ocelot Phantastik

Katherine Dunn: Binewskis

Posted on: Mai 15th, 2014 by Ralf Diesel No Comments

 

Die Binewskis sind eine Familie. Eine Zirkusfamilie. Crystal Lil, die Mama; Al, der vergötterte entgeisterte Papa; Olympia, die etwas außen vor ist und die Geschichte erzählt; Arty, der Unartige; Elly und Iphy, die musischen Zwillingsschwestern, die sich nicht voneinander trennen können, auch wenn sie selten einer Meinung sind; und Chick, der niemandem etwas zuleide tun kann und dennoch Bewegung in die Sache bringt. Und wie in jeder Zirkusfamilie bringt jeder seine ganz speziellen Fähigkeiten ein in die Show. Manege frei für den Rand der Gesellschaft.

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© Joe Coleman - A Mother and Two Children

Denn Lil und Al haben ein Experiment. Das Überleben des ungewöhnlichen Wanderzirkus', in dem auch schon mal Hühnern der Kopf abgebissen wird, muss gesichert werden. Als der Großvater stirbt und Al die Urne mit der Asche seines Vaters als Kühlerfigur auf die Motorhaube ihres Autos montiert, steht das Familienunternehmen vor einer schwerwiegenden Entscheidung: aufgeben oder härter ran. Härter ran! Lil lässt sich von ihrem Mann Drogencocktails verschiedenster Mischung, die sie von einer Abhängigkeit in die nächste führen, und radioaktive Strahlen verpassen – während sie schwanger ist. Aus den Abhängigkeiten kommt sie heraus, sie weiß ja wofür sie es tut. Die nächste Generation ist vollendet deform. Eine Attraktion, einzigartig. Die Zwillingsschwestern teilen sich einen Körper, Arty ist der Aquaman, statt Armen hat er Flossen, Olympia ist ein verwachsener Albino-Gnom, und Chick schließlich ist normal, soll deshalb nach seiner Geburt ausgesetzt werden, wobei entdeckt wird, dass er mehr als normal ist, paranormal nämlich, er bewegt Objekte mit mentaler Kraft besser als mit seinen Händen. Die Misslungenen, die nicht lebensfähig waren, werden in Glas in einem Extrawaggon ausgestellt, eine Sonderattraktion, für die gesondert Eintritt verlangt wird.

Chick, der Kleinste, kann keiner Fliege etwas zuleide tun und isst vegetarisch, da aus Fleisch das tote Tier zu ihm spricht. Seine Fähigkeiten werden genutzt, um Geld aus Börsen zu entwenden und Spielkarten, Würfel und Roulette-Kugeln zu manipulieren. Einträglich, wenn auch nur vorübergehend. In Arty versammelt sich Böses, vor allem Neid. Sein Ehrgeiz treibt ihn an, seine Intelligenz hält ihn auf Trab. Rhetorisch auf höchster Höhe, doch kein Gespür für Liebe. Schon gar nicht für die Liebe, die ihm Olympia entgegenbringt, die Romantische, die Einzige, die nicht an der Show teilnimmt, aus Mangel an Talent. Ihr Talent liegt darin, die Binewskis als Geschichte zusammenzuhalten, auch oder vor allem nach dem Auseinanderbrechen der Familie. Elly ist die Pragmatische, Iphy die Mitfühlende, ein konfliktives Eins, das auch ohne großes Brimborium ein großes Echo im Publikum erweckt.
Dieses Echo hallt in Artys Eifer nach. Als Chick in der Welt angekommen ist, nimmt Arty sich die gesamte Familie zur Brust. Seine Flossen sind zu kurz, um sich zu berühren, mit seinem Verstand verlängert er seine Tätigkeiten in die Außenwelt, die der Normalen. Er begehrt auf gegen das geballte Unnormale seiner Familie. Seine Intriganz untergräbt die Einheit, die manipulierte Mikrogesellschaft aus Aussätzigen. Er zerstört den Traum einer Familie, eines Abenteuers.

THE TRIUMPH OF BURLESQUE IN THE AGE OF SODOM AND GOMORRAH

© Joe Coleman - The Triumph of Burlesque in the Age of Sodom and Gomorrah

Ist dies ein Abenteuerroman, ein Märchen, ein Sittengemälde, eine Familienchronik, gehört es zur Phantastik oder zu allgemeiner Literatur oder ist es ein Klassiker – Fragen, die sich nicht beantworten lassen. Der Roman ist äußerst konkret auf Handlung angelegt und ist auch nicht erstaunlich in seiner Erzählweise, wenn beispielsweise die Nachgeschichte vorweggenommen wird. Die realistische Darstellung des nicht Normalen spielt allerdings in Höhen, die durchaus als ultra-realistisch bezeichnet werden können. Das Deforme platzt geradezu aus der Erzählung heraus, bewegt sich zwischen Erstaunen und Schock. Es ist ernsthaft und spielerisch zugleich. Die selber deforme Erzählerin Olympia behandelt das Unnormale als Besonderheit, als Eigenart dessen, der dieses Un-Uniformierte trägt, als Auszeichnung. Mit ihr als Sprachrohr ist der Autorin ein großer Coup gelandet. Vor allem, da sie weder am Mitgefühl noch am Schock entlang arbeitet. Sie erzählt einfach eine Geschichte von Menschen, die etwas Außergewöhnliches auszeichnet und die damit in Konflikte geraten. Doch ist es nicht ganz so einfach, denn diese Konflikte greifen tief, sie greifen tief in den Leser. Wie die Figuren, so ist auch der Leser einzeln auf sich selber angewiesen.

Das Normale steht dem Unnormalen gegenüber. Moralisch sind beide Seiten. Die Eltern nehmen eigenmächtig Gott das Spiel aus der Hand, sie liefern ihre Kinder einem unaufhebbaren Schicksal aus und geben ihnen dafür ein beträchtliches Zuhause, das sich auf der anderen Seite kaum finden lässt. Dies bedeutet bei aller Brandmarkung Freiheit, welche auf der anderen Seite als Einschränkung, Ausbeutung und Geldmachen auf Teufel komm raus eingeschätzt wird. Die Normalen sind zum einen Einnahmequelle, „Al hegt das Publikum wie eine Horde Gänse …, aber er liebt sie, weil sie ihm seinen Lebensunterhalt sichern“. Sie sind die Begeisterten, solange es eine Show gibt, bei der sie ihren Voyeurismus oder ihre Neigungen ausleben können. Finden Begegnungen im Alltag statt, führt das zu Entsetzen, sogar zu einem Mordanschlag, bei dem mit den Binewskis das eigene Entsetzen eliminiert werden soll. Das birgt wiederum auf beiden Seiten Tragik. Der Anschlag misslingt, beide sind weiter dem Entsetzen ausgeliefert. Der Ausweg der Binewskis ist sowohl die Abschottung in einer räumlichen Nische außerhalb des normalen Alltagsgeschehens als auch die Inszenierung, von der sie leben.
Da ist Todd Brownings „Freaks“ nicht weit. Der Film, als fotografische Form, bildet etwas Tatsächliches ab. Das Medium macht ansichtig, bietet aber gleichzeitig einen Schutz, die mediale Oberfläche hält auf Abstand, verstärkt durch die filmische Inszenierung. Die Zirkusshow baut dasselbe Nähe-Distanz-Verhältnis auf. In der Literatur, so erstunken und erlogen sie auch ist, wird über die Vorstellungskraft eine Eigenbebilderung angestoßen, das Tatsächliche spielt sich im Inneren des Lesenden ab, dort treffen beide Welten tatsächlich aufeinander. Es sind die eigenen Bilder, die vor dem inneren Auge erstarren.
So bewegt und handlungsorientiert der Roman auch ist, die Vorstellungskraft wird arretiert, die Bilder bleiben stehen. Und sie bewegen sich nicht mehr fort. Die Vorstellungskraft in all ihrer Beweglichkeit generiert Bilder, an denen sie eine Fraktur erleidet.
Diese Fraktur entsteht am Knotenpunkt der schon angesprochen Themen: Geld machen, Ausbeutung, Konsum, Einschränkung und Freiheit. Es ist ein hochkapitalistischer Roman aus einem System, das diese Fraktur generiert, wenn nicht sogar notwendig macht. Das Unnormale ist eine Fraktur des Normalen. Die Schnittstellen, an denen sich das Unnormale mit dem Normalen verbindet, sind begrenzt, es passiert nur an den Rändern, dort, wo das Normale ausfranst und sich nach außen einem Anderen öffnet. Doch auch dort, am Rand, geben wir nur einen Teil unseres Normalen ab. Mit diesem Teil kann sich das Unnormale verbinden.
Und das muss man erstmal zulassen. Das hieße, sich der eigenen Fraktur zu öffnen. Harter Tobak, dieses Leben. Doch wieviel Leben das Leben birgt, dafür steht dieser Roman. Er hat etwas Vollendetes, wie ein Garten, erstanden aus einer Gesellschaft, der er jedoch nie entwächst. Diese Unmöglichkeit der Ent-Bindung, einer Abnabelung, ist tragisch. Es bleibt ein unsichtbarer Strang wie ein Spinnennetz um einen herum gewoben, nichts ist unabhängig, keiner kann entweichen.
Joe Colemans Gemälde entspringen einem solchen Garten der Vollendung. Das Normale ist Planierung von Leben, welches dessen Ränder durchbricht und die gesellschaftliche und kulturelle Grundsubstanz in sich trägt.
Die Eigenbebilderung wird im Lesen dieses Romans erzwungen. Wie der Aussätzige den Blicken und Meinungen, so ist der Lesende seiner Vorstellung ausgesetzt, wird in sie, in sein Inneres, sein eigenes Bild hineingepresst. An dieser Stelle ist das Lesen des Romans weit weg von einem Konsumieren. Man konsumiert höchstens sich selber, an einer äußersten Stelle, der Empfindsamkeit. Wie die Wege laufen, wenn der Finger auf die geöffnete Nervenbahn gelegt wird, wohin die elektrischen Ströme in einem laufen, dies hängt von jeder einzelnen Persönlichkeit ab.
Wie in keinem anderen Roman werden wir Teil des Romans, eines der Familienmitglieder, ein Binewski. Eine erhöhte Identifikation: nicht der Lesende identifiziert sich mit den Figuren und nimmt sie als Stellvertreter, sie identifizieren sich mit uns, wir sind ihre Stellvertreter. Wir sind plötzlich Spiegel für sie, wir sind die Geschichte. Das Leben wird gespiegelt.

Das vergisst man nicht.

Nach 17 Jahren Schreibarbeit 1989 das erste Mal vollständig veröffentlicht (Originaltitel: Geek Love), nun die erste Übersetzung ins Deutsche.

 

 

Binewskis. Verfall einer radioaktiven Familie

Katherine Dunn

Berlin Verlag

510 Seiten

22,99

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Ein Roman, der sich selber zum Thema hat.

4012_fernndez_sw_carchivo Zu Beginn einer Buchbesprechung steht zuweilen, zumeistenweilen, eine Inhaltsangabe, eine Beschreibung des Korpus'. Sucht man allerdings einen Korpus in Macedonios Roman, wird man sich vielleicht ein Bein abbeißen. Dieses fehlende Bein ist dann allerdings eines, das gerade durch sein Fehlen immer präsenter wird, selbst über den Tod hinaus. Wer sagt schon über einen Verstorbenen: „Er starb. Er hatte zwei Beine.“? Dieses Bein überlebt seine eigene Nichtexistenz, da es nicht ist, bleibt es. Nur was Korpus ist, stirbt. „Das Museum von Eternas Roman“ hangelt am Tod vorbei. Und das nicht ohne Grund: das Bewusstsein ist das Ziel.

Der Roman fußt auf Aufschiebung. Macedonio schrieb über Dekaden an ihm, kündigte ihn immer wieder an und versicherte damit dessen Vorhandensein, und er wurde erst posthum veröffentlicht. Mehr noch allerdings, da der Roman gut zur Hälfte aus Prologen besteht. Eine unausgesetzte Verzögerung, im Leben wie im Roman selber. Dieses Verzögern, das Pendeln des Geistes des Romans über einem Zwischenraum, bewirkt etwas, nämlich die Schaffung des Lesers. Er ist derjenige, der dem Roman seine Existenz gibt, insofern ist er ein „schreibender Leser“, die höchste Form. Er wird Teil des Kunstwerkes und somit selber Kunstfigur. Ihm steht genügend Zeit zur Verfügung, seinen Platz an diesem Ort, im Roman, zu suchen.
Macedonio legt dabei ironische Fallstricke aus. So werden Figuren vorgeschlagen, was den Leser den Roman präfigurieren lässt, einige finden jedoch keinen Einlass, werden quasi an der Tür abgewiesen, dürfen gerade mal anklopfen und spielen danach keinerlei Rolle. Der Leser kalkuliert durch, wird dann aber mit einer Nullstelle belassen, die weiterarbeitet. Dem Aufschieben, an dessen Ende das Zustandekommen stehen soll, folgt ein teilweises Aussetzen, mit dem umgekehrten Effekt, dem Nichtzustandekommen. Unvorhersehbarkeiten sind Konstituenten in Macedonios Denken, die „Erschütterung des Bewusstseins“ ist für ihn zwingend notwendig, öffnet und macht frei. Als (apokalyptischer) Vorreiter war er Ideal, Idol und bestimmend nicht allein für Julio Cortázar oder Jorge Luis Borges, der eng mit ihm befreundet war.
Nach Macedonios theoretischen Ausführungen in „Das Museum“ und anderen seiner Schriften baut eine Literatur, die Realität nachbildet, nichts als eine Illusion auf, wo sie davon ausgeht, keine eigene Wirklichkeit abzubilden. Sie ist dann keine Kunst. Damit diskutiert er natürlich die Moderne. Und stellt sie mit diesem Roman gleichsam aus. Selbstreferentialität beispielsweise wird bis zu dem Punkt getrieben, wo der Roman den Leser anspricht.

(Diese Besprechung zieht ein Bein nach, hier nun eine Inhaltsangabe: 'Der Roman', das ist der Name eines Landgutes, das 'Der Präsident', Metaphysiker und Hedonist, mit seiner Geliebten Eterna und weiteren ausgewählten Persönlichkeiten bewohnt. Es tauchen auf die Herzallerliebste, ihr Vater, Quasigenius, der Nicht-Existente-Kavalier. Sie wissen, dass sie gelesen werden und nur dadurch und nur hier existieren. Ihre Aufgabe ist im Buch, ist es, Buenos Aires auszukundschaften, ihre Erfahrungen auszuwerten und die Stadt letztendlich zu verbessern. Das scheitert schon in der Auswertung.)

Es ist alles gar nicht so kompliziert:
In diesem Roman steht, was in jedem Roman steht. Nein, man muss da präziser sein: In diesem Roman steht, was in allen Romanen steht, und zwar gleichzeitig. Dieser Roman ist alle Romane, alle, die gewesen sind, alle, die sind, und alle, die sein werden. Er war also schon immer, er ist jetzt, und er wird immer sein. Dieser Roman stellt nicht die Seinsfrage, er ist die Seinsfrage, die Seinsfrage an sich selber. Er ist also nicht ein Roman, sondern der Roman. Und er bündelt die Ewigkeit in sich. Von daher ist er der Ausgangspunkt und der Endpunkt, da es keinen Ausgang und kein Ende gibt. Von daher findet er keinen Anfang, da der Anfang das Ende mitbegreift, und er findet kein Ende, da dies eines Anfanges, den es nicht gibt, bedarf. Er ist das Aleph aus Borges' gleichnamiger Geschichte („der Ort, an dem, ohne sich zu verwirren, alle Orte des Orbis' sind, gesehen aus allen Winkeln“), er ist das Aleph des Romans und der Kunst. Er steckt in jedem Roman, so wie jeder Roman in ihm steckt. Daher müssen wir ihn nicht lesen, haben wir ihn doch schon gelesen, gleich mit unserem jeweilig ersten Roman und mit jedem weiteren nochmals und nochmals. Aber wir müssen ihn lesen, da wir ihn tatsächlich nie gelesen haben. Er ist in jedem Roman, aber wir haben ihn nie bemerkt. Der Roman an sich ist in jedem einzelnen Roman der Protagonist. Gleich der Erfindung von Macedonio: ein Protagonist, der nie in Erscheinung tritt, dennoch anwesend ist und alles bestimmt.

1967 erschienen, 15 Jahre nach Macedonios Tod, liegt hier die erste deutsche Übersetzung des „ersten guten Romans“ vor.

Das Museum von Eternas Roman

Macedonio Fernández

Übersetzt von Petra Strien-Bourmer
Mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg

Die Andere Bibliothek

421 Seiten

36,-

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Widerstand ist zwecklos

Posted on: März 6th, 2014 by Ralf Diesel No Comments

 

Die Akimuden. Von Viktor Jerofejew

Russlands Invasion kommt von innen, die Toten übernehmen das Leben Moskaus. Aus dem Nichts (=Jenseits) durchdringen sie U-Bahnwände und gesellschaftliche Strukturen, die Lebenden begegnen ihnen mit Schrecken oder sehen sie als Erlöser. Des einen Vor-, des anderen Nachteil – wie bei jedem Systemwechsel. Der Botschafter eines nicht vorhandenen Landes nennt sich Akimud, er zieht die Fäden dieses einmaligen Komplotts, dessen Sinn sich nicht zu erschließen vermag. Absurd kommt es daher wie die realen Verhältnisse des Landes. Im Schlepptau die gesamte russische Geschichte, schickt Akimud seine Schergen voran, lässt Wohnungen und Ämter okkupieren, setzt die Agentin Fink an, erotisch zu intervenieren, „stirbt“ selber drei Mal, kehrt wieder. Sympathisanten begehen Selbstmord, wechseln die Seiten, um als Untote zu agieren. Ein Bankett der lebenden Leichen schließlich krönt die Umwälzung. Das System ist endgültig korrumpiert: Eine Leiche.
Der Zombie ist markiert durch eine einfache Umkehrung. Etwas Existentes ist im Tot nicht mehr existent. Nun wird aus dem Nicht-Existenten, einer Leiche, etwas Existentes. Darin liegt der ganze Kniff. Die Inszenierung einer Bedrohung, deren Sinn sich nicht zu erschließen vermag, kehrt sich in eine reale und andauernde, und somit hat man eine kreiert, die die gesamte Gesellschaft beschäftigt – und beschädigt. Der Terrorismus ist selbstgeschaffen. Er ist dann da und besetzt die Gesellschaft.
Soweit ganz simpel. Doch Jerofejew („Der gute Stalin“, 2004) zerschneidet die russische Gesellschafts- und Literaturgeschichte und setzt sie zu einer morbiden, ironischen, bald zynischen Collage zusammen, gespickt mit Anspielungen und stilistischen Finten. Aus alt mach neu, aus neu mach alt – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zirkulieren in Russland ineinander. Der reinste Horror.
Dieser genreunspezifische Roman ist voll von historischen und gegenwärtigen Gestalten, er lässt einem nicht selten das Hirn auseinanderbrechen. Aber keine Angst, es findet sich wieder zusammen. Ordentlich durchgerüttelt und ordentlich lebendig.

Nur Mut! Ein genialer Knochen Gegenwartsliteratur.

 

Die Akimuden

Viktor Jerofejew

Verlag Hanser Berlin

464 Seiten

24,90

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towards a definition

Posted on: Februar 7th, 2014 by Ralf Diesel No Comments

 

Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch

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Der Begriff Phantastik entstammt einer Übersetzungsleistung, die gerne als fehlerhaft bezeichnet wird: Im Jahr 1828 benutzte Jean Jacques Ampère in einem Artikel die Bezeichnung conte fantastique für E.T.A. Hoffmanns Phantasie- und Nachtstücke, statt conte de la fantaisie. Vielleicht war es auch nur Freiheit oder sogar schon Definition.

Unter der Hand gibt man immer, benutzt man Begriffe, eine Definition. Die hier im Blog unter Phantastik vorgestellten Werke unterstehen einer Definition, die das Genre Fantasy ausschließt. Und wenn hier die Ansicht, purer Horror ist ein Gräuel, vertreten wird, so wird davon ausgegangen, dass Phantastik Horror subsumiert. Ebenso Traum, Spekulatives (um nicht zu sagen Science Fiction), Geister, Homunkuli, Untote, Angst, Übersinnliches, die Wahrnehmung, Psychoanalyse, Groteskes, Utopien und Dystopien, usf.

Diese Positionierung fußt weitestgehend auf der Theorie Tzvetan Todorovs in Einführung in die Fantastik. Klar abgegrenzt sind dort Fantasy und Märchen dadurch, dass in ihnen eine (magische) Welt unhinterfragt in sich funktioniert. Das Hinterfragen der Realität ist dagegen Grundelement der Phantastik. Auch das Hinterfragen der diese Realität störenden Faktoren, sprich: ihr nicht mehr Funktionieren, in der SF dann das andersartige Funktionieren.

Die Begegnung von Rationalem mit Irrationalem bleibt unaufgelöst – ein weiterer Kern der Phantastik. Somit haftet die erzählte(!) Erfahrung weniger am Wunderlichen, Unerklärlichen oder Verstörenden, sondern vielmehr an der rationalen, empirischen Realität. Diese ist wesentlich für die Phantastik, rückt als solche in den Fokus, sie wird mit rhetorischen, ästhetischen und mit Mitteln der Motivik regelrecht bearbeitet. „Unsere“ Realität wird in diesem Prozess hochgradig potenziert – unterstellt man ihr ein kontinuierliches Wackeln, zumindest innerhalb der letzten gut 150 Jahre, ist vielleicht das der Grund für das stetige Anwachsen des Phantastischen nicht nur in der Literatur und anderen Künsten oder in den Medien, sondern auch für die tiefergreifende Behandlung in Theorie und Philosophie. Immer an der Frage entlang: Was geht hier, bei uns, eigentlich vor?

Dieser gewachsenen Bedeutung entspringt das interdisziplinäre Handbuch. Es stellt unter der Hand aber auch eine Definition auf. Und in dieser sind Fantasy und Märchen einbezogen. Ein Streitpunkt. Allerdings einer, um das vorwegzunehmen, an dem sich der Wert des Handbuches nicht ableiten lässt, würde man höchstens das ganze Buch auf Grundlage dessen verwerfen wollen. Letzteres kann und darf gar nicht geschehen, schonmal es ein äußerst breites und tiefes Bild der Phantastik ausstellt. Die Theoriendarstellung ist nicht dem Buch vorangestellt, sondern folgt auf den historischen, in Länder untergliederten Teil, quasi als Verbindungsnaht zum nächsten, dem systematischen. Dieser umfasst die Bereiche der medialen Ausprägung des Phantastischen, selbst bis hin zu Mode und Design, sowie die Bereiche der Genres, der Themen und Motive und der Poetik. Dies die grobe, dabei sinnreiche Gliederung.

An sich schon eine Anstiftung zum Lesen, weg vom Gebrauch des Handbuchs als Nachschlagwerk. Die wissenschaftliche Rhetorik ist je nach Autor von Artikel zu Artikel unterschiedlich ausgeprägt, unterschiedslos wird sich jedoch jede/r Ernstmeinende festbeißen. Es dreht sich um eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung auf Basis des verwobenen Teppichs des Phantastischen.

Die in diesem Blog vorgenommene, oben angerissene Positionierung fordert allerdings zu einer Kritik heraus: Das Genre Fantasy bezeichnet der Autor des entsprechenden Artikels als „Spielart“ des Phantastischen. Nach der hiesigen Definition ist die Fantasy als Eigenes zu behandeln, auch schon aus ihrer epischen Anlage heraus. Aus Sicht neuerer Theoriebildungen mag das obsolet erscheinen, was die Herausgeber Hans Richard Brittnacher und Markus May im Text zu Phantastik-Theorien anklingen lassen. Doch die sondierte Welt der Fantasy verlangt auch nach einer sondierten Behandlung. Phantastik selber ist nicht sondierend, sondern im Gegenteil einschließend, auch auf der Textebene. Im Artikel zur Science Fiction wiederum sondiert der Autor drei Genres: die SF, die Fantasy – und die Phantastik. Hier ist eine Präzisierung nicht allein wünschenswert, sondern notwendig, ist die SF doch schon als Genre der Phantastik markiert.

Bei allem sind die Artikel zu Fantasy, SF und, nebenbei bemerkt, zu Märchen jedoch schlüssig und, wie alle anderen, aufschlussreich. Dem Verleger wurde Zeit und Geduld abgenötigt. Das nun endlich erschienene Handbuch ist nicht allein den öffentlichen oder Institutsbibliotheken zu überlassen. Es gehört in die eigene. Mit Spannung erwartet, ist es spannender als erwartet. Nein: es ist spannend!

 

Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch

Hans Richard Brittnacher & Markus May (Hrsg.)

J.B. Metzler Verlag

650 Seiten

64,95

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Jean-Luc Nancy: Vom Schlaf

Posted on: Januar 16th, 2014 by Ralf Diesel No Comments

 

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Wer beklagt, keinen Schlaf gefunden zu haben, beklagt das Ausbleiben einer Abwesenheit aus der Realität – oder auch das Ausbleiben eines Ausbleibens aus dem Wachsein – und bezieht sich mehr auf den (in dem Fall störenden) Zustand des Wachseins, also auf die physische und psychische Notwendigkeit des Schlafens.

An dieser Stelle unternimmt Jean-Luc Nancy eine Unterscheidung: Das Schlafen des Schlafenden bildet die äußere Hülle. Der Schlaf ist das Innere. In dieses dringt er mit seinem Essay „Vom Schlaf“, im französischen Original „Tombe de sommeil“. Hier sind gleich mehrere Bezüge hergestellt: In direkter Übersetzung ist `tombe´ das Grab, womit hingewiesen ist auf den Schlaf als kleiner Bruder des Todes, zugleich bildet das Grab eine feste Hülle für den Inneliegenden. Der Schlafende, der dem Schlaf Inneliegende, ist insofern der Existenz entnommen, als er keiner Abgrenzung oder Unterscheidung seiner selbst von Anderen und von der Welt unterliegt – er ist im Schlaf undifferenziert. Nicht wie der Tod einmalig, so ist der Schlaf ein immer wiederkehrender Gleichmacher. Ein jeder befindet sich in seinem Schlaf, ein jeder in einem immer anderen, doch stets fällt er in das immer Gleichmachende. Dies das Vereinende, nicht nur unter Liebenden, des Schlafes. Die Auflösung von Raum und Zeit im Traum steht bei Nancy der Ununterschiedenheit des Ichs im Schlaf hintan, fern einer Analyse.

Desweiteren verweist `tombe´ auf `tomber´, fallen. Hiermit eröffnet Nancy. Nicht wir finden den Schlaf, der Schlaf findet uns. Nicht allein fällt man in den Schlaf, der Schlaf fällt in das Wachsein, er fällt in uns. Er gleitet in das Ich, in die Sinne und in das Bewusstsein, was u.a. mit einer Trägheit einhergeht. `Sommeil´ bezeichnet nicht nur Schlaf, sondern eben diese Trägheit - der Sinne wie des Sinnlichen. Der Schlafende fällt von einem Ich in ein Selbst, bis hin zum „Selbst der Dinge“.

Neben z.Bsp. „Das fremde Herz“ oder „Zum Gehör“ vollzieht Nancy eine Philosophie, in die der Körper miteinbezogen ist, vielleicht könnte man sogar von einer Philosophie des Körperlichen sprechen. Gleichsam erfüllt Sprache bei Nancy auch eine Körperlichkeit, sind seine philosophischen Schriften doch durchweg poetisch. Er verdichtet sich quasi in das zu Beschreibende, mehr noch nimmt es sich als Versuch aus, aus dem zu Beschreibenden heraus zu schreiben. „Vom Schlaf“ erscheint oftmals vom Schlaf selber her eingedichtet. Dies leistet wiederum die Übertragung des Titels: nicht über, nicht zum, sondern vom Schlaf (her).

 

 

Vom Schlaf

Jean-Luc Nancy

Aus dem Französischen von Esther von der Osten

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64 Seiten

12,95

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