Die Leipziger Buchmesse im Über-Blick

Zu vorgerückter Stunde lassen sich in der Presselounge Dinge in Erfahrung bringen, die man lieber nicht erfahren möchte. Darum ist es besser, sich dort rauszuhalten. Unerhörtes ist deshalb hier auch unerwähnt. Allein Begegnungen, die sind wichtig. Und genau das ist das Schöne an der Leipziger Buchmesse, man kann auf sich zukommen, quasi die Hallen an sich vorbeiwandern lassen, nur ab und zu die Hand ausstrecken, damit etwas unter den Augen verweile, oder das Wort richten und in dem ruhigen Fluss momenthaft ankern, mehr erfahren, Neues.
Wenn Leipzig sich zur Bühne umgestaltet, auf dem Messegelände wie über die gesamte Stadt verteilt mit dem Programm „Leipzig liest“, geht das literarische Familienleben in einem spazieren. Das muss an Leipzig liegen, nicht das Familiäre, sondern das In-Einem. Wo in Berlin das, was von außen kommt, nachgerade devoriert wird (für den Anderen kommt man selber auch von außen!), hat Leipzig eine wenig konsumierende Gangart.
Vor allem wird Zeit nicht konsumiert. Das Schiff Leipzig scheint unerhört unneurotisch – eine Reise ist nicht allein das Ziel, eine Reise ist eine Reise, ein Hier und ein Jetzt, und dabei ein Woanders-Sein. Das ist genau das Moment des Lesens, wie auch des Schreibens: Ganz Leipzig ist während der Buchmesse woanders, im Jetzt hinfort. Das Buch ist in Leipzig, und Leipzig ist im Buch.
Das Buch greift in den Leser, der Leser greift in das Buch. Und während des Lesens eine Zeit in einer Zeit. Von daher hier eine zeitlose Empfehlung, an und für sich und da nicht neu zu dieser Messe erschienen, „Stoner“ von John Williams, die Geschichte eines Unprätentiösen, dem die Literatur unvorhersehbar ins Leben griff, welches er nun, als Professor, der Literatur widmet. Die Literatur hat sein Leben aufgelesen. John Williams schreibt ein Leben, nicht einen Roman, William Stoner, der Protagonist, liest und wird gelesen. (Was er wohl dabei empfinden mag, wenn er gelesen wird?)
Auf der Messe viele Worte, gestapelt, aufgereiht, nachgeschoben, vorverlegt, aufgeschoben. Von daher noch eine andere Empfehlung, „Flut“ von Eric Drooker, eine Graphic Novel ohne Worte. Ein Protagonist stolpert in New York durch die Apokalypse seiner eigenen Bedürfnisse, eine Apokalypse sintflutet die Zivilisation. Buchstäblich ohne Worte wortgewaltig, bildgewaltig, und es sticht heraus, da es druckgewaltig ist, ein Schwarz, schwärzer als Schwarz, man ertrinkt drin. Diese Bilder sind zum 'Auslesen'.
Quasi abgesaugt wurden die Manga-Kostümierten, nicht wie früher das Gedränge verdichtend, tröpfeln sie nurmehr als konspirative Gestalten über das Messegelände, sammeln sich an ihrem eigenen Pool, einer eigenen Halle, mit eigenem Eintritt und eigenen Events. Gehen so viele Unkostümierte nicht hin, fühlen sich ohne Verkleidung wohl ertappt.
Alles andere über alle anderen und von allen anderen wurde schon gesagt. Denis Scheck trennte mehrfach das Gute vom Bösen, das Sofa ist immer noch blau, die Schweiz die Schweiz, ein Buchpreis ein herrliches Geschöpf. Geschichten werden gemacht.
Nun denn, auf die diesjährige blickend, mit dem Rücken voraus zur nächsten Leipziger.
Mit Ralf Diesel