ocelot Kritik

Herbst und Buchmesse: 20 Empfehlungen (Stefan Mesch)

Posted on: Oktober 5th, 2014 by Stefan Mesch No Comments

 

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Ab Mittwoch bin ich auf der Frankfurter Buchmesse, für Deutschlandradio Kultur:

Als Blogger, in u.a. Kathrin Passigs Fußstapfen, und gemeinsam mit Autorin Nora Bossong.

Wichtig für mich, vorher: Nochmal in Ruhe die Neuerscheinungen von Sommer und Herbst durchgehen. Romane finden. Blättern. Stöbern. Eine größere Übersicht über die Herbst-Romane in Deutschland blogge ich jedes Jahr HIER. Im ocelot-Blog aber, schon vorher:

20 Romane aus dem ocelot-Sortiment, auf meiner "schnell lesen!"-Liste:

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01_"Johnny und Jean", Teresa Präauer:

    • zwei Kunststudenten gegen Welt und Hochschule.
    • Wallstein, 208 Seiten, 4. August 2014. bestellen.

Johnny und Jean

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02_"Die Mittellosen", Szilárd Borbély:

  • Ungarn in den 70ern: ein Dorfjunge mit jüdischen Wurzeln fragt nach früher.
  • Suhrkamp, 350 Seiten, 6. Oktober 2014. bestellen.

Nincstelenek
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03_"Fünf Menschen, die mir fehlen", Christie Hodgen:

  • ein Leben, erzählt in fünf kleinen und großen Verlusten
  • Knaus, 288 Seiten, 6. Oktober 2014. bestellen.

Elegies for the Brokenhearted
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04_"Schweinesystem", Christine Koschmieder:

  • zwei Rebellinnen im Heidelberg der frühen 80er Jahre
  • Blumenbar, 400 Seiten, 18. August 2014. bestellen.

[noch keine Vorschau]
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05_"Kruso", Lutz Seiler

  • Tellerwäscher auf Hiddensee findet einen Mentor / Freund: Aussteiger-Roman.
  • Suhrkamp, 484 Seiten, 2. September 2014. bestellen.

Kruso
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06_"Kastelau", Charles Lewinsky

  • die Dreharbeiten eines NS-Propagandafilms der UFA in den bayrischen Alpen
  • Nagel & Kimche, 400 Seiten, 25. August 2014. bestellen.

Kastelau
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07_"Auswilderung", Bettina Suleiman:

  • junge Forscherin versucht, Gorillas auszuwildern. Lovestory? Science Fiction?
  • Suhrkamp Nova, 265 Seiten, 15. September 2014. bestellen.

[noch keine Vorschau]

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08_"Das fabelhafte Jahr der Anarchie", André Kubiczek:

  • Lausitz, 1990: Liebespaar versucht sich an Aussteiger-Bauernhof
  • Rowohlt Berlin, 272 Seiten, 29. August 2014. bestellen.

[noch keine Vorschau]

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09_"Rückwärtssalto", Evi Simeoni:

  • Leistungsturnerin, überfordert
  • Klett-Cotta, 272 Seiten, 23. August 2014. bestellen.

[noch keine Vorschau]

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10_"Alles andere als ein Kinderspiel", Yishai Sarid

  • die Leiterin eines Kindergartens in Tel Aviv kämpft um ihre Unabhängigkeit
  • Kein & Aber, 368 Seiten, 1. September 2014. bestellen.

Naomi's Nursery School
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11_"Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?", Ece Temelkuran

  • junge Journalistin fährt mit drei weiteren Frauen durch den Arabischen Frühling
  • Atlantik Verlag, 400 Seiten, 8. September 2014. bestellen.

Düğümlere Üfleyen Kadınlar
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12_"Restwärme", Kerstin Preiwuß

  • als ihr Vater stirbt, reis eine Geologin zurück nach Mecklenburg, aufs Land
  • Berlin Verlag, 224 Seiten, 14. Juli 2014. bestellen.

Restwärme
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13_"Wir brauchen neue Namen", NuViolet Bulawayo

  • Mädchen aus Simbabwe zieht zu ihrer Tante in Detroit und erfindet sich neu.
  • Suhrkamp Verlag, 264 Seiten, 18. August 2014.  bestellen.

We Need New Names
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14_"Steiners Geschichte", Constantin Göttfert

  • Generationenroman über Vertriebene, die versuchen, in Österreich Fuß zu fassen
  • C.H. Beck, 479 Seiten, 14. Juli 2014. bestellen.

Steiners Geschichte
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15_"Requiem", Frances Itani

  • japanischstämmige Familie wird im Kanada des 2. Weltkriegs interniert
  • Berlin Verlag, 352 Seiten, 1. September 2014. bestellen.

Requiem
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16_"Länger als sonst ist nicht für immer", Pia Ziefle

  • drei Kinder der 70er Jahre, für 30 Jahre zerrissen zwischen Ost- und Westeuropa
  • Arche, 320 Seiten, 25. August 2014. bestellen.

[noch keine Vorschau]

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17_"Zwei Bärinnen", Meir Shalev

  • brutale israelische Familiensaga um eine Gärtnerei
  • Diogenes, 416 Seiten, 24. September 2014. bestellen.

Due vendette
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18_"Das achte Leben (Für Brilka)", Nino Haratischwili

  • epischer Roman über das 20. Jahrhundert in Georgien
  • Frankfurter Verlagsanstalt, 1280 Seiten, 1. September 2014. bestellen.

Das achte Leben (Für Brilka)
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19_"Biester", Emma Jane Unsworth

  • zwei verkrachte Freundinnen, Selbsthass, Alkohol und Sex
  • Metrolit, 288 Seiten, 18. August 2014. bestellen.

Animals
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20_"Der Himmel meines Großvaters", Stefan Hertmans

  • literarische Biografie eines belgischen Weltkriegsveteranen
  • Hanser Berlin, 320 Seiten, 25. August 2014. bestellen.

Oorlog en terpentijn
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Bonus:

vier Titel, die noch vor Weihnachten erscheinen:

  • James Salter: "Jäger" 1. Salter-Roman, ersch. 1956. Berlin Verlag, 304 Seiten, 13. Oktober 2014. Goodreads: 4.07 von 5
  • Thomas Wolfe: “Von Zeit und Fluss” Neuübersetzung von Irma Wehrli, Manesse Verlag, 1200 Seiten, 20. Oktober 2014. Goodreads: 4.22 von 5
  • Szilárd Rubin: “Der Eisengel” Rowohlt Berlin, 224 Seiten, 24. Oktober 2014. Goodreads: 4.24 von 5
  • Angharad Price: “Das Leben der Rebecca Jones” dtv, 200 Seiten, 1. Dezember 2014. Goodreads: 4.31 von 5

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weitere Empfehlungen von mir:

Frank Berzbach über David Pfeifers Schlag weiter, Herz

Posted on: Februar 12th, 2014 by Frithjof Klepp No Comments

 

 

Am  20. Februar liest David Pfeifer bei uns aus seinem neuen Roman Schlag weiter, Herz.

Frank Berzbach teilt mit uns seine Gedanken zum Buch:

Pfeifer_Blog

 

"RING OF FIRE

David Pfeifers neuer Roman über Boxsport und Liebe

Von Frank Berzbach

Berz.Pfei

Romane können sein wie gute Reportagen: Man bleibt einfach an ihnen kleben, selbst wenn das Thema zuerst einmal fremd schien. Ich habe keine natürliche Nähe zum Boxsport und auch nicht zu einer Buchreihe, die der Heyne Verlag „Hardcore“ getauft hat. Was will er uns damit bloß sagen? Aber schon die gelungene Gestaltung des Covers unterläuft mein Fremdeln und nach dem ersten Satz – „Der Tag trifft ihn wie ein Schlag.“ – wollte ich doch die folgenden 350 Seiten nicht mehr aus dem ring of fire des Protagonisten steigen. Der Held „liebte das Gefühl, durch die Seile zu steigen, wenn alles andere unwichtig wurde.“ – außer Nadja, die liebt der halbtürkische, in Deutschland geborene Mert und sie wird ihm nie unwichtig. Im Vordergrund steht die Liebesgeschichte eines Boxers, eine scheiternde Liebe, die immer ein Kampf bleibt. Von den 14 Jahren mit Nadja sind viele wunderbar, roh und leidenschaftlich. Sie ist mit dem Boxsport nur über ihren kämpfenden Bruder verbunden – Merts härtester Konkurrent –, sonst neigt sie eher zu Büchern und Buchläden; beides bleibt dem restlichen Romanpersonal völlig fremd. Doch Nadja ist fasziniert von der Männlichkeit und dem Kampfgeist, von der einfachen Direktheit und dem zwar hinter Muskeln gepanzerten, aber doch unverbildet vorhandenen Herzgeist. Intellektuelle sind feingeistig, aber eben auch kompliziert und eitel. Boxer sind stolz und stark. Der Protagonist hat viel Herz, liebt aufrichtig und doch führt seine Unfähigkeit im Umgang mit Gefühlen immer wieder dazu, dass er falsch abbiegt: in sporadische Gewaltausbrüche, wenn er argumentativ unterlegen ist; in Affären, wenn sich ihm ein heißer Arsch entgegenstreckt und schließlich in die Klischeewelt, die wir diesen Kerlen unterstellen. Vom Türsteher hin zum Aufpasser bis in die Unterwelt von smarten Drogendealern, die ja gern im Arbeitsalltag einen starken Mann neben sich wissen. Mert findet zwar wieder heraus und als Trainer ins Fitnessstudio, aber zu Nadja wird er im Laufe des Romans immer seltener finden – obwohl sie fraglos die Frau seines Lebens ist. Die Härte seiner Ersatzreligion – Boxen – kollidiert nicht einmal mit der Weichheit der „weiblichen“, leicht depressiven Leserin Nadja; sie berühren sich kaum, laufen oft aneinander vorbei. Ohne die Liebe erscheint Mert, wie Nadja es verbittert am Ende sieht: „Sie wurde zornig, fragte sich, warum sie mit ihm zusammenblieb. Mit diesem egozentrischen Gewaltmenschen. Mit einem Kind, dessen Zerstörungstrieb mit den Muskeln und der Potenz eines Erwachsenen ausgestattet war.“ Der Roman unternimmt den Versuch, diese Frage zu beantworten und er bringt uns bei, dass nur nachts alle Katzen grau sind. Wer seinen Klischeeblick auf Gewaltmenschen behalten will, der sollte anderes lesen.

 

Der Autor weiß, worüber er schreibt; er hat in Berlin den legendären Schach-Box-Club gegründet. Als ich das Buch in die Hand nehme, schaue ich zuerst auf das Autorenfoto. Wilhelm Genazino hat in einem schönen Essay einmal behauptet: Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers. Und hier trifft genau das zu: Ein körperlicher Autor und im Hintergrund ein Box-Sack; fraglos weiß dieser Mann, wie sich harte Schläge gegen den Kopf anfühlen. Die immer wiederkehrenden, genau geschilderten Kämpfe ziehen einen tief hinein – seit Raging Bull von Martin Scorsese musste ich nicht so viel einstecken – aber zugleich wurde mir bei aller Brutalität auch klar, welche Eleganz und Differenziertheit dieser Wettkampf (ein passenderer Begriff als „Sport“) bietet. Merts Geschichte ist auch eine Bildungsgeschichte, nur leider bleibt der Ring sein Klassenzimmer; würde er die Eleganz, Kraft und Dynamik auch außerhalb aufbringen, die Sache mit Nadja hätte gut enden können. Der Roman enthält all die markigen Sprüche, mit denen Boxer sich resistent gegen den Schmerz machen. Es sind Parolen, die einem im Alltag ab und zu gegen Sentimentalitäten helfen könnten – nur fraglich, ob die Kampfmetaphorik noch Raum für Liebe lässt: „Wenn du nicht verlierst, kann der andere nicht gewinnen“ ... das reicht nicht für die Ehe.

 

Am Ende bleibt Mert zurück wie „ein Krieger in einer Welt, die für Krieger keine Verwendung mehr hatte.“ – und ihn ereilt damit literarisch ein Schicksal, das Iwan Turgenjew im 19. Jahrhundert für den Adel beschrieb: Er setzt sich zusammen aus Überflüssigem, und ihre Krise besteht in der Wahrnehmung dieser Tatsache. Warum eigentlich der permanente Kampfzustand? Mert ahnt es, zumindest behauptet das der allwissende Erzähler: „Doch je älter Mert wird, umso deutlicher spürt er, dass er andauernd gegen sich selbst antritt. Und wer gegen sich selbst kämpft, kann am Ende nur verlieren.“ Das trifft für jeden zu, aber der Roman suggeriert glaubhaft, dass man über Waffenwahl und Kampfstil einmal länger nachdenken sollte. Auch der Philosoph Karl Jaspers fand die Existenz gekennzeichnet von einem andauernden Kampf, ebenso kennt der Zen-Buddhismus diese Daseinsmetapher, aber es muss ein „liebender Kampf“ sein, damit er gewonnen werden kann. Mert hingegen betrachtet seine Gegner, also auch sich selbst, nur als „Beute, die sich wehrt“. Wieder ein Baustein in seiner Welt, die zu einfach aufgebaut ist und die an der Komplexität zerbricht. Gegen sie nützt kein soldatischer Kampf und kein Protest.

 

Der Roman ist regional verankert, meist befinden wir uns in Hamburg. Die Reisen des Boxclubs in den Osten halten wunderbare Schilderungen bereit – zum Teil das pure Leserglück. Wer hatte nicht schon mal die Fantasie, an der Tanke von Neonazis bedroht zu werden, aber eben einer zu sein, der mit 15 anderen Boxsportlern zusammen aus einem Bus ausgestiegen war. Die Archaik des Boxens erzeugt in Kombination der verschiedenen Gegner eine eigene Spannung. Man wird parteiisch und fiebert mit. Was Ian McEwan in „Saturday“ mit seinem legendären Squash-Match gelingt, gelingt Pfeifer in vielen Passagen im Ring. Und es ist heimlich doch auch ein Roman, der eine Nähe zum Schach entwickelt, obwohl das Spiel selbst nicht einmal vorkommt. Das ist verständlich, weil nach „Lushins Verteidigung“ von Nabokov kein halbwegs literaturaffiner Schreiber einen Schachroman schreiben will. Lushin verwechselt das Schachbrett mit dem Leben, und Mert verwechselt das Leben mit einem Ring ... und wundert sich, dass die Liebe K.O. geht, sobald der innere Ringrichter die Oberhand über sein real existierendes Leben gewinnt. Gefühle lassen sich nicht so einfach reduzieren wie das Körpergewicht.

 

Neben der zurückliegenden Handlung in Hamburg wechseln die Kapitel und wir folgen Mert durch die Gegenwart in Thailand. Er ist als gealterter Boxer dorthin geflüchtet und lebt von Showkämpfen und der Erinnerung an Nadja. Es zieht sich noch eine weitere Ebene durch den Roman: Der tiefe und differenzierte Einblick in die Familienbiographien verschiedener Boxer, die sich zwar von der Herkunft wenig unterscheiden, aber doch hoch individuell sind. Manche sind frühtalentierte Söhne von Boxtrainern, andere Spätberufene. Manche sind Migranten, andere aus ihrem Viertel seit Generationen niemals herausgekommen. Für alle beginnt der Zugang zum Leben erst, als sie in den Ring steigen. Hier wird es ernst, die Trainer und Gegner werden zu Ersatzvätern und konkurrierenden Freunden, die sich im Schmerz solidarisch verbunden wissen, ohne dazu noch über Gefühle reden zu müssen. Sieg und Niederlage sind eine klare Ordnung dieser männlichen Welt. Es sind Männer, die noch nie im Leben Urlaub gemacht haben, für die aus Hamburger Sicht schon München ein anderer Planet ist, von dem man möglichst schnell und unbeholfen wieder flüchtet. Diese Männer legen sich in der Kabine nach einem verlorenen Kampf ein Handtuch über den Kopf, damit keiner sieht, dass sie heulen. Mit Nadja begegnen wir einer Biografie, die sich aus diesem Milieu heraus entwickelt hat, sie hat studiert und liest Romane – und die Kosten sind eine völlige Fremdheit gegenüber dem brutalen Vater. Als dieser Stirbt ist sie erleichtert.

 

Etwas irritierend ist der Hang des Autors zum Product Placement; warum Nescafé und M&Ms immer wieder so benannt werden, warum es Yahoo sein muss und Nutella, das erschließt sich mir nicht. Es gibt Produkte mit Eigenbotschaft, aber diese hier wirken sie wie ein Werbekanal, während in Bezug auf die Boxklamotten selbst Markennamen fehlen – obwohl sie Kennern sicher etwas mitteilen könnten. Das sollte keinen vom Lesen des hervorragenden Buches abhalten. Es ist ein Roman über Liebesformen: zu Menschen, zu einer der letzten noch archaischen faustkämpferischen Kulturen; zu einer Großstadt, die Heimat ist; und in der Summe auch zum Schreiben und Lesen selbst. Der Roman ist nicht „hardcore“, wie es die Buchreihe verspricht, es geht nicht ums Draufhauen und Draufhalten. David Pfeifer lässt uns eintauchen in eine Welt leidender und kämpfender Männer, die meisten Romanleser werden sich dabei fühlen wie Ethnologen. In den Buchläden trifft man immer noch selten Boxer, es sei denn, sie kaufen Bücher übers Schachspielen. Umwege erhöhen die Ortskenntnis und ich konnte nach dem Beenden sofort mit dem Türsteher einer Kölner Bar sprechen. Es wunderte mich nicht: Klar hat er mal geboxt, er nannte sofort den Verein. Ein Buch über Boxen – klar – würde er auch mal versuchen zu lesen, sonst sei das nicht so seins. Noch etwas anderes schafft der Roman: Ich fühle mich ständig fett, untrainiert und schwach! Bei aller härte: Diese Jungs trainieren und achten auf die Ernährung, und Merts Tag beginnt mit 100 Liegestützen und 100 Situps. Ich möchte lieber nicht preisgeben, wie viele ich schaffe – eine Ehrenrettung wäre nicht drin. Beim nächsten Mal werde ich den Türsteher fragen, wie viele er schafft. Ich habe mehr Bücher, aber er wird stärker sein. Und ich muss dennoch an ihm vorbei.

 

 

BerzPfeif

 

Dr. Frank Berzbach hat einmal Eishockey gespielt und kennt blaue Flecken und brüllende Trainer, aber schon in der Jugend ist er zum Tischtennis gewechselt. Erst das Rennrad hat ihm später wieder beigebracht, was echte Schmerzen sind. Aber auch das steht seit Jahren im Keller. Sein neustes Buch über die Kunst ein kreatives Leben zu führen ist im Hermann Schmidt Verlag erschienen und liegt nach 10 Monaten in der 4. Auflage vor. Er hätte Angst, in einen Boxring zu steigen und beherrscht nicht einmal Lushins Verteidigung. Gut, dass es Romane gibt."

 

 

Mehr Gelesenes von Frank Berzbach gibt es in seinem Heilig/ Profan. Lesetagebuch.

Frank Berzbach über David Wagners Mauer Park

Posted on: Februar 1st, 2014 by Frithjof Klepp No Comments

 

WagnerEs scheint sich zu einer sehr schönen Tradition zu entwickeln, dass Frank Berzbach seine Gedanken zu gelesenen Büchern hier mit uns teilt. Diesmal: David Wagners Mauer Park - im vergangenen Herbst im Verbrecher Verlag erschienen. Wir freuen uns sehr auf David Wagners Lesung bei uns am 13.02.2014. Fühlen Sie sich herzlich eingeladen, und lassen Sie sich mit Frank Berzbach gern schon einmal darauf einstimmen.

 

 

MAUER PARK

Von Frank Berzbach

DavidWagner

„Das vorliegende Buch will herausfinden, was geschieht, wenn man geschichtliche Vorgänge immer auch als räumlich und örtliche denkt und beschreibt“, lesen wir in den großartigen wissenschaftlichen Essays von Karl Schlögel. „Im Raum lesen wir die Zeit“, so ist der Sammelband programmatisch benannt. Und das neue kleine Büchlein von David Wagner folgt eben dieser Mission; nur in ganz anderer Manier. Er ist nicht als Wissenschaftler in den Archiven und Texten der Welt unterwegs, sondern geht wieder einmal durch Berlin. Und Geschichte entsteht nicht im Blick über die Jahrtausende, sondern in einem Mikrokosmos: Mauer Park enthält die Stadterkundungen, die der Autor zwischen 1998 und 2001 schrieb. Sie sind von der Gegenwart des heutigen Berlin aus betrachtet „alt“, aber die meisten Leser werden sich deutlich an diese Jahre erinnern. Diese Vergangenheit ist nicht weltgeschichtlich relevant, aber sie ist biographisch für uns Leser auch keine kurze Strecke. Wagner besucht Orte, die er als Flaneur findet. Er streift herum, er schreibt über die Bars, Restaurants und Clubs, in die er geht und die Größe von Berlin wird in der Zusammenschau der Texte deutlich – die Orte bleiben meist unverbunden, sie sind alle „Berlin“, aber korrespondieren nicht miteinander. Der Alltag wird für David Wagner zum poetischen Prinzip; jeder kann über die Momente der Weltgeschichte schreiben, er hingegen steht mit seinem Kind verloren auf dem neuen Potsdamer Platz und erinnert sich daran, dass Curt Bois im Film von Wenders verloren im Bild steht und diesen Platz nicht mehr findet. Lesenswert ist das Buch aber vor allem wegen der Orte, die keinen Eingang finden werden in die Geschichtsbücher. Leere Restaurants, die es nicht mehr gibt. Orte, die nicht so bleiben werden, Orte, die nicht mehr so sind, wie vor 10 Jahren. Er besucht Räume und die Zeit scheint verloren.

 

Der Test für diese Art literarischen Stadtführern muss sein: Würde ich diese Orte selbst gern besuchen? Ja, ich möchte sie besuchen. Ich werde mir das Bändchen mit nehmen und umherlaufen. Über Flaneure ist viel geschrieben worden und der Begriff schillert, aber wer kann überhaupt noch flanieren? David Wagner kann es und er wird damit hoffentlich nicht aufhören; diese kleine Form enthält immer wieder wunderbare Beobachtungen und ich kam mir vor wie beim historisch-örtlichen Perlentauchen. Die Ironie tanzt immer mit in diesen Texten, wird aber nie zum Zynismus und auch nicht zur Klage. Er ist nicht traurig, dass es manches nicht mehr gibt, weil es eben diese Zeit noch gibt, solange jemand darüber schreibt. Sein Büchlein ist daher erneut ein Archiv. Der historische Reiz in diesen räumlichen Erkundungen entsteht durch einen schönen Trick: Wagner hat seine älteren Stadtrundgänge aus heutiger Sicht kommentiert, er hat die Orte erneut besucht. Er macht damit etwas, das filmisch inzwischen mit Tilda Swinton verbunden ist. In Cynthia Beatts Filmen „Cycling the frame“ und „The invisible frame“ radelt die mit dem Fahrrad entlang der (ehemaligen) Berliner Mauer, einmal 1988 und dann wieder 2009 – diese beiden Filme sind viel zu wenig bekannt geworden! Ein solcher erneuter Besuch birgt, ob filmisch oder literarisch, das Risiko der Melancholie, aber Wagner hat neben seiner verblassenden Erinnerung immer auch seine Texte, in denen er nachlesen kann. Und ihm ist der verbreitete Gedächtnisirrtum fremd, früher sei alles besser gewesen. Das heißt nicht, dass er übermäßig Hoffnung hätte oder seine erneuten Besuche zu dem Resultat kämen, irgend etwas sei besser geworden. Es wird anders, das interessiert ihn, ob besser oder schlechter, diese Bewertung widerspricht der Haltung des postmodernen Flaneurs.

 

Es ist die reine Lesefreude, wenn Wagner von einem Ort erzählt, den er mit einem Blogger zusammen besucht, der schon während er unterwegs ist, live davon berichtet. Diese Ebene der Veränderung findet nicht nur im Raum, sondern auch im virtuellen Raum statt – „Die Ironie tanzt immer mit, daneben tanzt die Erleichterung, bis in die große Stadt und dazu auch noch, zum Glück, gerade an diesen Ort gefunden zu haben.“ Es hat sich in den letzten Jahren viel mehr verändert, als Architektur und Musik: heute ist alles Retro und damals war es second hand, damals las man und hing herum, heute schauen „sechs von sechzehn Gästen auf Notebooks; vier der sechs Notebooks sind MacBooks. Eine Person, es muss ein Snob sein, liest in einem echten Buch, einem Buch aus Papier“. Früher stand und saß man herum und sah den Szenemenschen ihre „Laufstegunsicherheit“ an, heute schauen alle auf ein Smartphone, egal wo, und wenn acht von zehn iPhones sind, weiß man, wo man ist; auch ohne GPS.

 

Mit dieser leichten Aufmerksamkeit, die sich nie in Abstraktion oder historische Belehrung flüchtet, geht David Wagner erneut über die Schönhauser Straße und die Friedrichstraße, isst Kuchen und trifft einen Minister, der sich als Kinokenner gibt, geht in die Staatsbibliothek oder in den Mauerpark. Der abschließende Essay ist eigens für den Band geschrieben, und dennoch fehlt nicht der Moment, in dem er zurück blickt. Die letzte Seite enthält eine Fußnote mit dem Hinweis „Wunder geschehen ...“, fatalistisch wird Wagner also nicht, nicht einmal im manchmal kalten und harten Berlin. Es ist zu hoffen, dass David Wagner neben den großartigen Romanen immer die Lust und Zeit bleibt, durch Berlin (oder andere Städte) zu streifen, ob mit oder ohne Kind, ob als journalistische Gelegenheitsarbeit oder als Recherche für einen Roman. Gute Literatur existiert nicht ohne regionale Verankerung – ob Norbert Scheuers Eifel oder Peter Kurzecks Frankfurt, wir sind in guten Romanen nie „irgendwo“; jede Metropole, aber auch jede Provinz hat ihre spezifische Literatur. Wer nicht weiß, wo er ist, schwebt nur über dem Boden. Wagner steht mit beiden Beinen in Berlin, sein neues Buch über die alte und neue Stadt macht große Lust ihm zu folgen – in Raum und Zeit. Ich werde das tun, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und beginnen wird meine Lektüre dann erneut mit der „Netzspinne“, seinem Essay über das U-Bahn-Netz ... irgendwie muss ich ja da hinkommen, wo auch Wagner war. Und sein flanierender Blick lädt dazu ein, hinzuschauen und eigene Orte zu finden, die Erdung bringen. Ich werde vielleicht statt dem Smartphone eine alte Karte mitnehmen; im Band von Karl Schlögel heißt gleich ein ganzes Kapitel „Kartenlesen“ und vielleicht findet ich ein Antiquariat mit alten Karten oder Reiseführern, wie sie Uwe Johnson für seine Romane verwendet. Auch der schrieb schon über die „Netzspinne“, von der Mauer damals unterbrochen.

 

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Dr. Frank Berzbach, geb. 1971, unterrichtet Psychologie und Kulturpädagogik in Köln. Sein letztes Buch denkt über unsere Form Berzbachzu arbeiten und zu leben nach. „Die Kunst ein kreatives Leben zu führen“, Hermann Schmidt Verlag.

Mehr Gelesenes von Frank Berzbach gibt es in seinem Heilig/ Profan. Lesetagebuch.

Frank Berzbach über Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur

Posted on: Januar 6th, 2014 by Frithjof Klepp 1 Comment

 

Herrndorf

Wir freuen uns sehr, dass Frank Berzbach Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf rezensiert hat und fühlen uns wirklich geehrt, Ihnen hier exklusiv seine Gedanken zu diesem Buch präsentieren zu dürfen.

 

 

 

 

 

ARBEIT UND STRUKTUR

Von Frank Berzbach

Berzbach

"Parallel zur Lektüre mancher Bücher möchte ich gern einen Blog schreiben. Für die knapp 450 Seiten von Wolfgang Herrndorfs zuerst digitalem und jetzt in Buchform erschienenem Tagebuch habe ich etwa zwei Wochen gebraucht. Und zwei Wochen hätte ich jeden Tag darüber schreiben können. Herrndorfs Aufzeichnungen beginnen mit der Diagnose eines Gehirntumors im März 2010 und enden mit seinem Freitod im August 2013. Ich gebe zu, dass mich am Lesen die Identifikation packt, ich kaufe selten Bücher, um mich abstrakten Textsystemen zu widmen und ich glaube auch, etwas altmodisch, dass Autoren und Menschen existieren. Herrndorf dokumentiert seinen Sterbensprozess, das ist mehr als ein Verweissystem. Es ist die Erkundung einer Grenzsituation. Gerade das Tagebuch ist eine Gattung, die einen unmittelbaren Einblick in die alltäglichen Kämpfe der Verfasser gibt; wir können durch es in andere Zeiten eintauchen (Samuel Pepys), wir können es am Bett stehen haben (Franz Kafka oder Thomas Mann), Sylvia Plaths „Glasglocke“ berühren, mit Klemperer die Nazi-Zeit verstehen oder eben in den Krebstod folgen, wie bei Christoph Schlingensief oder jetzt Wolfang Herrndorf. Es ist durch die Drastik der Lebenssituation jedenfalls eins der Bücher, die man lesen wollen muss und der Urlaub ist vielleicht nicht gerade die beste Zeit dafür.

Ich beiße mich sofort an Passagen fest, an denen ich mir sicher bin: ich lese nicht weiter! Ein ähnliches Gefühl habe ich manchmal im Kino, wenn ich mich Lars von Trier oder Michael Haneke ausliefere. Herrndorf schreibt, nachdem er „Melancholia“ gesehen hat: „... zehn von zehn Punkten. Und noch einen Zusatzpunkt fürs Happy End: groß und grün uns strahlend. So ist das, genau so. Noch nie so erlebte Übereinstimmung zwischen filmischer und subjektiver Realität. Urteil deswegen möglicherweise getrübt.“ „Melancholia“ ist der wohl beste Film über Depressionen überhaupt, aber im Text von Herrndorf spielt die Psychologie überhaupt gar keine Rolle, sie ist auffällig abwesend und diese Lücke schafft Freiräume für die eignen Projektionen. Lesen ist ein aktiver Vorgang. „Mit das Unangenehmste an der Krankheit: dass man sich nicht krank fühlt. Wenn ich schlapp bin oder leichte Kopfschmerzen habe, ist es besser.“ Das Wissen spielt in der existenziellen Situation eine große Rolle, er googelt Studie auf Studie, aber seine Lebenserwartung bleibt gering, er schreibt an gegen seine verstreichende Lebenszeit. Wir verfolgen das Entstehen und Lektorieren von „Tschick“, das ihn am Ende seines Lebens reich machen wird. Und kaum ist das Geld da, hat es keine Bedeutung mehr; was will man mit Geld, wenn es keine Zukunft mehr gibt? Die Diagnose wirft aus der Bahn, einer der vielen Ärzte, sie sind durchnummeriert, empfiehlt ihm „Arbeit und Struktur“. Beides trägt ihn, beides macht ihn produktiv. Statt ewig an einzelnen Sätzen zu schrauben entstehen nun zwei Romane. Herrndorf arbeitet wie verrückt. Zugleich dokumentiert er einen atheistischen, hoffnungslosen, extrem realitätsbezogenen Blick auf die Welt und sein Leben: er liest nur noch, was ihm gefällt, liebt das Kino, geht Schwimmen und Fußballspielen, wenn er nicht im Kernspintomographen liegt. Ein Leben zwischen der Lärmbelästigung des unerbittlichen Nachbarn, dem Essen in der naheliegenden Mensa, der Zeit mit den engsten Freunden, seiner qualvollen Odyssee von Hirn-OPs, Chemotherapien, Bestrahlungen und Strahlungsschäden, zugelassenen und nicht zugelassenen Medikamenten, die Nebenwirkungen haben, die schlimmer als jede Krankheit zu sein scheinen. Er wird von einem Auto angefahren und strazt auf den Teer, wieder Krankenhaus, aber zur Abwechslung einmal nicht die Neurologie. Die Fahrerin des Wagens zeigt ihn an. Es gibt keinen Ton der Klage in diesem Buch – es ist bis zum Ende kaum zu fassen. Klage doch endlich einmal, du hast doch allen Grund! Nein, tut er nicht.

Aber auch ohne Hoffnung lässt er sich das Heft nicht aus der Hand nehmen. „Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße. Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen. Das ist der ganze Trick.“. Er installiert parallel zu dieser Entscheidung eine Pistole in seinem Kopf: „Diesmal reicht eine einfache Willensentscheidung nicht aus, und ich muss eine sehr plastisch vorgestellte Walter-PKK in meinem Kopf installieren, um jeden unangenehm aufkommenden Gedanken zu erschießen: Peng, peng. Zwei Kugeln, und ich denke an etwas anderes. (...) Mit immer größerer Zuverlässigkeit ballert es den Todesgedanken spurlos weg.“ Man ist froh um diesen Trick, um allerdings später zu erfahren, dass die Methode es schafft „eine halbe Stunde oder länger“ nicht an den Tod zu denken. Schwer machen es ihm vor allem die, die es gut meinen, aber die ihn vor allem als Todkranken sehen. Er ist die ganzen drei Sterbensjahre damit beschäftigt, unerwünschte Heiler, mitfühlende alte Freunde, sentimentale Briefschreiber zu vertreiben, aber sie lassen ihn nicht in Ruhe. Der edle Wunsch zu helfen enthält etwas herablassendes, wenn keine Hilfe mehr hilft. Eine alte „Freundin“ findet seine neue Adresse heraus, klingelt gegen seinen Wunsch unangemeldet, ignoriert alle seine Bitten zu endlich zu gehen und sitzt schließlich wartend unten im Auto und schreibt SMS – ich bekomme Mordlust auf nicht wenigen Seiten des Buches, warum kann man ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Weil es die Ohnmacht noch verstärkt. Aber um wen geht es, um ihn oder um einen selbst? Das Personal, dass Herrndorf umgibt – vor allem die Besatzung der Zentralen Intelligenz Agentur – sind im alltäglichen Umgang alles andere als zimperlich. Kathrin Passig, die viele seiner Text lektoriert, findet immer wieder „alles Scheiße“ und die Unerbittlichkeit, ihre krassen Witze auch mit dem Tod, gehen Herrndorf durchaus nah. Aber sie erzeugen kein Leiden, das sich in der Krankheit oder Mitleid begründet. Warum sollte ein Text eines Todkranken besser sein als der eines anderen Menschen?

Plötzlich komme ich selbst auf die Idee in mein Tagebuch zu schauen, unter dem Datum, das ich gerade bei Herrndorf gelesen habe. Ich klage eine ganze Seite über mein fürchterliches Leben, eigentlich über alles – und mir wird schlecht angesichts der Tatsache, welchen eingebildeten Leiden ich mich widmen kann, während am gleichen Tag Wolfgang Herrndorf in Berlin vor Freude „auf die Donuts heult“, weil er nach der gerade neueste Diagnose seine Lebenszeit nicht ganz so schnell abzulaufen scheint, was bedeutet, vielleicht doch noch vier Monate? Herrndorf stand, während ich klage, jeden Tag früher auf, kurz nach vier, um vom Balkon seiner neuen Wohnung das Morgenrot zu sehen. Es könnte nämlich der letzte Morgen für ihn sein.

Herrndorf war kein Bildungsbürgerkind, das zwischen dem Flügel im Salon und verglastem Bücherschrank mit den (ungelesenen) Klassikergesamtausgaben aufwuchs. Er hat sich die Welt selbst erlesen. Eine Freude, ihm zu folgen: Nabokov, Stendhal, Thomas Mann, Dostojewski gehören zu seinen Leitsternen, aber auch hier immer wieder Reiberei und sporadisches Entsetzen. Ein ganzer Schwung an Autoren wird kommentiert, persönlich und radikal, das Leiden an Martin Walsers Interviews, der Blick auf Uwe Tellkamp (im Hinblick auf Thomas Mann), Jeffrey Eugenides; sein Alptraum mit Juli Zeh verglichen zu werden, sein Bekenntnis zum „Fänger im Roggen“ oder früher Hesse-Lektüre, sein Unverständnis gegenwärtiger Literaturkritik oder der „verrückt gewordene“ Martin Mosebach. Herrndorfs Aufzeichnungen laufen auf die Entscheidung zu, dass er keine Bücher mehr geschenkt haben oder kaufen will. „Ich lerne nichts Neues mehr. Weil ich nicht will. Es ist, wie mir Bücher zu schenken: Erinnert mich an den Tod. Neues braucht man für später, Bücher liest man in der Zukunft. Das Wort hat für mich keine Bedeutung. Ich kann den heutigen Abend in Gedanken berühren, dahinter ist nichts. (...) Die Zukunft ist abgeschafft, ich plane nichts, ich hoffe nichts, ich freue mich auf nichts außer den heutigen Tag. Den größten Teil der Zeit habe ich das Gefühl tot zu sein.“ Aber eigentlich ist es noch schlimmer: er kämpft gegen Störungen der Wahrnehmung, gegen Sprachstörung und Sprachverlust, verliert über epileptischen und Panik-Anfällen die Orientierung, findet seinen Weg nicht. Er versucht seine Hausschuhe selbst anzuziehen und schafft es erst nicht. Er kann den linken vom rechten Schuh nicht mehr unterscheiden und überlegt, ein L und ein R darauf zu schreiben.

Herrndorf lebt weiter, so gut er kann. Er wird weder gläubig, noch abergläubisch, er hat keine Religion und nicht einmal eine Ersatzreligion. Das macht das Buch einzigartig, er sah vorher keinen Sinn und das ändert sich mit der Diagnose nicht. Atheismus entscheidet sich auf den letzten Metern, schreibt er, aber er bleibt wie er ist. Psychologie, Ideologie und Religion sind ihm fremd – gleich ohne alle drei schafft das leider kaum ein gesunder Mensch. Die Zeit verkürzt sich, der Kampf um Selbstverständliches nimmt zu, die Angst nimmt zu, er beobachtet und dokumentiert diesen Vorgang. Wir blicken auf körperlichen und geistigen Verfall, bei laufender Textproduktion. „Linke Hand findet ihren Platz auf der Tastatur nicht. Pappschablone auf den Rechner geklebt, um dem Handballen Halt zu geben, vergeblich. Dann Hand am Tisch festgeklebt, ohne das es hilft. Linker Fuß rutscht vom Fahrradpedal. Ausflug an Tegeler See. C. verbietet Rausschwimmen. Gewitter.“ Wie macht man weiter? „Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt. Das Gewicht, das feine Holz, das brünierte Metall. Mit dem MacBook zusammen der schönste Gegenstand, den ich in meinem Leben besessen habe.“

Herrndorf befällt oft die Angst, dass eine Verschlechterung seines Zustandes ihn unfähig macht, sich selbst zu töten. Diese Angst ist viel größer als die vor dem Tod selbst, die sich im Laufe der Zeit für ihn immer mehr verliert. Und egal wie fruchtbar die Einträge werden, wie lakonisch oder direkt, das Gefühl, dass er sich tatsächlich durch kein Leiden das Heft aus der Hand hat nehmen lassen, springt auf den Leser über wie die unweigerlichen Ab- und Aufwärtsvergleiche mit dem Autor, der Lektüre und Bewertung alltäglicher Dinge. Das ist ein Grund dieses Buch zu lesen: die Oberhand behalten, egal unter welchen Umständen. Nicht verrückt werden, nicht flüchten. Das Buch hat mich gequält und mehr berührt als viele vorher. Vielleicht wüsste ich gar keins, das mich diesen Gefühlen ausgesetzt hat. Es ist eine existenzielle Bereicherung. „Bilanz eines Jahres: Hirn-OP, zweimal Klapse, Strahlen, Temodal, 1,75 Romane, erster großer Urlaub, viele Freunde, viel geschwommen, kaum gelesen. Ein Jahr in der Hölle, aber auch ein tolles Jahr. Im Schnitt kaum glücklicher oder unglücklicher als vor der Diagnose, nur die Ausschläge noch beiden Seiten größer. Insgesamt vielleicht sogar in bisschen glücklicher als früher, weil ich so lebe, wie ich immer hätte leben sollen. Und es nie getan habe, außer vielleicht als Kind.“ Das Buch von Herrndorf enthält solche Sätze, eine Attacke auf den alltäglichen Befindlichkeitsschrott, der uns und anderen den Tag verdirbt. Das Buch ist eine Aufforderung klarsichtig und selbstbestimmt zu Leben, ohne anderen auf die Nerven zu gehen."

 

Berzbach

Dr. Frank Berzbach, geb. 1971, ist Hochschuldozent in Köln und Buchautor. Nach "Kreativität aushalten" verdanken wir ihm auch eines unserer absoluten Lieblingsbücher 2013: "Die Kunst ein kreatives Leben zu führen", beide erschienen im Verlag Hermann Schmidt Mainz.

Wer noch mehr von ihm lesen will: dosierte kurzzeitliebe

Kunst

 

Ein Gastbeitrag von René Kohl

»Wenn man klein ist, kann jederzeit jemand Größeres kommen und einem alles wegnehmen. Wir müssen für Chancengleichheit hinsichtlich der Kaufkraft mit den etablierten Buchhändlern sorgen.« Jeff Bezos 1996

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Brad Stone, Wirtschaftsjournalist der New York Times und Bloomberg Businessweek, hat mit Der Allesverkäufer ein außergewöhnlich gut recherchiertes Buch abgeliefert, das dem gewöhnlich äußerst zugeknöpften Amazon-Imperium und seinem kommunikationsgeschulten CEO reichlich oft hinter die Fassade schaut.

Ich habe das Buch vor allem mit Blick auf die jüngere Geschichte, Gegenwart und mögliche Zukunft der Buchbranche gelesen und will mich hier auf diesen Bereich fokussieren.

Bezos erkannte Mitte der 90er Jahre, dass sich das Internet dank der Erfindung des Browsers eines explosiven Nutzerwachstums erfreute, und dachte früh über einen everything store nach. Warum (zunächst) Bücher? Nun, man konnte unmöglich mit allen Artikeln zugleich beginnen, und Bücher waren perfekt für den Start: »Der Käufer wußte […] genau, was er bekommen würde.« Es gab mit Ingram und Baker & Taylor zwei maßgebliche Barsortimente, also Zwischenhändler, man mußte daher nicht alle Verlage einzeln abklappern, und das weltweite Titelangebot war größer, als jeder stationäre Laden es hätte abbilden können – wer dies online konnte, hatte also in punkto Titelfülle schon mal die Nase vorne. Und praktischerweise hatte man auf diesen Titelkatalog direkten Zugriff und bekam ihn von R.R. Bowker, der Firma, die für die ISBN-Nummern in den USA zuständig ist, zur Verfügung gestellt (in Deutschland fand man ähnliche Bedingungen vor – Barsortimente, die gerne die Ware lieferten, und das VLB, das äußerst günstig die Katalogdaten für 1 Mio Titel lieferte – ein ziemlich gemachtes Nest).

Am 16.7.1995 ging die Webseite Amazon.com offiziell online; und schon in der ersten Woche gingen Bestellungen über 12.000 Dollars ein – ein kleines Indiz dafür, wie sehnsüchtig in dem großen Land ein Versandservice wie der von Amazon erwartet wurde. Bereitet war der Boden (auch hier gibt es Analogien zu Deutschland) auch durch eine vorangegangene Expansion der großen Buchkaufhaus-Ketten Barnes & Noble und Borders (seit 2011 insolvent) – die u.a den Marktanteil der unabhängigen Buchhandlungen von 1991 bis 1997 von 33 auf 17 Prozent fallen ließen.

Die ersten Jahre bei Amazon wurden schon häufiger erzählt: Legendäre Weihnachtsgeschäfte, bei denen die ganze Belegschaft vom Lagerarbeiter bis zum Chef anpacken mußte, wohlmeinende Presse- und TV-Berichte, die das Unternehmen häufig über die Kapazitätsgrenzen brachten – und bei allem ein brutales Tempo, das Bezos auf seinem Erorberungsfeldzum im eCommerce vorlegte. Er hatte eine ziemlich klare Vorstellung des Darwinismus, der den Umgang unterschiedlich starker Unternehmen miteinander bestimmte (in Deutschland diskutierte nicht nur die Buchbranche die Verdrängungsmechanismen, mit denen etwa Thalia sich Platz für die Expansion verschaffte) - eine Erkenntnis, die ihm als kleinem Unternehmer genauso klar war wie später als Großkonzernchef, der von eben diesen Größenvorteilen Gebrauch machen sollte

 

Es zeigte sich allerdings, dass die Großen, wie etwa die Riggio-Brüder, die Chefs von Barnes & Noble, nur halbherzig in das Online-Geschehen eingriffen: »Die Riggios verloren nur ungern Geld mit einem letztlich relativ kleinen Teil ihres Geschäfts und hatten nicht die Absicht, ihre tüchtigsten Mitarbeiter auf ein Unterfangen anzusetzen, das am Ende nur Umsatz von ihren lukrativen Ladengeschäften abzog.«

Genau dieses Innovators Dilemma beschrieb Clayton Christensen in einem von Bezoz’ Lieblingsbüchern 1997. Bezoz selbst zog in Kenntnis dessen, als das Thema eBook auf die Agenda kam, für sein Unternehmen einen anderen Schluss und beauftragte einen seiner besten Männer folgendermaßen: »Ich möchte, dass Sie vorgehen, als wollten Sie den ganzen traditionellen Buchhandel arbeitslos machen«, womit er nicht nur das stationäre Sortiment, sondern durchaus auch die Abteilungen von Amazon, die mit dem Vertrieb physischer Bücher beschäftigt waren, einbezog.

Nach einem kühnen Start geriet Amazon, wie viele andere dotcoms um die Jahrtausendwende auch, ins Straucheln. Die auf Langfrist angelegte Strategie von Bezos kollidierte mit der nun eintretenden Kurzfrist-Analyse, der sich die ganzen Start-Ups in der Ernüchterung nach 9/11 ausgesetzt sahen, und Bezos’ offenbar unerschöpflicher Optimimismus geriet fast an an eine Grenze, für deren Beschreibung sich Brad Stone im Buch viel Zeit läßt: Ein Lehmann Brothers Analyst namens Ravi Suria veröffentlichte eine Reihe von sehr kritischen Bewertungen der Wirtschaftlichkeit Amazon und schaffte es offenbar fast im Alleingang, die Aktie von Amazon in den Keller zu schicken – ein interessantes Detail, das die Verwundbarkeit des Unternehmens auf Grund kritischer öffentlicher Meinung darlegte (mich erinnerte die Passage an das Frühjahr dieses Jahres in Deutschland, als ein TV-Bericht des HR Amazon mindestens einen Monat lang einen ordentlichen Prozentsatz des Umsatzes gekostet haben wird).

 

Aber Amazon überlebte diese Zeit, und Bezos konnte sich fast sicher sein, dass, wenn sein Unternehmen durchkam, es gestärkt aus der Krise hervorgehen würde. In diesen Monaten erarbeitete man bei Amazon dann das »Konzept des Schwungrades«, mit dem man die Zukunft angehen wollte: »Niedrige Preise bringen mehr Kundenbesuche. Mehr Kunden erhöhen das Umsatzvolumen und ziehen mehr (Provision zahlende) Fremdanbieter an. Das gestattet es Amazon, mehr aus seine Fixkosten – wie etwa den Logistikzentren und den zum Betrieb der Website nötigen Servern – herauszuholen, Diese verbesserte Effizienz gestattet eine weitere Senkung der Preise.« Hat man diese Mechanik erst einmal erkannt, so kann man künftige potentielle Schritte darauf hin prüfen, ob sie Teil dieses Schwungrades sein können, um sie dann einzubauen und andernfalls zu verwerfen.

 

Tiefpreise sind also ein zentrales Element in der Amazon-Geschäftsstrategie. Falls noch irgendjemand in Deutschland Zweifel hegt, wieso die Buchpreisbindung dem stationären Sortiment dient, findet er in der brutalen Anwendung der Preisdumping-Strategie – wenn es sein muss, Verkaufspreise unter Einkaufspreisen – viele Beispiele in diesem Buch.

 

Tiefpreise kann derjenige am besten gewähren, der sein komplettes Geschäft der Kostenanalyse unterwirft. Und hier scheint Bezos ein Meister zu sein: Das Buch zeigt eine große Palette an Elementen in der ganzen Prozesskette auf, deren Effizienz von Bezos und seinen Leuten hinterfragt wird; und oft kommen sie bei Amazon zu dem Ergebnis, dass es nicht reicht, Produkte von der Stange einzusetzen, sondern dass man sich seine Lösungen selbst auf den Leib schneidern muss. So bauen sie am Ende die komplette Software für ihr Fulfillment selbst – und bekommen so dafür den perfekten Schlüssel geliefert, um für jede Produktpalettenerweiterung und den sehr elastischen Marketplace gewappnet zu sein.

 

Wenn man groß genug ist, kann man auch an den Lieferanten-Preisen drehen, und Bezos weiß genau, wann er groß genug ist. Zahlreiche Beispiele im Buch zeigen, wie er die Verlage, die ihn offensichtlich in mehrerlei Hinsicht unterschätzt haben, mit Konditionenforderungen quält, sobald er am Drücker ist. Stone beschreibt im Buch das Gazellen-Projekt: »Im Rahmen des Gazellen-Projektes teile Blakes Gruppe [Lyn Blake war für die Verlagskontakte zuständig] Verleger in Kategorien nach ihrer Abhängigkeit von Amazon ein und fing bei den Verhandlungen mit den verwundbarsten Verlagen an [...] wie ein Gepard eine kranke Gazelle verfolgt.«

Randy Miller, Nachfolger von Blake, »gab selbst zu, dass er ein geradezu sadistisches Vergnügen dabei empfand, Verlegern günstigere Konditionen abzupressen.« Er setzte bei den europäischem Verlegern mit massivem Druck bessere Konditionen durch. Das Prinzip der Stärke scheint sich, wenn ich richtig unterrichtet bin, bis heute nicht geändert zu haben – viele deutsche Verlagskollegen erzählen unter der Hand von dem massivem Druck, dem sie Jahr für Jahr ausgesetzt sind.

Während die Verlage also im Vertrieb mit physischen Büchern durchaus hätten gewarnt sein können, was die Preispolitik und Ausnutzung von Marktmacht anging, wiederholte Amazon seine Verhandlungen mit erneut erstaunlich kurzsichtigen Verlagen zur Einrichtung des Kindle-Shops.

 

Amazon spielte seine Marktmacht wiederum aus, um an möglichst viele eBooks zu kommen, ließ die Verlage über relevante Aspekte des Geschäfts, vor allem seine (Niedrig-)Preisvorstellungen im Unklaren und sorgte mit dem Startschuss des eBook-Geschäftes bereits für ein extrem ungleich verteiltes Kräfteverhältnis, das sich das Unternehmen dann auch noch in dem mehrjährigen juristischen Streit um das Agency Modell juristisch absicherte, indem es allen Formen einer vermeintlichen oder tatsächlichen Absprache unter den Verlegern im Verbund mit Amazons Mitbewerber, Apple, den Riegel vorschieben ließ.

Einer der Executives eines großen Verlagshauses wird von Stone so zitiert: »Es war ein weiterer Nagel in den Sarg, der sich über uns schloss, ohne dass es jemand merkte, obwohl kein Tag verging, an dem wir uns nicht darüber unterhalten hätten.«

 

Während die Buchbranche seit ein paar Jahren an den Konsequenzen der Digitalisierung und der starken Vorherrschaft Amazons im Bereich des eBook-Vertriebs zu knabbern hat, setzt Amazon bereits auf das nächste Geschäftsfeld: Mit Amazon AWS steigt Amazon in großem Stile in das Cloud Computing ein – und nutzt auch hier den Umstand, zunächst zum Eigenbedarf Technologie entwickelt zu haben, die man nun auch für Dritte anbieten kann (eine umfangreiche Analyse zum AWS-Projekt gibt es vom FAZ-Wirtschaftsjournalisten Carsten Knop: Amazon kennt Dich schon).

 

Brad Stone beendet sein Buch mit einigen fragenden Prognosen – die er für Amazon sämtlich mit »Ja« beantwortet:
Kommt Same-Day-Delivery? In eigenen Fahrzeugen? Die Lebensmittellieferung? Amazons Mobiltelefon?Weltweit?
Jeweils ein klares »Ja« von Stone – aber auch zur Frage, ob sich die Kartellbehörden mit Amazons Marktmacht befassen werden.

 

Dringender denn je, so scheint es, muß eine Chinese Wall zwischen die unterschiedlichen Geschäftsfelder von Amazon gezogen werden. Zu sichtbar wird die negative Ausnutzung der Marktmacht und -kenntnis auf zunächst unterschiedlichen Geschäftsfeldern von Amazon, und die präzise geschilderten Beispiele dieses Machtmißbrauchs durch Stone könnten das Thema schneller auf die Agenda der Kartellbehörden bringen.

Bezos selbst scheint in seinem Optimismus weiterhin unerschütterlich. Nur eines noch, so scheint es, könnte die Entwicklung von Amazon wirklich beeinflussen: Eine veränderte öffentliche Meinung.

Stone nennt in seinem Buch ein wohl relativ junges Bezos-Memo mit dem Titel »amazon.love«. Bezos fragt sich und seine Mitarbeiter darin, warum manche Unternehmen gemocht werden, als cool gelten, und andere nicht. Offenbar sieht er im Coolnessfaktor einen relevanten Erfolgsschlüssel, und offenbar ist er sich nicht ganz sicher, ob es Amazon mittelfristig gelingt, zu den coolen Unternehmen zu gehören.

Wal-Mart zum Beispiel, so sieht er es, »habe es mit einer Fülle sympathischer Konkurrenten in Form kleiner Läden im Ort zu tun, die im Wettbewerb zum Unternehmen stehen« und gilt eher als uncooler Riese.

»Wir haben nicht viele große Vorteile«, wird Jeff Bezos im Gespräch mit dem Verleger Tim O’Reilly zitiert. »Also müssen wir einen Strick aus vielen kleinen Vorteilen drehen.«

 

Jeff Bezos wird in dem Buch nicht mit Samthandschuhen angefaßt. Seinen Umgang mit den Kollegen und mit seinen Geschäftspartnern empfehle ich nicht zur Nachahmung. Von seinem unermüdlichen Optimierungsdrang, von seiner Neugierde und seinem Optimismus jedoch können wir sicherlich vieles lernen – daher empfehle ich dieses Buch jeder Kollegin und jedem Kollegen sehr zur Lektüre und zur Ermunterung, selbst einen Strick aus den vielen kleinen Vorteilen des stationären Handels zu drehen.