März, 2014

 

Ein Roman, der sich selber zum Thema hat.

4012_fernndez_sw_carchivo Zu Beginn einer Buchbesprechung steht zuweilen, zumeistenweilen, eine Inhaltsangabe, eine Beschreibung des Korpus'. Sucht man allerdings einen Korpus in Macedonios Roman, wird man sich vielleicht ein Bein abbeißen. Dieses fehlende Bein ist dann allerdings eines, das gerade durch sein Fehlen immer präsenter wird, selbst über den Tod hinaus. Wer sagt schon über einen Verstorbenen: „Er starb. Er hatte zwei Beine.“? Dieses Bein überlebt seine eigene Nichtexistenz, da es nicht ist, bleibt es. Nur was Korpus ist, stirbt. „Das Museum von Eternas Roman“ hangelt am Tod vorbei. Und das nicht ohne Grund: das Bewusstsein ist das Ziel.

Der Roman fußt auf Aufschiebung. Macedonio schrieb über Dekaden an ihm, kündigte ihn immer wieder an und versicherte damit dessen Vorhandensein, und er wurde erst posthum veröffentlicht. Mehr noch allerdings, da der Roman gut zur Hälfte aus Prologen besteht. Eine unausgesetzte Verzögerung, im Leben wie im Roman selber. Dieses Verzögern, das Pendeln des Geistes des Romans über einem Zwischenraum, bewirkt etwas, nämlich die Schaffung des Lesers. Er ist derjenige, der dem Roman seine Existenz gibt, insofern ist er ein „schreibender Leser“, die höchste Form. Er wird Teil des Kunstwerkes und somit selber Kunstfigur. Ihm steht genügend Zeit zur Verfügung, seinen Platz an diesem Ort, im Roman, zu suchen.
Macedonio legt dabei ironische Fallstricke aus. So werden Figuren vorgeschlagen, was den Leser den Roman präfigurieren lässt, einige finden jedoch keinen Einlass, werden quasi an der Tür abgewiesen, dürfen gerade mal anklopfen und spielen danach keinerlei Rolle. Der Leser kalkuliert durch, wird dann aber mit einer Nullstelle belassen, die weiterarbeitet. Dem Aufschieben, an dessen Ende das Zustandekommen stehen soll, folgt ein teilweises Aussetzen, mit dem umgekehrten Effekt, dem Nichtzustandekommen. Unvorhersehbarkeiten sind Konstituenten in Macedonios Denken, die „Erschütterung des Bewusstseins“ ist für ihn zwingend notwendig, öffnet und macht frei. Als (apokalyptischer) Vorreiter war er Ideal, Idol und bestimmend nicht allein für Julio Cortázar oder Jorge Luis Borges, der eng mit ihm befreundet war.
Nach Macedonios theoretischen Ausführungen in „Das Museum“ und anderen seiner Schriften baut eine Literatur, die Realität nachbildet, nichts als eine Illusion auf, wo sie davon ausgeht, keine eigene Wirklichkeit abzubilden. Sie ist dann keine Kunst. Damit diskutiert er natürlich die Moderne. Und stellt sie mit diesem Roman gleichsam aus. Selbstreferentialität beispielsweise wird bis zu dem Punkt getrieben, wo der Roman den Leser anspricht.

(Diese Besprechung zieht ein Bein nach, hier nun eine Inhaltsangabe: 'Der Roman', das ist der Name eines Landgutes, das 'Der Präsident', Metaphysiker und Hedonist, mit seiner Geliebten Eterna und weiteren ausgewählten Persönlichkeiten bewohnt. Es tauchen auf die Herzallerliebste, ihr Vater, Quasigenius, der Nicht-Existente-Kavalier. Sie wissen, dass sie gelesen werden und nur dadurch und nur hier existieren. Ihre Aufgabe ist im Buch, ist es, Buenos Aires auszukundschaften, ihre Erfahrungen auszuwerten und die Stadt letztendlich zu verbessern. Das scheitert schon in der Auswertung.)

Es ist alles gar nicht so kompliziert:
In diesem Roman steht, was in jedem Roman steht. Nein, man muss da präziser sein: In diesem Roman steht, was in allen Romanen steht, und zwar gleichzeitig. Dieser Roman ist alle Romane, alle, die gewesen sind, alle, die sind, und alle, die sein werden. Er war also schon immer, er ist jetzt, und er wird immer sein. Dieser Roman stellt nicht die Seinsfrage, er ist die Seinsfrage, die Seinsfrage an sich selber. Er ist also nicht ein Roman, sondern der Roman. Und er bündelt die Ewigkeit in sich. Von daher ist er der Ausgangspunkt und der Endpunkt, da es keinen Ausgang und kein Ende gibt. Von daher findet er keinen Anfang, da der Anfang das Ende mitbegreift, und er findet kein Ende, da dies eines Anfanges, den es nicht gibt, bedarf. Er ist das Aleph aus Borges' gleichnamiger Geschichte („der Ort, an dem, ohne sich zu verwirren, alle Orte des Orbis' sind, gesehen aus allen Winkeln“), er ist das Aleph des Romans und der Kunst. Er steckt in jedem Roman, so wie jeder Roman in ihm steckt. Daher müssen wir ihn nicht lesen, haben wir ihn doch schon gelesen, gleich mit unserem jeweilig ersten Roman und mit jedem weiteren nochmals und nochmals. Aber wir müssen ihn lesen, da wir ihn tatsächlich nie gelesen haben. Er ist in jedem Roman, aber wir haben ihn nie bemerkt. Der Roman an sich ist in jedem einzelnen Roman der Protagonist. Gleich der Erfindung von Macedonio: ein Protagonist, der nie in Erscheinung tritt, dennoch anwesend ist und alles bestimmt.

1967 erschienen, 15 Jahre nach Macedonios Tod, liegt hier die erste deutsche Übersetzung des „ersten guten Romans“ vor.

Das Museum von Eternas Roman

Macedonio Fernández

Übersetzt von Petra Strien-Bourmer
Mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg

Die Andere Bibliothek

421 Seiten

36,-

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Große Verlosung zum Indiebookday

Posted on: März 17th, 2014 by Fabian Thomas No Comments

 

Hurra! Der Indiebookday ist für alle Freunde des unabhängigen Lesens ein Fest, mindestens so groß wie Weihnachten und Ostern zusammen. Und um euch die Freude noch zu versüßen, haben wir ein paar Buchpakete für euch geschnürt, die garantiert jedes Indie-Herz höher schlagen lassen! Was ihr tun müsst, um eines davon zu ergattern, erfahrt ihr auf der ocelot Facebookseite. Viel Glück!

Paket 1: gestalten Verlag

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Der gestalten Verlag aus Berlin ist ein wahrer Spezialist für tolle Design- und Kunstbücher. Das hier abgebildete Buch Fully Booked: Ink On Paper, das die Digitalisierung sprichwörtlich auf den Kopf stellt, haben wir schon lange ins Herz geschlossen. Dazu gibt es ein exquisites Poster!

Paket 2: diaphanes

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diaphanes macht Literatur, Wissenschaft und seit neuestem auch Krimis – eine wahre Fundgrube für Kult-Fans. Ebenfalls kultig: Die TV-Serien-Begleitbände zu den Sopranos oder The Wire. Ihr könnt das komplette Paket mit schlappen elf Bänden gewinnen!

Paket 3: Jacoby & Stuart

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Einer der ausgesuchten Indie-Kinderbuchverlage ist das Verlagshaus Jacoby & Stuart aus Berlin. Aber nicht nur das: Neben Kinderbüchern werden auch Sach- und Kochbücher, Bildbände und Graphic Novels verlegt, mit einem besonderen Augenmerk auf tollen Illustrationen. Wir verlosen den wunderschön illustrierten Roman Zorgamazoo von Robert Paul Weston sowie Edgar Allan Poes Unheimliche Geschichten, illustriert von Benjamin Lacombe. Beide Bücher sind übrigens signiert!

Paket 4: Verlag Hermann Schmidt Mainz

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Vorbildliche Typografie aus Mainz liefert seit eh und je der Hermann Schmidt Verlag. Vom Handbuch bis zum großformatigen Prachtband machen diese Experten des gedruckten Buches (fast) alles möglich. Exklusiv für unsere Verlosung haben sie uns zwei Notizbücher im Design von Frank Berzbachs Kunst, ein kreatives Leben zu führen zur Verfügung gestellt!

Paket 5: binooki Verlag

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Türkische Literatur aus Berlin – dafür steht der von den beiden Schwestern Selma Wels und Inci Bürhaniye geführte binooki Verlag. Aus ihrem aktuellen Programm könnt ihr die Schmöker Junge Verlierer, Rendezvous auf dem Friedhof Feriköy und eine signierte Ausgabe von Die Verwandlung des Hector Berlioz gewinnen. Und dann am besten schon einmal sicherheitshalber eine Reise nach Istanbul buchen, wenn euch die Sehnsucht packt!

Paket 6: Verbrecher Verlag

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Im Programm des Verbrecher Verlags findet sich, anders als der Name vermuten lässt, nicht etwa Krimiware, sondern Gegenwartsliteratur jenseits des Mainstreams, Politik und Zeitgeschichte von Anarchismus bis zum Diskurspogo. filit, die kleine Reihe, die sich außergewöhnlichen Filmen widmet, ist schon elf Bände stark. Wir verlosen alle auf einmal: Ihr dürft euch auf Schmankerl wie einen Dialog zum deutschen Erotikkino freuen und mit Fantômas die Welt in Atem halten!

Paket 7: Berenberg Verlag

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Der Berenberg Verlag macht Bücher zur Zeitgeschichte ebenso wie Gedichtbände – gemein ist allen Exemplaren aus diesem Haus die sorgfältige Verarbeitung und geschmackvolle Präsentation der Titel, die man einfach in die Hand nehmen muss, und dann ist es meistens um einen geschehen. Bei uns gibt es ein Paket zu gewinnen, das jeden Bibliophiliac wunschlos glücklich macht: Der Dolomitenkrieg von Uwe Nettelbeck, Die Unerwünschten von Gian Carlo Fusco und Eine Abhandlung über Schweinebraten von Charles Lamb und Norbert Miller.

Mitmachen könnt ihr von Mittwoch, den 19.3.2014 bis Mittwoch, den 26.3.2014 auf unserer Facebookseite. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Viel Glück!

Warum Independent-Verlage so wichtig sind.

Posted on: März 12th, 2014 by Fabian Thomas No Comments

 

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Was macht eigentlich einen guten Verlag aus? Warum ist es überhaupt wichtig, dass es viele unterschiedliche Verlage gibt? Und was ist das Besondere an Independent-Verlagen? Sechs Antworten von Leuten, die es wissen müssen.

Jörg Sundermeier, Verbrecher Verlag: Der Indiebookday ist eine wunderbare Erfindung der Kollegen vom mairisch Verlag. Denn er macht darauf aufmerksam, dass es abseits vom Mainstream viele Romane und Erzählungen sowie vor allem Essays, Gedichte, Theaterstücke und Aufsätze zu entdecken gibt, an die sich die großen Verlage nicht mehr heraustrauen (weil sie es sich angesichts ihres großen Apparates nicht mehr leisten können). Wir aber, die wir in kleineren Verlagen arbeiten, die wir unabhängig sind von Renditeerwartungen großer Verlagskonzerne und die wir – leider – auch in Sachen Selbstausbeutung zu großen Experten geworden sind, wir können uns Titel leisten, die uns einfach nur Spaß machen. Und nicht selten ist das, was uns Spaß macht, auch das, was viele andere interessiert, so sie neugierig auf Neues sind. Davon redet der Indiebookday, nicht von ökonomischer Größe der Verlage (und der Buchhandlungen), sondern von der Neugierde derer, die hier wie dort arbeiten. Und die die Neugierde Dritter bedienen – und nicht irgendeine bloße Vorstellung davon, was Gaby, 40, Hausfrau, und Tom, 33, Freeclimber, sich so wünschen könnten. Wir denken in Menschen, nicht in Werbeklischees.

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Selma Wels, binooki Verlag: Independent-Verlage machen aus meiner Sicht die deutsche Verlagslandschaft wesentlich bunter und bereichern uns alle um die noch eine oder andere Facette, die wir sonst nicht zu fassen bekämen. Unser Verlag widmet sich zum Beispiel der jungen türkischen Literatur, die erst jetzt so richtig wahrgenommen wird in Deutschland. Aber nicht nur wir, sondern die meisten Independent-Verlage haben in der Regel einen ganz bestimmten Fokus. Das bedeutet, dass sie das, was sie machen, eben darum ziemlich gut machen, weil sie sich nur darauf konzentrieren. Da ist aber noch diese eine andere Sache, die die Indies so besonders schön macht: Dieses Herzblut, diese Leidenschaft, dieses dafür „brennen“. Und die Kreativität: Weniger finanzielle Mittel erfordern ein höheres Maß an Kreativität. Man sehe und staune, was dabei alles entsteht: So schöne Initiativen wie der Indiebookday eben. Und ohne den Indiebookday wollen wir auch gar nicht mehr sein.

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Katy Derbyshire, Übersetzerin und Bloggerin (love german books): Für mich sind unabhängige Verlage die großen Experimentierer, die oft – aus welchem Grund auch immer – nicht unbedingt auf Gewinn vor Qualität schielen. In meinem Beruf als Übersetzerin ins Englische arbeite ich überwiegend mit Indies, weil Bücher aus anderen Sprachen in der englischsprachigen Welt als Risikogeschäft gelten. Ich bin dankbar dafür, dass kleine Verlage noch Risiken eingehen und uns aufregende Leseerfahrungen ermöglichen. In meinem ganz persönlichen Fall: Helene Hegemann, Clemens Meyer, Inka Parei, Dorothee Elmiger, Felicitas Hoppe, Christa Wolf... ja, auch Autoren, die hier als große Namen gelten, werden auf Englisch als Exoten betrachtet und von kleinen Klitschen veröffentlicht, in denen leidenschaftliche Menschen wahnsinnig viel Zeit und Liebe in ihre und meine Bücher stecken. Unsere Bücher – vielleicht bringt es dieses kleine Wort auf den Punkt: bei Independent-Verlagen habe ich oft das Gefühl, es wird eine brennende Liebe großzügig mit der ganzen Welt geteilt.

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Nikola Richter, mikrotext Verlag: Dass in der Kontaktinformation auf den Webseiten der großen Verlage heutzutage immer seltener eine Stadt erwähnt wird („unless you count Random Penguin House as a city“), beobachtete kürzlich die Übersetzerin und kluge Bloggerin Lucy Renner Jones – auf Facebook. Ich habe sie natürlich gefragt, ob ich sie hier zitieren darf, denn auch wenn es einige immer mal wieder anders verstehen: Facebook ist ein halböffentlicher Ort, je nach Privatsphäre-Einstellung. Und: Es ist ein großes Schreibarchiv. Interessanterweise gehört nämlich alles, was man dort einstellt, immer noch einem selbst: „You own all of the content and information you post on Facebook“ (aus dem Statement of Rights and Responsibilities). Mir gefiel Lucys Beobachtung, aber nicht die Tatsache. Denn auch, wenn das Verschwinden von geopolitischen Begrenzungen im Bereich der globalen Politik und des globalen Bürgerengagements (Anti-Atomkraftbewegung, Occupy, crowd campaigning, Anti-Überwachungskampf) von Vorteil ist, so finde ich eine örtliche Zuordnung im verlegerischen Bereich sehr notwendig. Ein verorteter Verlag hat ein Gesicht, eine Persönlichkeit und mindestens einen Schreibtisch. Und deshalb sind die Indie-Verlage so wichtig. Im Print- genauso wie im Digitalverlagsbetrieb stellen sie sich mit erkennbarer Stimme und Programm gegen die anonymen Großkonzerne, sind ansprechbar, engagiert, vor Ort. Und alles, was sie tun, verantworten sie vor sich selbst, nicht vor einem darüber geschalteten Management oder Vorstand. Sie gehören sich selbst.

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Leif Greinus & Sebastian Wolter, Voland & Quist: Indie-Verlage werden gebraucht, mehr denn je. Während die großen Konzernverlage zunehmend Einheitsware, beispielsweise von Ghostwritern verfasste Bücher von TV-Stars/Prominenten oder internationale Bestseller, veröffentlichen, kümmern sich Indieverlage um das Ungewöhnliche und (noch) Unbekannte. Indieverlage scheren sich nicht darum, welche Trends gerade auf dem Buchmarkt stattfinden, kontinuierlich und starrsinnig entwickeln sie ihr Programm – „jeder Verlag eine eigene Welt“, wie mal ein Kollege so treffend sagte. Indie-Verlage ermöglichen dem interessierten Leser Entdeckungen. Im besten Falle ist ein Indie-Verlag wie ein guter Freund, der einen durchs Leben begleitet und einem immer wieder neue, interessante Bücher empfiehlt.

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Sebastian Oehler, Reprodukt Verlag: Das viel zitierte Herzblut und die Leidenschaft kann man mit Sicherheit, auch wenn es manchmal anders scheinen mag, ebenfalls bei den „Großen“ finden. Das schöne an Independent-Verlagen ist die Möglichkeit, die aus Herzblut und Leidenschaft entstehenden Ideen schneller und kompromissloser umsetzen zu können. Ein Budget lässt sich schon irgendwie und irgendwo auftun... und wenn man die Bücher selbst mit der Sackkarre bei den Buchhandlungen vorbeibringt. Damit beleben Independent-Verlage die Verlagslandschaft auf eine Art und Weise, die größeren, in Konzernstrukturen eingebundenen Verlagen öfter einfach nicht möglich ist. Independents wirken als wichtige Impulsgeber, geben Autoren Freiräume ohne allzu großen wirtschaftlichen Druck und haben Geduld auch mit Büchern, die älter als ein halbes Jahr sind. Das und noch viel mehr sind genug Gründe, die Independent-Verlage an einem schönen Tag im März herauszustellen, zu feiern und ihre Bücher zu kaufen.

kinderland

Fabian Thomas ist Herausgeber von The Daily Frown, dem Magazin für Musik, Literatur, Alltag. Im ocelot Blog beobachtet er die Literaturszene der Hauptstadt. Außerdem ist er selbst Mitbegründer des digitalen Independent-Verlags shelff, der im Dezember 2013 die ersten beiden E-Books veröffentlichte.

Verwendetes Bildmaterial: Ausschnitte der jeweiligen Verlagsprogramme

Widerstand ist zwecklos

Posted on: März 6th, 2014 by Ralf Diesel No Comments

 

Die Akimuden. Von Viktor Jerofejew

Russlands Invasion kommt von innen, die Toten übernehmen das Leben Moskaus. Aus dem Nichts (=Jenseits) durchdringen sie U-Bahnwände und gesellschaftliche Strukturen, die Lebenden begegnen ihnen mit Schrecken oder sehen sie als Erlöser. Des einen Vor-, des anderen Nachteil – wie bei jedem Systemwechsel. Der Botschafter eines nicht vorhandenen Landes nennt sich Akimud, er zieht die Fäden dieses einmaligen Komplotts, dessen Sinn sich nicht zu erschließen vermag. Absurd kommt es daher wie die realen Verhältnisse des Landes. Im Schlepptau die gesamte russische Geschichte, schickt Akimud seine Schergen voran, lässt Wohnungen und Ämter okkupieren, setzt die Agentin Fink an, erotisch zu intervenieren, „stirbt“ selber drei Mal, kehrt wieder. Sympathisanten begehen Selbstmord, wechseln die Seiten, um als Untote zu agieren. Ein Bankett der lebenden Leichen schließlich krönt die Umwälzung. Das System ist endgültig korrumpiert: Eine Leiche.
Der Zombie ist markiert durch eine einfache Umkehrung. Etwas Existentes ist im Tot nicht mehr existent. Nun wird aus dem Nicht-Existenten, einer Leiche, etwas Existentes. Darin liegt der ganze Kniff. Die Inszenierung einer Bedrohung, deren Sinn sich nicht zu erschließen vermag, kehrt sich in eine reale und andauernde, und somit hat man eine kreiert, die die gesamte Gesellschaft beschäftigt – und beschädigt. Der Terrorismus ist selbstgeschaffen. Er ist dann da und besetzt die Gesellschaft.
Soweit ganz simpel. Doch Jerofejew („Der gute Stalin“, 2004) zerschneidet die russische Gesellschafts- und Literaturgeschichte und setzt sie zu einer morbiden, ironischen, bald zynischen Collage zusammen, gespickt mit Anspielungen und stilistischen Finten. Aus alt mach neu, aus neu mach alt – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zirkulieren in Russland ineinander. Der reinste Horror.
Dieser genreunspezifische Roman ist voll von historischen und gegenwärtigen Gestalten, er lässt einem nicht selten das Hirn auseinanderbrechen. Aber keine Angst, es findet sich wieder zusammen. Ordentlich durchgerüttelt und ordentlich lebendig.

Nur Mut! Ein genialer Knochen Gegenwartsliteratur.

 

Die Akimuden

Viktor Jerofejew

Verlag Hanser Berlin

464 Seiten

24,90

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Frühjahrsbücher: Das ocelot-Team empfiehlt

Posted on: März 3rd, 2014 by Fabian Thomas No Comments

 

laura-sonnefeldLaura Sonnefeld (ocelot Store) freut sich auf Toby Barlows Baba Jaga: Baba Jaga liest sich wie eine Mischung aus le Carré und Sorokin. CIA-Spionage trifft auf mythische Hexenwesen aus dem Osten. Packend, abstrus und am Ende überraschend. Mein absolutes Frühlingshighlight! Außerdem Stefan Bachmanns Die Seltsamen: Wie kann ein 16-Jähriger so eine komplexe Welt schaffen und dann auch noch auf über 300 Seiten einen Spannungsbogen schaffen, der mich jetzt schon dem zweiten Teil der Geschichte sehnsüchtig entgegen blicken lässt? Großartiger phantastischer All-Ager!

fabian

Fabian Thomas (ocelot Blog): Ich freue mich auf viele Bücher in diesem Frühjahr, aber auf zwei ganz besonders. Da ist zum einen Schlafgänger, der neue Roman der Schweizerin Dorothee Elmiger, die mit ihrer Einladung an die Waghalsigen 2010 ziemlich abgeräumt hat – und das zu Recht: sie schreibt eine unvergleichliche Prosa, kämpferisch, ohne pathetisch zu wirken, wunderschön, ohne kitschig zu sein. Ganz, ganz groß! Ähnlich geht es mir bei Svenja Leiber, die ebenfalls eine ganz eigene Stimme der Gegenwartsliteratur ist und mit ihrem neuen Roman Das letzte Land jetzt ganz weit ausholt und die Geschichte eines musikbegabten Jungen erzählt, die vom ersten Weltkrieg bis in die siebziger Jahre reicht.

maria-christina

Maria-Christina Piwowarski (ocelot Store): Es gibt zwei Frühjahrsneuerscheinungen, über die ich mich am allermeisten freue; zum einen hat Daniela Krien, deren Debüt ich so überaus faszinierend fand, dass ich den ersten und einzigen Fanbrief meines Lebens geschrieben habe, ein neues Buch geschrieben. Muldental beschreibt in zehn Erzählungen abgrundtiefe und himmelstürmende Nachwendegeschichten aus der ostdeutschen Provinz. Das neue Kinderbuch aus dem Atelier Flora, Das Buch der Verwandlungen, ist nicht nur ein besonderer Titel für mich, weil mein Sohn bei der Herstellung wieder mit von der Partie sein durfte. Vor allem überzeugt mich der Blick der vier Autorinnen auf unsere bunte, spannende und manchmal eben auch komische Welt. Ein Blick, der durch Kinderaugen zu erfolgen scheint, aber niemals herablassend wirkt oder einer „Kreativ-Doktrin“ gleich kommt. Diese Bücher machen wirklich Lust aufs Staunen, sie inspirieren und treffen die kindliche Neugier punktgenau.

ralf

Ralf Diesel (ocelot Blog) freut sich auf Jean Echenoz' 14: Auf gut 125 Seiten begegnet Echenoz dem Krieg, dem nicht mit Worten zu begegnen ist. Die Spuren der Kriegsvorgänge, vom Einzug Frankreichs in den 1. Weltkrieg bis zu seinem Fortgang über die Jahre, sind gerade noch fassbar, das Erleben lässt sich jedoch nicht auflösen. Die Front selber, der eigentliche Kriegsschauplatz, bleibt vom Lazarett an ausgespart. Das Überleben im einst zivilen Raum, quasi der Rest des Todes macht dieses Buch hart, bald zynisch. Der Krieg als Instrument steht dem Leben als Mittel gegen den Tod gegenüber. Echenoz schreibt die Unmöglichkeit des Schreibens. Es ist hervorragend im wörtlichen Sinne: Es ragt aus sonstigen Kriegsbeschreibungen hervor, indem es den Wandel des Menschen gegenwärtig macht und den Menschen nicht im historischen Ort belässt.

Und auf welches Buch freut ihr euch ganz besonders in diesem Frühjahr? Schreibt es uns als Kommentar oder auf Facebook!