Allerdings einer, um das vorwegzunehmen, an dem sich der Wert des Handbuches nicht ableiten lässt, würde man höchstens das ganze Buch auf Grundlage dessen verwerfen wollen. Letzteres kann und darf gar nicht geschehen, schonmal es ein äußerst breites und tiefes Bild der Phantastik ausstellt. Die Theoriendarstellung ist nicht dem Buch vorangestellt, sondern folgt auf den historischen, in Länder untergliederten Teil, quasi als Verbindungsnaht zum nächsten, dem systematischen. Dieser umfasst die Bereiche der medialen Ausprägung des Phantastischen, selbst bis hin zu Mode und Design, sowie die Bereiche der Genres, der Themen und Motive und der Poetik. Dies die grobe, dabei sinnreiche Gliederung.

An sich schon eine Anstiftung zum Lesen, weg vom Gebrauch des Handbuchs als Nachschlagwerk. Die wissenschaftliche Rhetorik ist je nach Autor von Artikel zu Artikel unterschiedlich ausgeprägt, unterschiedslos wird sich jedoch jede/r Ernstmeinende festbeißen. Es dreht sich um eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung auf Basis des verwobenen Teppichs des Phantastischen.

Die in diesem Blog vorgenommene, oben angerissene Positionierung fordert allerdings zu einer Kritik heraus: Das Genre Fantasy bezeichnet der Autor des entsprechenden Artikels als „Spielart“ des Phantastischen. Nach der hiesigen Definition ist die Fantasy als Eigenes zu behandeln, auch schon aus ihrer epischen Anlage heraus. Aus Sicht neuerer Theoriebildungen mag das obsolet erscheinen, was die Herausgeber Hans Richard Brittnacher und Markus May im Text zu Phantastik-Theorien anklingen lassen. Doch die sondierte Welt der Fantasy verlangt auch nach einer sondierten Behandlung. Phantastik selber ist nicht sondierend, sondern im Gegenteil einschließend, auch auf der Textebene. Im Artikel zur Science Fiction wiederum sondiert der Autor drei Genres: die SF, die Fantasy – und die Phantastik. Hier ist eine Präzisierung nicht allein wünschenswert, sondern notwendig, ist die SF doch schon als Genre der Phantastik markiert.

Bei allem sind die Artikel zu Fantasy, SF und, nebenbei bemerkt, zu Märchen jedoch schlüssig und, wie alle anderen, aufschlussreich. Dem Verleger wurde Zeit und Geduld abgenötigt. Das nun endlich erschienene Handbuch ist nicht allein den öffentlichen oder Institutsbibliotheken zu überlassen. Es gehört in die eigene. Mit Spannung erwartet, ist es spannender als erwartet. Nein: es ist spannend!

 

Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch

Hans Richard Brittnacher & Markus May (Hrsg.)

J.B. Metzler Verlag

650 Seiten

64,95

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